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KAPITEL 2

Sich in der Gegenwart verankern: Achtsamkeit und traumatischer Stress

Meditationspraxis ist keine passive, luxuriöse Nabelschau für Menschen, die der Härte unserer komplexen Welt entfliehen möchten. Bei Achtsamkeit und Meditation geht es darum, uns tiefgreifend zu verändern, um selbst die Veränderung zu sein, die diese Welt braucht.

Larry Yang

Tara und Nick kamen seit fünf Wochen zu mir, und die Therapie machte gute Fortschritte. Tara, eine introvertierte Anwältin, lernte, ihre Anliegen direkt zu formulieren. Nick, ein extrovertierter Vater und Hausmann, arbeitete daran, besser mit seiner Wut umzugehen. Wie ich es zuvor schon bei anderen Paaren gesehen hatte, hatte auch bei diesem Paar die Geburt des Sohnes Connor vor vier Jahren erheblichen Druck in die Beziehung gebracht. Sie stritten häufiger, sahen mehr fern und hatten in letzter Zeit keinen Sex mehr. Während der Sitzungen waren sie in der Lage, ihre Probleme mit Entgegenkommen zu besprechen – manchmal sogar mit Humor. Aber heute hing etwas spürbar Anderes in der Luft.

„Möchtest du anfangen?“, fragte Tara Nick. Es war mehr ein Statement als eine Frage. Nick signalisierte Zustimmung, während er in sein Wasserglas starrte. Am Vorabend, begann er, war die gesamte Familie emotional recht ausgelaugt gewesen. Tara war durch die Menge an Fällen in der Kanzlei überlastet, Connor hatte den ganzen Tag Wutanfälle gehabt, und seit Wochen hatten sie sich gegenseitig mit Erkältungen angesteckt. Beim Abendessen wollte Connor nicht stillsitzen und verweigerte sein Essen. Nick verlor die Geduld, griff nach Connors Gabel und hielt sie ihm streng vor das Gesicht. Connor stieß einen Schrei aus, nahm seinen Teller und warf ihn nach Nick.

Als ihm die Spaghetti vom T-Shirt tropften, explodierte Nick. Er stand auf, nahm ein Wasserglas und schmiss es quer durch den Raum, wo es an der Wand zerbrach. Connor brach in Tränen aus, als Tara hastig zurücksprang, und Nick trat einen hastigen Rückzug ins Schlafzimmer an – er fühlte sich schwindlig, wütend, und es verwirrte ihn, was gerade geschehen war. Wie sie mir da gegenübersaßen, war ihnen deutlich anzusehen, dass Nick und Tara durch diesen Vorfall sichtlich mitgenommen waren. Nick hatte schon öfter die Geduld mit Connor verloren, aber noch nie war er physisch aggressiv geworden. Der Gedanke, sich selbst und Connor vor ihrem Ehemann beschützen zu müssen, überwältigte Tara. „Ich fühle mich, als hätte ich das Vertrauen meiner Familie zerstört“, sagte Nick, als er sich im Sofa zurücklehnte und tief ausatmete.

Mit einer wachgerüttelten Tara und einem von Scham erfüllten Nick wurde eine neue Form des Gesprächs möglich. Krisen wie diese offenbaren oft Probleme, die seit langem unter der Oberfläche brodeln. Als könnte er es nicht länger für sich behalten, begann Nick, uns seine traumatische Vergangenheit zu offenbaren. Er beschrieb, wie es war, mit einem prügelnden Vater aufzuwachsen, der im Vietnamkrieg gedient hatte. In ihrer Kindheit hatten sich Nick und sein jüngerer Bruder im Badezimmer versteckt, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam. Schloss dieser die Haustür behutsam, kamen sie aus ihrem Versteck hervor, um den Vater zu begrüßen. Wurde sie zugeschlagen, blieben sie im Versteck. Sobald Nicks Vater ein paar Drinks gehabt hatte, war die Situation am Esstisch äußerst unberechenbar. Dort kamen die Schläge ohne Vorwarnung.

Nick berichtete weiter, dass er in letzter Zeit Flashbacks erlebt hatte. In dem Bewusstsein, dass Connor sich dem Alter näherte, in dem er selbst die schlimmsten Misshandlungen durch seinen Vater erlitten hatte, wurde Nick von Bildern der erlebten Gewalt überflutet: der Anblick des betrunkenen Vaters im Flur, das schreckverzerrte Gesicht seines Bruders, wenn sie sich im Badezimmer versteckten. Nick fühlte auch ständig einen Knoten im Bauch – ein Gefühl, das sich dort seit den Schlägen aus Kindertagen eingenistet hatte. Weil er chronisch reizbar und agitiert war, hatten sein Fernseh- und Alkoholkonsum stark zugenommen. Am Ende der Sitzung einigten wir uns darauf, dass Nick in den nächsten Wochen alleine zu den Sitzungen kommen würde. Tara hatte bereits eine Reise zu ihren Eltern geplant, und Nick suchte nach Strategien, wie er sich durch seinen inneren Aufruhr navigieren konnte. Die erste Ressource, die ich Nick anbot, war Achtsamkeit. Unter Anleitung begann Nick die Anwendung von Achtsamkeit zu lernen, um den in ihm gefangenen Zorn und Schrecken zu beobachten und auszuhalten. Wenn in ihm eine Welle intensiver Wut aufstieg, lernte er, mit den körperlichen Empfindungen präsent zu sein, statt sie zu werten oder zu meiden. Er bemerkte, dass seine Gefühle ständig wechselten – dass sie nicht so tiefsitzend waren, wie er gedacht hatte. Manchmal nahmen die Emotionen und Empfindungen sogar so weit ab, dass er tief atmen und sich entspannen konnte. Mit zunehmender Übung war Nick in der Lage, seinen Kindheitserfahrungen mit einem gewissen Maß an Neugierde und Mitgefühl zu begegnen, statt sich, wie er es jahrelang getan hatte, dafür zurechtzuweisen. Er erkannte, dass unter all dem Zorn ein jüngerer, verängstigter Teil seines Selbst lag, der von der Gewalt in seiner Familie überwältigt worden war.

Nach drei Wochen fragte ich Nick, wie er sich mit den Achtsamkeitsübungen fühlte, die wir in den Sitzungen abgehalten hatten. „Ich mache, was auch immer nötig ist“, antwortete er, während er mit den Tränen kämpfte. „Der Name Connor bedeutet auf Irisch ‚willensstark‘, und das trifft definitiv auf meinen Sohn zu. Aber er soll nicht dasselbe erleben, was ich durchmachen musste. Ich möchte, dass die Gewalt, die in meiner Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, mit mir ein Ende hat.“

TRAUMA UND ACHTSAMKEIT

Achtsamkeit ist eine Kraft des Geistes, die uns ohne zusätzliche Kommentare oder Wertung zu erkennen hilft, was geschieht. Dies erfordert, sich der verschiedenen Erfahrungsaspekte, also der Gedanken, körperlichen Empfindungen und Gefühle anzunehmen, Augenblick für Augenblick. Wie Nick erlebte, ist Achtsamkeit eine Fähigkeit, die uns dabei helfen kann, mit unserer inneren Welt präsent zu sein – auch wenn das, was wir dort vorfinden, erschütternd ist.

Achtsamkeit ist auch ein sozialer Trend. Ursprünglich von Brahmanen genutzt, um vedische Schriften auswendig zu lernen, und später von buddhistischen Mönchen auf ihrer Suche nach Erleuchtung adaptiert, ist Achtsamkeit in letzter Zeit zu einem Teil der Mainstream-Konsumkultur geworden. Von Klassenzimmern bis hin zu den Büros von Großunternehmen – Achtsamkeit wird von einer Vielzahl an Menschen praktiziert und mitunter sogar als schnelle Hilfe gegen Stress vermarktet. In diesem Kontext ist es manchmal schwer, über Achtsamkeit zu sprechen, ohne selbstgefällig oder überheblich zu klingen. Die Anweisung, „einfach achtsam zu sein“, kann von Menschen, die an seelischem Schmerz leiden, als herablassend empfunden werden.

Dies trifft besonders auf Traumaüberlebende zu. Wenn wir nicht aufpassen, kann die Einladung, achtsam zu sein, sich rücksichtslos über traumabedingte Furcht und Scham hinwegsetzen. Ich habe unzählige E-Mails von Traumaüberlebenden erhalten, die – obwohl sie offenkundig mit traumatischen Symptomen zu kämpfen hatten – von Achtsamkeitslehrern, denen offensichtlich ein tieferes Verständnis für Trauma fehlte, wiederholt den gleichen Rat erhalten haben: Nimm es mit auf dein Meditationskissen. Meditiere weiter. Diesen Lehrern fehlte es nicht an Anteilnahme, sondern sie unterschätzten meiner Meinung nach die Intensität eines nicht integrierten Traumas – und überschätzten gleichzeitig den Nutzen von Achtsamkeit.

Schlimmstenfalls kann Achtsamkeit auch elitär wirken. Gerade wenn von ihr mit gedämpfter, betont ruhiger Stimme gesprochen wird, kann sie herablassend wirken – ganz besonders dann, wenn derjenige, der davon spricht, ein Mensch mit höheren sozialen Privilegien ist. Unbeabsichtigt kann dies dazu führen, dass die komplexen Realitäten von Trauma und Unterdrückung übergangen werden. Bei meinen Recherchen habe ich Geschichten von Traumaüberlebenden gehört, deren systemische Traumatisierung – zum Beispiel durch gnadenlose Homophobie oder Sexismus – ignoriert oder schlicht beiseite geschoben wurden. Diese Menschen wurden dazu ermutigt, Achtsamkeit zu nutzen, um anderen zu vergeben, ihre Herzen der Welt zu öffnen und die Dinge, so wie sie sind, zu akzeptieren. Auch in diesen Fällen wollten die Lehrer sicher keinen Schaden anrichten. Aber sie haben unabsichtlich die Erfahrung systemischer Unterdrückung, der diese Menschen ausgesetzt waren, einfach abgetan und so die Möglichkeit verschenkt, die erlittene Ungerechtigkeit anzuerkennen und sich mit ihr zu befassen.

Gleichzeitig ist Achtsamkeit jedoch auch eine unentbehrliche Ressource für Traumaüberlebende. Wenn sie mit Unterscheidungsvermögen praktiziert wird, kann sie die eigene Fähigkeit, ein Trauma zu integrieren, erhöhen. Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, geschieht dies, indem Achtsamkeit Selbstregulation – also die Fähigkeit, unsere Emotionen, Gedanken und unser Verhalten zu regulieren – fördert.

Während Trauma eine zutiefst dysregulierende Erfahrung ist – die uns häufig das Gefühl gibt, von unserem Körper getrennt zu sein und nichts unter Kontrolle zu haben –, kann Achtsamkeit dabei helfen, ein Gefühl der Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Wir üben, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, mit uns selbst im Einklang zu sein und uns durch unsere stetig wechselnden Emotionen zu navigieren. In diesem Kapitel möchte ich am Beispiel von Nick mein Hauptaugenmerk darauf legen, in welcher Weise Achtsamkeit und Selbstregulation Traumaüberlebenden helfen können.

Ich glaube, dass es für diejenigen von uns, die anderen Achtsamkeitsübungen anbieten, von Nutzen ist, die Vorzüge von Achtsamkeit bezogen auf Trauma zu kennen. Wenn ich mich hier mit diesem Thema befasste, zielt dies jedoch nicht darauf ab, Sie dahingehend auszustatten, dass Sie selbst als Traumatherapeut arbeiten können. Im Gegenteil, ich möchte Sie von der fixen Idee abbringen, dass das bloße Üben von Achtsamkeit ausreichend ist, um Traumatisierungen effektiv zu heilen. Als Achtsamkeitslehrer müssen wir der Versuchung widerstehen, Achtsamkeit zum Allheilmittel zu verklären oder in unserer Eigenschaft als Achtsamkeitspraktiker „automatisch“ zu wissen, was am besten für jemanden ist. Stattdessen glaube ich, dass unsere Aufgabe darin besteht, auf die Kraft und Komplexität von Traumata zu reagieren und zu lernen, was man tun kann, um die von einem Trauma betroffenen Kursteilnehmer und Klienten bestmöglich zu betreuen. Dazu gehört, dass wir uns über die vielen Dimensionen von Trauma – also die biologische, die psychologische und die soziale Dimension – weiterbilden und uns darüber informieren, welche Zusammenhänge es zwischen Trauma und Achtsamkeitsarbeit gibt. In Anbetracht der weiten Verbreitung von Traumata, auf die ich ja im letzten Kapitel eingegangen bin, ist diese Form der Selbstbildung essentiell, um Achtsamkeitsübungen auf eine sichere und transformative Art anbieten zu können.

ACHTSAMKEIT DEFINIEREN

Achtsamkeit ist eine moderne Übersetzung des Pali-Wortes sati. Pali ist eine Sprache indischen Ursprungs, die zur Zeit des Buddha gesprochen wurde. Der Begriff hat mehrere Bedeutungen: unter anderem „Präsenz des Geistes“, „Erinnerung“ und „klares Gewahrsein“. Die Definition von Achtsamkeit, die ich benutze, stammt von Jon Kabat-Zinn, einem Molekularbiologen, dessen bahnbrechende Forschungen zur Rolle von Achtsamkeit bei der Stressreduktion den Grundstein für ihre inzwischen beachtliche Popularität legte. Kabat-Zinn definierte Achtsamkeit als „bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht und nicht wertend ist“. (1994, S.4)

Lassen Sie uns diese Definition im Kontext der individuellen Formen von Trauma aufschlüsseln.

Absichtsvolle Aufmerksamkeit

Die erste Komponente von Achtsamkeit ist, absichtsvolle Aufmerksamkeit zu schenken. Gemeint ist, dass wir lernen, unsere Aufmerksamkeit absichtsvoll zu steuern und ausdauernd aufrechtzuerhalten. Es verhält sich ähnlich wie mit einer Taschenlampe, die man in einen dunklen Raum hält: ohne Achtsamkeit driftet unsere Aufmerksamkeit ziellos von einer Ecke zur anderen. Mit Achtsamkeit können wir die Taschenlampe jedoch gezielt auf bestimmte Punkte richten. Dies kann Aufmerksamkeit auf Empfindungen sein, die durch unseren Atem entstehen, oder es kann die Beobachtung unserer Emotionen beinhalten. Absichtsvolle, achtsame Aufmerksamkeit hilft, einen wandernden Geist zu zügeln.

Traumatischer Stress hat weitreichende Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit. Menschen mit posttraumatischem Stress reagieren oft reflexartig auf traumarelevante Stimuli in ihrer Umgebung – besonders Geräusche, Gerüche oder Anblicke, die sie mit dem traumatischen Erlebnis assoziieren. Nick wurde bei jedem Mann bange, der seinem Vater ähnlich sah, und sein Körper versteifte sich. Dies ist einer der Gründe, weshalb Achtsamkeit im Kontext von Trauma so kraftvoll sein kann: Mit Übung können Traumaüberlebende lernen, ihre Aufmerksamkeit auf eine zielgerichtete Art zu lenken, die ihnen dabei hilft, innerlich stabil zu bleiben. Statt ihrer Aufmerksamkeit ausgeliefert zu sein, können sie so ihre „Taschenlampe“ stabilisieren und ein Gefühl der Handlungsfähigkeit und Kontrolle zurückgewinnen.

Im gegenwärtigen Augenblick

Das zweite Element von Kabat-Zinns Definition der Achtsamkeit ist, dem Augenblick Aufmerksamkeit zu schenken. Wir üben uns darin, unsere Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu verankern, statt uns in Gedanken über die Vergangenheit oder Zukunft zu verlieren. Dies ist in der Tat der einzige Moment, den wir haben – eine „fortlaufende Welle vorüberziehender Zeit“. (Gunaratana, 1996, S. 152) Wie die buddhistische Lehrerin Sylvia Boorstein schrieb: „Achtsamkeit ist die bewusste, ausbalancierte Aufmerksamkeit für die augenblickliche Erfahrung. Komplizierter ist es nicht. Man öffnet sich dem gegenwärtigen Augenblick oder empfängt ihn, als angenehm oder unangenehm, so, wie er ist.“ (1995, S. 60).

Für Traumaüberlebende ist der Augenblick jedoch oft voll von Erinnerungen an die Vergangenheit. Wie Nick erfahren musste, können nicht integrierte Fragmente des Traumas – desorientierende Gedanken, qualvolle Erinnerungen oder irritierende physische Empfindungen – jederzeit in das Bewusstseinsfeld der Traumaüberlebenden vordringen. Diese Beeinträchtigungen können dazu führen, dass Traumaüberlebende den Augenblick durch die Linse einer schmerzhaften Vergangenheit wahrnehmen. Mithilfe von Achtsamkeit können sie jedoch lernen, ihre Aufmerksamkeit in der Gegenwart zu verankern. Wie die Traumaspezialistin Babette Rothschild in The Body Remembers, Volume 2: Revolutionizing Trauma Treatment schrieb: „Die Fokussierung der Achtsamkeit auf den Augenblick ist ein offensichtliches und natürliches Gegenmittel bei PTBS, ein Zustand, in dem Geist und Körper des Traumaüberlebenden kontinuierlich in Erinnerungen an die schreckliche Vergangenheit hineingerissen werden.“ (2017, S. 166) Natürlich macht das die Traumaheilung weder leichter, noch kann Achtsamkeit potenzielle Komplikationen verhindern, wie Rothschild selbst anmerkt. Aber zu lernen, in der Gegenwart verwurzelt zu bleiben, während man ein nicht integriertes Element des Traumas wiedererlebt, ist eine wesentliche Fähigkeit im Traumaheilungsprozess.

Nicht wertende Aufmerksamkeit

Die dritte Komponente der Achtsamkeit ist nicht wertende Aufmerksamkeit. Dies bedeutet, unserer Augenblickserfahrung mit einer Haltung der Neugierde und Akzeptanz zu begegnen. Statt die Stimmung, in der wir sind oder Erinnerungen, die wir haben, zu werten oder abzutun, üben wir, offen und neugierig zu bleiben. Damit ist nicht gemeint, dass wir unser kritisches Denken aufgeben oder eine Laisser-faire-Haltung annehmen müssen. Stattdessen können wir Achtsamkeit dazu nutzen, weniger defensiv zu sein und uns den Dingen zu öffnen, die tatsächlich in der Welt geschehen. „Was auch immer wir erfahren mögen“, schrieb der buddhistische Mönch Bhante Gunaratana, „Achtsamkeit akzeptiert es eben. … Kein Stolz, keine Scham, nichts Persönliches steht auf dem Spiel – was da ist, ist da.“ (1996, S. 151)

Nicht wertende Aufmerksamkeit kann für Traumaüberlebende eine große Herausforderung sein. Wie gesagt, kann Trauma Scham und Selbstverurteilung verursachen. Bei Traumaüberlebenden kann es soweit kommen, dass sie sich selbst für ihr Trauma verantwortlich machen oder dass sie glauben, gebrochen und unfähig zur Heilung zu sein. Die Forschung hat belegt, dass, je stärker die Traumasymptome ausgeprägt sind, desto wahrscheinlicher es ist, dass der Traumaüberlebende selbstkritisches Verhalten zeigt.60 Obwohl Traumaüberlebende gerechtfertigte Wut, Ärger oder Rage gegenüber den Menschen oder Institutionen verspüren, die ihnen das Trauma zugefügt haben, ist es weitverbreitet, dass Traumaüberlebende die Kraft ihrer Emotionen nach innen, gegen sich selbst richten.

Achtsamkeit bietet Wege, mit dem wertenden Geist zu arbeiten. Wenn es Traumaüberlebenden gelingt, ihrer Erfahrung mit Neugierde zu begegnen – und vielleicht sogar mit Selbstmitgefühl –, öffnen sie sich der Möglichkeit, ihre Gegenwart und Vergangenheit mit offenem Herzen und Geist zu untersuchen. In einer Sitzung schlug ich vor, dass Nick seine Hand auf die Stelle legte, an der er die größte Wut spürte, und dass er versuchte, neugierig gegenüber den Empfindungen und Emotionen zu sein, die er dort vorfand. Oft schalt er sich dafür, diese Gefühle zu haben – als trüge er die Schuld an den Misshandlungen seiner Kindheit. Aber mithilfe von Achtsamkeit begann er, statt Frustration und Selbstabwertung mehr Liebe und Mitgefühl für sich selbst zu spüren. Das konnte der Auftakt zu einem stabileren und ausgeglichenen Leben sein. Eine Minute lang ruhte Nicks Hand auf seinem Bauch, er atmete ein und seine Stirn begann sich zu entspannen.

SELBSTREGULATION

Die oben zitierte dreiteilige Definition von Achtsamkeit erschien in hunderten von Forschungsstudien, die die Wirkung von Achtsamkeit untersuchten. Im Allgemeinen waren die Ergebnisse positiv: Es war nachzuweisen, dass Achtsamkeit bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen, wie zum Beispiel Angstzuständen und Depressionen, chronischen Schmerzen und Essstörungen, hilfreich war.61 Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass sie das allgemeine körperliche und mentale Wohlbefinden verbesserte. Aber wenn man diese Studien liest, drängt sich eine einfache Frage auf: Was ist es, das Achtsamkeit so wirkungsvoll macht? Warum ist Achtsamkeit möglicherweise so vorteilhaft wie, sagen wir, rigoroses körperliches Training oder das Einnehmen eines bestimmten Medikaments?

Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird schnell klar, dass Achtsamkeit schlecht zu operationalisieren ist – das heißt, ihre Komponenten lassen sich schwer zu messbaren Größen auseinanderdividieren. So fassten die Achtsamkeitsforscher Kathleen Corcoran, Norman Farb, Adam Anderson und Zindel Segal zusammen: „Obwohl der Nutzen von Achtsamkeit allgemein anerkannt ist, bleiben die spezifischen Mechanismen und Prozesse, die bei deren Erzielung wirksam sind, weitestgehend unbekannt.“ (2009, S. 339) Nichtsdestotrotz haben Forscher versucht, einzelne Komponenten von Achtsamkeit für ihre Studien zu isolieren: reduzierte innere Erregung (Arousal) beispielsweise oder eine akzeptierendere Einstellung. Ein Projekt nutzte sogar eine vorgetäuschte Meditation, um bestimmte Variablen kontrollieren zu können, damit untersucht werden konnte, ob die eigene Körperhaltung oder die Beziehung zu einem fähigen Meditationslehrer mit dem Nutzen von Achtsamkeit korrelierten.62 Wissenschaftler versuchen noch immer zu entschlüsseln, was genau es ist, das Achtsamkeit so wirkungsvoll macht. Das Konzept, das ich in dieser Diskussion hervorheben möchte, ist die Idee, dass Achtsamkeit ein Prozess erhöhter Selbstregulation ist.63 Die Psychologieprofessoren Joan Littlefeld Cook und Greg Cook definierten Selbstregulation als „die Fähigkeit, unser eigenes Verhalten, unsere Emotionen oder Gedanken beobachten und kontrollieren zu können, um sie den Bedingungen, der jeweiligen Situation entsprechend anzupassen“. (2005, S. 36) Genau das ist es, was uns dabei hilft, uns auf den Moment einzustellen, sei es beim Anziehen eines Pullovers, weil uns kalt ist, oder wenn wir aus dem Kino laufen, weil uns der Film in Angst und Schrecken versetzt. Achtsamkeit, so behaupten Wissenschaftler, erhöht unsere Fähigkeit zur Selbstregulation, was uns letztlich ermöglicht, auf die Welt flexibel zu reagieren.

Bedenken wir, dass Menschen, die an posttraumatischem Stress leiden, oft Schwierigkeiten damit haben, sich sicher und selbstkontrolliert zu fühlen. Weil sie kontinuierlich mit verstörenden Gedanken, Erinnerungen und unerträglichen Empfindungen bombardiert werden, haben sie das Gefühl, am Steuer eines Schiffs zu stehen, das sie nicht effektiv manövrieren können. Theoretisch können Traumaüberlebende jedoch ihre Handlungsfähigkeit zurückerlangen, indem sie achtsame Aufmerksamkeit nutzen, um angemessen mit den inneren Angriffen zu arbeiten. Sie können ihre innere Welt beobachten und aushalten, und sie können lernen, ihre Gedanken und Emotionen mit Mitgefühl zu erforschen, statt sie gewohnheitsmäßig zu vermeiden. Diejenigen von uns, die sich als traumasensitive Praktiker mit Trauma befassen, können Achtsamkeit dazu nutzen, mit Trauma in all seinen Formen – individuell wie systemisch – präsent zu sein. Durch die erhöhte Selbstregulation können wir die Geschichten, die uns unsere Klienten erzählen, besser aushalten – ob es sich nun um einen Meditationsschüler handelt, dessen Familienmitglied die Abschiebung droht, oder ob es der Klient ist, der sich seinen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in seiner Familie stellt. Achtsamkeit kann Menschen unterstützen, die Traumasymptome erleben bzw. diejenigen, die mit Traumaüberlebenden arbeiten.

Basierend auf neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, die ich in Kapitel 4 näher beleuchten werde, gibt es die Annahme, dass Achtsamkeit Selbstregulation auf drei Weisen unterstützt: durch die Regulation von Aufmerksamkeit, durch Körpergewahrsein und durch emotionale Regulation (siehe Abbildung 2.1).64 Um die Bedeutung dieser Komponenten im Zusammenhang mit Trauma zu untersuchen, lassen Sie uns zu Nick zurückkehren.


Abbildung 2.1: Achtsamkeit und Selbstregulation)

AUFMERKSAMKEITSREGULATION

Während Tara und Connor weggefahren waren, um die Familie zu besuchen, haderte Nick zu Hause mit sich. Immer wieder spielte sich die Erinnerung daran, wie er das Glas gegen die Wand geschmissen hatte, vor seinem inneren Auge ab, und er konnte dem mächtigen Feuerball in seinem Magen nicht entkommen. Für Nick waren diese Bilder und Empfindungen wie ein Traktorstrahl, der seine Aufmerksamkeit unablässig von der Gegenwart abzog. Nachts, wenn er endlich in sein Bett kroch, kämpfte er stundenlang mit Grübel-Kreisläufen, bei denen er sich durch Erinnerungen an seinen Vater und seine Ängste, Connor zu verletzen, kämpfte. Irgendwann schaltete er das Licht ein und versuchte, sich mit einem Buch abzulenken, aber er war mit den Nerven am Ende. Unter all dem lag ein Gefühl des Aufruhrs, das einfach nicht verschwinden wollte.

Wie ich vorhin bereits erwähnte, haben Menschen mit posttraumatischem Stress häufig Probleme mit ihrer Aufmerksamkeit. Ununterbrochen sind sie mit traumatischen Auslösern in Form von Erinnerungen, Empfindungen und Emotionen konfrontiert. Bevor wir angefangen hatten, miteinander zu arbeiten, war Nicks Aufmerksamkeit gewohnheitsmäßig und unbewusst in die Richtung dieser Trigger gezogen worden, was ihm das Gefühl gab, frustriert, überfordert und außer Kontrolle zu sein. Immerfort war er abgelenkt und nervös. „Ständig kontrolliere ich mein Smartphone“, sagte er, „um mich mit x-beliebigen Nachrichten, die ich nicht mal lesen möchte, abzulenken. Wenn ich das nicht tue, bin ich meinen beschissenen Erinnerungen und dem Gefühl, nicht okay zu sein, ausgeliefert.“

Unter meiner Anleitung fing Nick an, zweckmäßiger mit seiner Aufmerksamkeit zu arbeiten. Mit dem Ziel, seine innere Stabilität und Selbstregulation zu unterstützen, begann er zu lernen, wie er seine Aufmerksamkeit, gleich einer Taschenlampe, nutzen konnte, um sie auf Stimuli zu richten, die ihm das Gefühl gaben, sicher und selbstkontrolliert zu sein. Manchmal war es eine innere Empfindung, wie der Druck seines Rückens gegen das Sofa, die ihn physisch erdete. Ein anderes Mal achtete er auf die Blätter, die draußen in der Sonne flatterten, und lernte dabei, Gefühle der Lebendigkeit und Wärme zu erkennen, die in ihm als Rückmeldung auf diese Wahrnehmung aufstiegen. Zu entdecken, dass die Ausrichtung seiner Aufmerksamkeit einen profunden Einfluss auf seinen Gefühlszustand hatte, überraschte ihn. „Mir war nicht klar gewesen, dass ich mich auf Dinge konzentriert hatte, die mir Angst machten“, sagte Nick. „Ich erkenne jetzt, wie sehr ich eigentlich mit meinem Geist arbeiten muss.“

KÖRPERGEWAHRSEIN

Als ich Nick zum ersten Mal aufforderte, seinem Körper achtsame Aufmerksamkeit zu schenken, schaute er mich verwirrt an. „Warum wollen Sie, dass ich das tue?“, fragte er. „Was ich in meinem Körper fühle, ist rasende Wut. Sie zu spüren, könnte dazu führen, dass ich wieder ein Glas gegen die Wand werfe.“

Dass Nick seinen Körper lieber vermied, war eine aus seiner Sicht nachvollziehbare Strategie. Es war der Versuch, die überfordernden, nicht integrierten Elemente seines Traumas in Schach zu halten. Nick schnitt seinen Körper von seinem Bewusstsein ab in dem Bemühen, mit seinen Emotionen fertigzuwerden. Aber indem er trauma-bedingte Empfindungen vermied, machte er sich anfälliger dafür, plötzlich von ihnen übermannt zu werden. Ohne Vorwarnung übernahmen sie die Kontrolle. An dem Abend, an dem er das Glas gegen die Wand geworfen hatte, war er der Rage, die sich den ganzen Tag über in seinem Bauch und seiner Brust angestaut hatte, aus dem Weg gegangen, bis es nicht mehr ging.

Nick erlebte am eigenen Leib, auf welche Weise ein Trauma durch den Körper erfahren werden kann. Statt ein Ort der Zuflucht zu sein, ist der Körper für Traumaüberlebende oft der Feind. Wie die Traumaexperten David Emerson und Elizabeth Hopper schreiben: „Alle diese Menschen erleben ihren Körper möglicherweise als ‚Feind‘. Sie haben das Gefühl, dass er sie absichtlich verletzt, denn wenn sie sich der Botschaften ihres Körpers bewusst werden, merken sie, dass viele dieser Botschaften die Empfindung ausdrücken, verletzt worden zu sein.“ (2012, S. 49) Infolge dessen neigen Traumaüberlebende häufig dazu, die Aufmerksamkeit von ihren Empfindungen abzuziehen, um mit ihrem Schmerz zurechtzukommen.

Achtsamkeit und Meditation laufen dieser Tendenz zuwider. Sie erhöhen unser Bewusstsein für subtile körperliche Empfindungen, was für Traumaüberlebende von Nutzen sein kann. Erstens können sie uns Informationen über unsere Stimmung, Bedürfnisse und Sehnsüchte geben. Während ich mit Nick arbeitete, erkannte er eine Unzahl an Signalen, die ihm anzeigten, dass sich Stress in ihm aufbaute – Spannung hinter seinen Augen zum Beispiel oder ein plötzlicher Fluss frustrierender Gedanken. In der Stille meiner Praxis fing Nick an, seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, so, als befände er sich in einem Labor. In diesen Momenten wurde ich demütig Zeuge, wie jemand, der seine innere Welt stets gemieden hatte, sich plötzlich in sie hineinwagte. Er entdeckte, dass ihn das Gefühl seiner Füße auf dem Boden erdete und selbstbewusster machte. Weiterhin stellte er fest, dass, wenn er zu viel Aufmerksamkeit auf seinen Bauch richtete, er das Gefühl bekam, überwältigt zu werden. Einfach auf seinen Körper zu achten, war für Nick ein radikaler Schritt.

Ein erhöhtes Körpergewahrsein kann Traumaüberlebenden auch dabei helfen, zu erleben, dass körperliche Empfindungen sich ständig verändern. Auszuatmen verlagerte die Anspannung in Nicks Bauch ein wenig und erinnerte ihn daran, dass seine innere Welt in stetiger Bewegung und nicht unveränderlich war. Posttraumatischer Stress kann uns überzeugt sein lassen, dass wir feststecken, und so kann uns das Erlebnis, selbst die kleinste Veränderung wahrnehmen zu können, neuen Möglichkeiten öffnen – nämlich, dass wir mit der Sache, die uns so lange Angst eingejagt hat, präsent sein können. Was bisher als bedrohlich und unbezwingbar eingeschätzt wurde, wird zu etwas, mit dem wir präsent sein können.

Mit der Zeit und zunehmender Übung bemerkte Nick, dass er immer größeres Unbehagen aushalten konnte, weil er wusste, dass die beunruhigenden inneren Empfindungen sich letztendlich verändern würden – auch wenn es zunächst nur geringfügig war.* Er zog von einem Ort der Machtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit um an einen Ort der Möglichkeiten. „Verdammt“, sagte er in einer Sitzung, als er nach einer Achtsamkeitsübung die Augen öffnete. „Ich kann tatsächlich diesen Feuerball in meinem Magen spüren, ohne dass er mich zu Tode ängstigt. Es beruhigt sich sogar etwas, wenn ich einfach mit ihm sein kann.“ Nick spürte Auftrieb. Er setzte sich mit seinem Körper auf neue Art auseinander. Bis dahin war er seinem Trauma weitestgehend ausgeliefert gewesen. Entweder dissoziierte er von seiner inneren Welt oder er wurde von ihr überwältigt. Jetzt fing er an, direkter mit ihr in Beziehung zu treten.

EMOTIONALE REGULATION

Zwei Monate, nachdem wir mit unserer Einzelarbeit begonnen hatten, schaffte Nick es, eine extreme Welle der Agitation bei sich zu Hauseabzufangen. Er und Tara saßen auf dem Sofa und diskutierten, ob sie ein zweites Kind haben sollten, als plötzlich etwas in Nick auslöste. Er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss und sein Herzschlag sich beschleunigte. Dann überfluteten ihn die Erinnerungen: zum Beispiel das Bild, wie sein Vater seinen kleinen Bruder schlug. Hilflosigkeit und Panik fingen an, ihn zu umschließen und ein inneres Narrativ der Selbstbeschuldigung übernahm die Führung: „Ich konnte ihn nicht beschützen. Ich konnte ihn nicht beschützen.“

Nick stand auf und ging zum Fenster. Er konzentrierte sich auf das Gefühl seiner Füße auf dem Boden und war so in der Lage, präsent zu bleiben mit dem, was in ihm geschah, ja sogar in gewisser Weise neugierig darauf. Nach einigen Atemzügen realisierte er, dass er große Angst hatte. Sein sich zusammenkrampfender Magen und der plötzliche Gedankenstrom hatten es ihm signalisiert. Als er dies wahrnahm, reduzierte sich sein Bedürfnis zu schreien. Er drehte sich um und ging zu Tara zurück. „Ich möchte darüber reden“, sagte er sanft, den Augenkontakt mit ihr haltend. „Aber ich habe auch Angst. Ich habe plötzlich angefangen, an meinen Vater zu denken und daran, was es bedeutet, eine größere Familie zu haben. Der Druck macht mir Angst, und ich brauche etwas Zeit, mich da durchzuarbeiten.“ Tara stand auf und umarmte ihn. Wenn er sich auf diese Weise mitteilen konnte, war ihre Geduld endlos.

Nicks Fortschritt spiegelt die Verbindung von Achtsamkeit und emotionaler Regulation wider – unserer Fähigkeit, darauf Einfluss zu nehmen, wie wir Emotionen erfahren und wie wir sie ausdrücken. Wir können dies auf verschiedene Weise tun, angefangen bei der Entscheidung, wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, bis zum tiefen, entspannenden Atemzug. Alle diese Modifikationen haben Einfluss darauf, wie wir unsere Emotionen erfahren und ausdrücken – und im Weiteren darauf, wie wir das Leben erfahren. Die Forschung hat bestätigt, dass Achtsamkeit emotionale Regulation auf vielfältige Weise unterstützt. Durch die besondere und nicht wertende Aufmerksamkeit, die Menschen mit einer aktiven Achtsamkeitspraxis ihrer inneren Welt schenken, antworten sie schneller auf ihre eigenen Emotionen an und sind dadurch weniger anfällig für emotionale Erschöpfung.65 Achtsamkeit erhöht darüber hinaus die Fähigkeit, mit herausfordernden Emotionen und Gedanken präsent zu bleiben, ohne überzureagieren.66 Wir üben, unseren emotionalen Zustand zu erkennen und ihm aus einer freien Entscheidung heraus statt reflexhaft zu begegnen.

Zusätzlich zu den drei Komponenten der Achtsamkeit – Aufmerksamkeitsregulation, Körperbewusstsein und emotionale Regulation – gibt es zwei weitere Vorteile für Traumaüberlebende, die ich mithilfe von Nicks Geschichte darstellen möchte: duales Gewahrsein und Konfrontation. Diese beiden Strategien sind eine Art emotionaler Regulation, bedürfen jedoch einer jeweils eigenen Erklärung.

DUALES GEWAHRSEIN

Wenn man unter traumatischem Stress leidet, ist es schwierig, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Durch den ständigen Beschuss mit Erinnerungen, zermürbenden körperlichen Empfindungen und traumatischen Triggern in der umgebenden Welt kann es dazu kommen, dass Traumaüberlebende übermäßig auf bestimmte Stimuli fokussiert sind, die dann anfangen, ihre Welt zu dominieren. Erinnern Sie sich an einen Moment in Ihrem Leben, in dem Sie sich den Knöchel verstaucht oder einen Zeh angeschlagen haben. Ich wette, dass Ihr Fokus größtenteils auf den pulsierenden Schmerz gerichtet war. Bei Traumaüberlebenden geschieht etwas Ähnliches. Sie fangen an, sich ausschließlich auf bestimmte Stimuli zu fixieren. Das kann ein bestimmtes Geräusch oder ein Geruch sein, der ein überwältigendes Gefühl der Gefahr auslöst. Plötzlich – und dann kontinuierlich – wird unsere Aufmerksamkeit in die Richtung dieser Bedrohung gezogen. Wenn dies geschieht, wird der Augenblick durch die Linse des Traumas erlebt, und unsere Aufmerksamkeit wird kurzsichtig.

Darum ist ein duales Gewahrsein – also die Fähigkeit, gleichzeitig mehrere Perspektiven aufrechtzuerhalten – eine so wichtige Fertigkeit für Traumaüberlebende. Stellen Sie sich einen Moment vor, in dem Sie mit einem schwierigen Gefühl zu kämpfen hatten, aber in der Lage waren, auch noch eine andere Perspektive aufrechtzuerhalten. Vielleicht waren Sie wütend, als ein anderer Autofahrer Sie schnitt, kontrollierten aber den Impuls zu hupen, weil Sie ein schlafendes Kind auf dem Rücksitz hatten.

Das ist, was Traumaüberlebende brauchen, wenn sie sich mit einem nicht integrierten Trauma auseinandersetzen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, ihre Aufmerksamkeit auf fordernde Stimuli zu richten und gleichzeitig ein gewisses Maß an Gewahrsein für den größeren Kontext zu behalten. Wenn sie einen Flashback erleben, müssen sie wissen, dass sie in diesem Augenblick lediglich ein vergangenes Trauma wiedererleben, statt tatsächlich wieder in der betreffenden Situation zu stecken. Der so geschaffene innere Raum kann gerade ausreichen, um kontinuierliche Überforderung zu vermeiden.

Lassen Sie uns zu Nick zurückkehren. Wenn er von seinem Vater sprach, fing sein Herz an, unkontrolliert zu rasen. Nach einer Minute war er nicht mehr in der Lage, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Seine Atmung beschleunigte sich, er konnte keinen Augenkontakt mehr herstellen, er fühlte sich überwältigt und in Gefahr. Er war in einer anderen Zeit, in einer Situation, die ihn in Panik versetzte. Ich bat Nick, sich im Raum umzusehen und verschiedene Objekte zu benennen – das Gemälde an der Wand, das Bücherregal in der Ecke, die Grünpflanze neben dem Fenster. Dies ist eine Orientierungsübung, um Traumaüberlebenden wieder in die Gegenwart zurückzuhelfen. Dann forderte ich Nick auf, wahrzunehmen, dass sein Vater nicht im Raum war. Sobald er das getan hatte, ließ ich Nick eine Reihe von Sätzen wiederholen, die sein duales Gewahrsein unterstützen sollten. „In diesem Augenblick“, sagte Nick schließlich, „spüre ich, dass mein Herz rast, weil ich an meinen Vater denke. Gleichzeitig sehe ich mich um und erkenne, dass mir in diesem Zimmer, in diesem Moment, keine direkte Gefahr droht.“* Schließlich nahm er wieder Augenkontakt zu mir auf, und ich konnte erkennen, dass er zurückgekehrt war. Er wusste, dass er sich in der Gegenwart befand und dass er einen Flashback erlebt hatte. „Genau das passiert mir zu Hause“, sagte er, „aber nie schaffe ich es, innezuhalten und zu realisieren, was tatsächlich geschieht.“

In ihrer Beschreibung des dualen Gewahrseins unterscheidet Rothschild zwischen dem beobachtenden Selbst und dem erlebenden Selbst. Das erlebende Selbst ist unser inneres Gefühl des Traumas – für Traumaüberlebende häufig die starken viszeralen Anzeichen von traumatischem Stress.67 Also Nicks erlebendes Selbst im Alarmzustand, mit rasendem Herz und flachem, schnellem Atem. Das beobachtende Selbst hat währenddessen etwas Abstand zum Erlebnis. Wir werden Zeuge des Ereignisses, statt von ihm überwältigt zu werden. Nicks beobachtendes Selbst meldete sich zurück, als er verstand, was mit ihm geschah. Er wusste, dass er nicht vor seinem Vater stand, sondern in meiner Praxis war und eine traumatische Erinnerung durchlebte.

Achtsamkeit stärkt das beobachtende Selbst und darüber hinaus die Kapazität des dualen Gewahrseins. Mit Übung können Traumaüberlebende lernen, Zeuge ihrer Erfahrung zu werden, ohne sich mit ihr zu identifizieren. Durch das Gewahrsein zweier simultaner Dinge – und mithilfe erfahrener Anleitung – können sie traumatische Stimuli erleben, während sie mit einem Fuß fest im gegenwärtigen Augenblick verwurzelt bleiben.

KONFRONTATION

Wenn wir uns selbst überlassen sind, neigen wir typischerweise dazu, uns vom Schmerz ab- und den angenehmen Dingen zuzuwenden. Aber ein Teilaspekt beim Üben von Achtsamkeit besteht darin, sich gezielt dem auszusetzen, was in unserem Bewusstseinsfeld geschieht, sei es angenehm oder unangenehm. Egal ob wir Tagträumen über unsere nächste Mahlzeit nachhängen oder ob wir einen stechenden Schmerz in unserer Schulter spüren, wir bleiben präsent. Wir lassen, was auch immer gerade geschieht, Einfluss auf uns nehmen – hier und jetzt. Für viele Meditationsanfänger kann sich das sperrig anfühlen, aber Achtsamkeit funktioniert anders. Wir wenden uns dem Entstehenden zu und nicht von ihm ab.

Manche Autoren haben Parallelen zwischen diesem Prozess des Sich-Zuwendens und der Konfrontationstherapie gezogen – eine weitverbreitete Technik der Verhaltenstherapie, die Menschen dabei helfen soll, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen.68 Entwickelt von Edna Foa, einer Professorin, die sich auf die Behandlung von Angstzuständen spezialisiert hat, werden Klienten in der Konfrontationstherapie bestimmten Stimuli ausgesetzt, mit dem Ziel, ihre übermäßige Angst besser bewältigen zu können.69 Wie bei der Achtsamkeit werden Menschen dazu ermutigt, sich den schwierigen Dingen zu stellen. Jemand, der Angst vor Hunden hat, kann sich in Übungen einen Hund vorstellen – oder sich sogar physisch mit einem Hund konfrontieren. Dies findet üblicherweise in einem neutralen Raum statt, in dem der Klient normalerweise damit anfängt, sich einen Hund vorzustellen, sich Bilder anzusehen und sich langsam an die tatsächliche Konfrontation mit einem Hund heranzutasten.

Konfrontationstherapie ist eine der am besten untersuchten Methoden bei der Behandlung von PTBS. Obwohl die Forschung gezeigt hat, dass sie bei der Behandlung von PTBS effektiv ist, ist sie umstritten: die Abbruchrate ist tendenziell hoch, und nur ein Drittel der Personen, die an den Studien teilnahmen, wiesen einige Verbesserungen ihrer Traumasymptome auf.70 Ob Konfrontationstherapie die Traumasymptome auslöscht oder schlicht die emotionale Sensitivität abstumpft, ist ebenfalls eine wichtige Frage.71 Was ich hier sagen möchte, ist, dass Konfrontation eine Rolle beim Üben von Achtsamkeit spielt und idealerweise die eigene Toleranz gegenüber traumarelevanten Stimuli erhöht, was wiederum bei der Integration des Traumas helfen kann.

Eines Nachmittags, als Nick mit Connor auf dem Spielplatz war, wurde er durch den Anblick eines Vaters, der seinen Sohn heruntermachte, getriggert. Nick spürte, wie in seinem Bauch Wut und Angst aufwallten. Er verspürte das starke Bedürfnis, zu dem Vater hinüberzugehen und ihm einen Kinnhaken zu verpassen. Aber dann hielt Nick inne. Er atmete tief ein und schloss die Augen, während er auf der Parkbank saß. Auch wenn es ihm viel abverlangte, seine Emotionen und Empfindungen zu tolerieren, waren sie doch auszuhalten. „Dranbleiben“, sage er sich selbst. „Renn vor diesen Gefühlen nicht davon.“72 Er erlaubte sich selbst, die Hitze in seinem Magen zu spüren und die Panik, die ihm durch die Schultern schoss. Nach einer Minute öffnete Nick seine Augen. Er sah sich im Park um und sah Connor glücklich im Sand spielen. Er fühlte sich mitgenommen, aber präsent. Achtsamkeit hatte anscheinend seine Fähigkeit erhöht, Gefühle, die einst zutiefst quälend gewesen waren, zu tolerieren.

Wie ich in Kapitel 5 zeigen werde, ist diese Form der Konfrontation nur dann von Nutzen, wenn die Person das, womit sie konfrontiert ist, auch aushalten kann. Wenn Nick achtsam mit seiner extremen Wut umgegangen und dann von ihr übermannt worden wäre, hätten schlichte Achtsamkeitsanleitungen wahrscheinlich nicht mehr ausgereicht. Er hätte etwas anderes gebraucht. Aber Konfrontation kann Traumaüberlebenden einen konstruktiven Dienst erweisen, wenn sie in einer sicheren Umgebung mit Achtsamkeit gepaart wird.

EIN ZWEISCHNEIDIGES SCHWERT

Bis jetzt habe ich mich ausschließlich auf den potenziellen Nutzen von Achtsamkeit für Traumaüberlebende konzentriert. Die drei Komponenten der Selbstregulation – Aufmerksamkeitsregulation, Körpergewahrsein und emotionale Regulation – sowie duales Gewahrsein und Konfrontation helfen alle, unsere Kapazität für Traumaintegration zu erhöhen. Aber wie steht es um die allgemeineren Risiken von Achtsamkeit? Wie ich bereits angedeutet habe, gibt es im Zusammenhang mit Trauma bestimmte Risiken, derer wir uns als Teil unserer Meditationspraxis bewusst sein müssen.

Um dies weiter zu verdeutlichen, lassen Sie uns zu Nick zurückkehren. An einem frühen Abend, als Tara und Connor fort waren, um Taras Familie zu besuchen, setzte sich Nick auf den Wohnzimmerboden, deckte sich mit einer Decke zu und beschloss, Einzelmeditation auszuprobieren. Er begann mit einigen einfachen Anleitungen, die er online gefunden hatte: Er konzentrierte sich auf seinen Atem und nahm sich vor, zu seinem Atem zurückzukehren, wann immer sein Geist zu wandern begann. Zehn Minuten später wurde Nick jedoch von extremer Unruhe erfasst. Er erlebte eine Reihe von gewohnten Flashbacks mit seinem Vater und dem Gefühl, in Gefahr zu sein. Immer wieder öffnete er seine Augen, um sich zu vergewissern, dass niemand im Raum war, aber sobald er die Augen wieder schloss, kamen die verstörenden Bilder sofort zurück.

Nick hatte Fortschritte mit Achtsamkeit gemacht. Er konnte immer mehr Mitgefühl mit sich selbst und seiner Familie empfinden und hatte das Gefühl, mehr Kontrolle über sein Leben zu gewinnen. Er hatte auch ein Interesse an Meditation bekundet, aber angesichts der Intensität seiner Symptome – seine Flashbacks und seine intensive Wut – hatte ich ihm geraten, vorerst die Finger von jedweder Form von Einzelmeditation zu lassen. Ich wollte, dass er sich stabiler fühlte, bevor er diesen Schritt unternahm. Aber aus Nicks Sicht war er bereit dazu. Er war überzeugt, dass mehr Achtsamkeitspraxis nur positive Resultate hervorbringen konnte. Er wollte seine Fähigkeiten zum Wohle seiner Familie vertiefen.

Nick machte weiter, und trotz seines Leids war er entschlossen, durchzuhalten. Er probierte einige der Techniken aus, die wir zusammen in meiner Praxis durchgeführt hatten, indem er seine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Weise verlagerte. Aber letztendlich musste er erkennen, dass er feststeckte. Jede Minute, die er in Meditation verbrachte, intensivierte nur seine emotionale Alarmbereitschaft. Sein Atem war flach, er schwitzte, und das Gefühl, das ihn jemand schlagen wollte, ließ nicht nach. Er schmiss seine Decke quer durch das Zimmer und stampfte gereizt in die Küche. Er öffnete eine Flasche Bier, schaltete schamerfüllt den Fernseher ein.

Nicks Erfahrung zeigt eine der Fallen, die Achtsamkeitsübungen für Traumaüberlebende bereithalten können: die Überbeachtung traumatischer Stimuli. Indem Traumaüberlebende achtsame Aufmerksamkeit auf das richten, was sich schwerpunktmäßig in ihrem Bewusstseinsfeld befindet, neigen sie natürlich dazu, sich an Überbleibsel ihres Traumas anzudocken. Dies kann aufwühlende Flashbacks oder bestimmte Empfindungen auslösen, die mit überlebenssichernden Reaktionen wie der Kampf-oder-Flucht-Reaktion verbunden sind. Es ist schwer, dem Impuls zu widerstehen, diesen Stimuli Aufmerksamkeit zu schenken.

Für Traumaüberlebende kann das schnell zu viel werden. Um traumatische Symptome steuern zu können, brauchen Menschen, die traumatischen Stress erleben, mehr als bloße Achtsamkeitsanleitungen, um innerlich wachsen zu können. Sie brauchen spezifische Anpassungen ihrer Achtsamkeitspraxis; idealerweise werden sie von einem erfahrenen Traumaexperten begleitet. Ohne diese Begleitung kann sich Achtsamkeitsmeditation als Falle erweisen. Egal wie ernsthaft Traumaüberlebende Achtsamkeit üben – es kann passieren, dass sie in einen Traumastrudel gerissen werden. Sie benötigen Werkzeuge, die ihnen dabei helfen, sich sicher und stabil zu fühlen und ihnen die Fähigkeit zur Selbstregulation geben.

Eine meiner Freundinnen erzählte mir eine Geschichte, die sich hier als Metapher anbietet. Sie hatte einen Tauchkurs belegt, in dem man lernen sollte, mit typischen Herausforderungen unter Wasser zurechtzukommen – wie zum Beispiel, wenn einem der Sauerstoff ausging oder die Taucherbrille vom Gesicht rutschte. Unter den verschiedenen Szenarien, die einem widerfahren konnten, war das gefährlichste, sich in einem Feld aus Meeresalgen zu verstricken. Wenn dies geschieht, geraten die meisten Taucher in Panik und beginnen sich hektisch zu bewegen. Aber das macht die Sache nur noch schlimmer. Durch Herumzappeln verheddert man sich nur noch mehr in den langen Algenranken, was zu angsterregenden – sogar tödlichen – Konsequenzen führen kann.

Traumaüberlebende, die Achtsamkeit praktizieren, können sich im übertragenen Sinne in einem Feld aus Meeresalgen wiederfinden. Dadurch, dass sie ihrer Augenblickserfahrung bewusste Aufmerksamkeit schenken, bringen sie sich natürlich mit Traumastimuli in Berührung – also Bildern, Erinnerungen oder Gefühlen wie etwa Immobilität und Rage. Diese Stimuli können unausgesprochene Familiengeheimnisse, das Erbe traumatischer Gewalt oder eine andere der vielen Formen, die Trauma annehmen kann, zum Vorschein bringen. Wenn Traumaüberlebende ihrem Körper und Geist ausdauernd genügend Aufmerksamkeit schenken, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie dem Trauma, das in ihnen lebt, begegnen werden.

Das kann eine gute Entwicklung sein – wenn ein Traumaüberlebender darauf vorbereitet ist. Durch das Erkennen traumatischer Stimuli kann ein erster Schritt unternommen werden, sich mit ihnen zu befassen. Allerdings liegt darin auch ein weiteres Problem. Wenn sich Traumaüberlebende in einem Algenfeld traumatischer Erinnerungen wiederfinden, bevor sie ausreichend darauf vorbereitet sind, kann es zur Panik kommen. Sie können sich in Gedanken, die auf sie eindringen, körperlichen Symptomen und unberechenbaren emotionalen Reaktionen verstricken und von ihnen überfordert werden. Nur wenn Traumaüberlebende über das nötige Handwerkszeug verfügen, um sich selbst zu stabilisieren und sich durch die Symptome zu navigieren, können sie verhindern, sich selbst zu retraumatisieren und sich gewissermaßen vor dem Ertrinken schützen. Das ist keine neue Erkenntnis. Peter Levine schrieb Folgendes darüber:

Um sich diese Selbstregulation und eine authentische Selbstständigkeit anzueignen, müssen traumatisierte Menschen letzten Endes lernen, zu ihren inneren Empfindungen Zugang zu finden, sie auszuhalten und sich zunutze zu machen. Es wäre jedoch unklug, sie ohne angemessene Vorbereitung anzuleiten, sich länger auf den eigenen Körper zu konzentrieren. Gerade am Anfang überfällt Patienten bei dieser Kontaktaufnahme mit ihren Empfindungen oft eine große Angst vor dem Unbekannten, die sie völlig in Beschlag zu nehmen droht. Die vorschnelle Konzentration auf die eigenen Empfindungen kann für sie überwältigend und damit potentiell retraumatisierend sein. (Levine, 2012, S. 106 )

Das ist der Grund dafür, dass Achtsamkeit in Bezug auf Traumaheilung ein zweischneidiges Schwert ist. Genauer gesagt, kann anhaltender Kontakt mit traumatischen Stimuli – ohne ausreichende Vorbereitung – Traumaüberlebende in einer potenziell lähmenden Wiederholungsschleife gefangen halten. Achtsamkeitsmeditation kann dazu führen, dass traumatische Symptome ausgelöst werden, die Menschen in ihren Alltag verfolgen. Wenn dies geschieht, ist sehr wahrscheinlich, dass Traumaüberlebende sich entmutigt und eingeschüchtert fühlen werden. Vielleicht machen sie sich selbst für ihre Not verantwortlich und haben das Gefühl, dass sie das eigentliche Problem sind. Manchmal verlieren sie die Hoffnung und geben die Achtsamkeitsübungen ganz auf, obwohl das eigentliche Problem nicht die Achtsamkeit an sich ist, sondern die Art und Weise, in der sie Achtsamkeit praktizieren.

Das führt uns zu der Algenmetapher zurück. In dem Kurs, an dem meine Freundin teilnahm, wurde erklärt, was zu tun war, wenn man sich in den Algen verfangen hatte: den Tauchern wurde beigebracht, sich zu entspannen. Hektische, plötzliche Bewegungen ziehen den Griff der Algen nur fester und machen die Sache oft schlimmer. Tauchern wird auch beigebracht, sich auf die Hilfe anderer zu verlassen. Sich mit einem anderen Menschen oder einem Team zusammenzutun, ist beim Tauchen eine normale Übung, weil es die Chancen der Taucher erhöht, Unfälle zu vermeiden oder sie zu überleben. Beide genannten Strategien sind auf Trauma anwendbar. Wenn uns traumatische Stimuli begegnen und wir beginnen, gegen uns selbst anzukämpfen, wird die Intensität dieser Stimuli nur vergrößert. In diesen Momenten müssen wir lernen, uns selbst zu regulieren. Traumaüberlebende brauchen fähige und mitfühlende Lehrer, wenn sie sich in den „Algen“ verheddern. Von einem Trauma erholen wir uns nicht allein. Angesichts der hohen Verbreitung von Traumata und der Popularität von Achtsamkeit glaube ich, dass wir – als Achtsamkeitspraktiker – dafür verantwortlich sind, Bescheid zu wissen, wenn es um die Arbeit mit Traumaüberlebenden geht, die in traumatischem Stress gefangen sind. Wenn wir uns der Risiken, die Achtsamkeit bergen kann, nicht bewusst sind, laufen wir Gefahr, dass Menschen dysregulieren oder sich in unserer Obhut retraumatisieren. Aber Achtsamkeit kann auch enorme Vorteile für Traumaüberlebende und all jene haben, die Zeuge von Trauma werden. Wie in Nicks Fall kann sie das Leben von Menschen verändern. Deshalb ist traumasensitive Praxis so wichtig. Je mehr wir über Trauma wissen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir Achtsamkeitsübungen auf eine Art anbieten können, die sie den Menschen, die von ihren Vorteilen am meisten profitieren werden, zugänglich macht. Durch die Bereitstellung eines entsprechenden Rahmenwerks – einhergehend mit Hilfestellungen aus bestimmten, auf die einzelne Person zugeschnittenen Modifikationen, die darauf ausgelegt sind, sie in ihrer Praxis zu begleiten – helfen wir uns und unseren Klienten, sich traumatischem Stress zu stellen und ihn zu integrieren.

* In Kapitel 4 werde ich auf die Beziehung zwischen traumasensitiver Achtsamkeit und den vier Grundlagen der Achtsamkeit, wie sie in den buddhistischen Lehren beschrieben werden, eingehen. Dieser Moment mit Nick ist ein Beispiel für die zweite Grundlage der Achtsamkeit, vedanā, welcher sich auf die Bandbreite angenehmer, unangenehmer und neutraler Sinneserfahrungen bezieht, mit denen wir achtsam sein können.

* Dies sind Anweisungen aus einem von Babette Rothschild (2000, deutsch 2002) entwickelten Protokoll, um Flashbacks zu unterbrechen. Ich werde in Kapitel 5 auf dieses Protokoll zurückkommen, um seine Nutzung zu erklären.

Traumasensitive Achtsamkeit

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