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EINFÜHRUNG

Warum traumasensitive Achtsamkeit?

Ein Teil von mir wünschte, ich hätte die E-Mail nicht gesehen. Es war weit nach Mitternacht, als ich aus einer Laune heraus noch einmal in meinem Posteingang nachsah. „Bitte um Hilfe …“ stand in der Betreffzeile, „Meditationskrise“. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, als ich weiterlas. Es war die dritte E-Mail dieser Art, die ich in diesem Monat erhalten hatte.

Die Nachricht kam von Nicholas, einem Lehrer aus Vermont, der über einen Artikel gestolpert war, in dem ich über negative Begleiterscheinungen von Achtsamkeitsmeditation geschrieben hatte.1 Nicholas hatte mit Achtsamkeitsmeditation angefangen, um mit seinen Angstzuständen besser zurechtzukommen, und schon bald hatten sich positive Auswirkungen seiner Übungen eingestellt: eine gesteigerte Klarheit, ein geschärftes Gedächtnis und ein nachhaltigeres Gefühl innerer Ruhe. In letzter Zeit hatte Nicholas jedoch ein entnervendes Symptom festgestellt: Wenn seine Stoppuhr das Ende der kurzen Meditation signalisierte, fiel es ihm schwer, nach seinem Handy zu greifen – sein Körper schien vor Angst paralysiert zu sein. Es fühlte sich für ihn an, als wäre er gefesselt.

Je mehr Nicholas meditierte, desto intensiver und verstörender wurden diese Erlebnisse. Sobald er die Augen schloss, erschienen Bilder vor seinem inneren Auge – zerschmettertes Glas, offener Himmel, Rauch. Sein Schlaf wurde von nervenaufreibenden Albträumen heimgesucht, Routineaufgaben versetzten ihn in Panik und das Geschnatter in seinem Kopf wurde unerträglich. Die Ruhe, die er in der Meditation gesucht hatte, hatte sich in ihr Gegenteil verkehrt – in unterschwelligen Terror und Grauen, die ihn Tag und Nacht verfolgten.

Eine Woche später trafen Nicholas und ich uns in einer Videokonferenz, und sofort konnte ich die Besorgnis und Verwirrung in seinen Augen erkennen. Als ich ihn fragte, ob die Bilder, die sich ihm während seiner Meditation aufgedrängt hatten, für ihn irgendeine Bedeutung hatten, nickte er. Einige Jahre zuvor war er in einen schweren Autounfall verwickelt gewesen – hilflos war er eine Stunde lang in seinem Auto eingeschlossen gewesen, bevor er gerettet werden konnte. Aber es war nicht der Unfall, der ihn verunsicherte, sondern seine Verwirrung über Achtsamkeitsmeditation. Wie konnte eine Praktik, die zunächst so konstruktiv und positiv gewesen war, ihn jetzt in solche Panik und Haltlosigkeit versetzen?

Mir war diese Frage nicht fremd. Als Psychotherapeut und Wissenschaftler hatte ich jahrelang darum gerungen, ein besseres Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen Achtsamkeit und Trauma zu entwickeln – eine extreme Form von Stress, die unsere Fähigkeit, mit belastenden Situationen zurechtzukommen, außer Kraft setzen kann. Nebeneinander betrachtet, können Trauma und Achtsamkeit wie natürliche, geradezu zwangsläufige Verbündete wirken. Beide haben mit der Natur des Leidens zu tun. Beide basieren auf sensorischer Erfahrung. Und während Trauma Stress verursacht, erweist sich Achtsamkeit als Weg, diesen Stress zu reduzieren. Theoretisch scheint es also so, als könne jeder, der ein Trauma erfahren hat, davon profitieren, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren. Was sollte dabei schon schiefgehen?

Ziemlich viel, wie sich allmählich herausstellt. Für Menschen, die ein Trauma erfahren haben, kann Achtsamkeitsmeditation die Symptome traumatischen Stresses verstärken. Dies kann Flashbacks, erhöhte emotionale Erregungszustände und Dissoziation umfassen, also eine Abspaltung der eigenen Gedanken, Emotionen und physischen Sinneserfahrungen. Obwohl Meditation wie eine sichere und harmlose Praktik erscheinen mag, kann sie Traumaüberlebende* direkt in die Tiefen ihrer Verletzungen stürzen, die zur Heilung mehr als ein achtsames Gewahrsein erfordern. Durch Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Verletzungen, die oft innerlich und nicht sichtbar sind, können sich Traumaüberlebende in einem Zustand wiederfinden, der dem von Nicholas ähnlich ist: desorientiert, verstört und gedemütigt, weil sie die Dinge irgendwie schlimmer gemacht haben.

Gleichzeitig kann Achtsamkeit auch eine unschätzbare Quelle für Traumaüberlebende sein. Die Forschung hat gezeigt, dass sie das Körpergefühl stärken kann, die Aufmerksamkeit erhöht und uns in die Lage versetzt, Emotionen zu regulieren – alles entscheidende Fähigleiten bei der Traumaheilung. Ebenso kann Achtsamkeit etablierte Trauma-Therapiemethoden unterstützen, indem sie Menschen hilft, in Augenblicken, in denen sie sich mit Traumasymptomen konfrontiert sehen, Stabilität zu finden.

Werden wir uns daher der Wichtigkeit des aktuellen Moments bewusst. Während des letzten Jahrzehnts ist Achtsamkeit sehr populär geworden. Achtsamkeitsmeditation wird an den unterschiedlichsten Schauplätzen angeboten – einschließlich buddhistischer Gemeinden, nicht-religiöser Programme und Psychotherapie. Vielfach wird sie als harmlose Methode zur Stressreduktion verkauft. Gleichzeitig sind Traumata sehr verbreitet. Geschätzte 90 Prozent der Bevölkerung sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, und acht bis 20 Prozent davon werden eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln.2 Das bedeutet, dass, egal in welchem Umfeld Achtsamkeitsmeditation unterrichtet wird, die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand im Raum in der Vergangenheit ein Trauma erlitten hat, hoch ist.

Daher stellt sich die Frage: Wie können wir die potenziellen Gefahren der Achtsamkeitsmeditation für Traumaüberlebende minimieren und gleichzeitig die positiven Möglichkeiten zu ihrem Vorteil nutzen?

Dieses Buch beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Ich möchte zeigen, dass eine grundlegende Achtsamkeitspraxis effektiver ist, wenn sie mit einem Verständnis für Trauma gepaart wird. Egal ob es der Meditationslehrer eines etablierten Retreats für Stille-Meditation ist, die Sozialarbeiterin, die Achtsamkeitsinterventionen in ihrer Arbeit nutzt, oder die Lehrerin, die fünfminütige Meditationen in ihrer Grundschulklasse anleitet – ich bin überzeugt, dass alle, die Achtsamkeit als Angebot nutzen, über die Risiken informiert sein sollten, die sie für Menschen birgt, die mit Trauma zu kämpfen haben.

Ich habe dieses Thema während des letzten Jahrzehnts untersucht. Ich habe theoriegeleitete akademische Forschung betrieben, habe ganze Wände mit Zetteln voll abstrakter Ideen vollgeklebt und habe in informellen Interviews Achtsamkeitsausbilder, psychologische Fachkräfte und Traumaüberlebende zu dieser Thematik befragt. Als Psychotherapeut habe ich ebenfalls eng mit Traumaüberlebenden zusammengearbeitet, die unerwünschte Erfahrungen mit Achtsamkeitsmeditation gemacht hatten. Nicht zuletzt bin ich das Thema allerdings als jemand angegangen, der selbst eigene Herausforderungen mit Achtsamkeit und Trauma erlebt hat. Ich wollte verstehen, was mir da widerfahren war.

EIN PERSÖNLICHER WEG

Als ich anfing, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren, arbeitete ich als Psychotherapeut mit männlichen Sexualstraftätern in Vancouver, Kanada. Ich hatte diese Arbeit wegen meines Interesses an Sexualität und opferorientierter Gerechtigkeit aufgenommen. Nach einem Jahr in diesem Beruf fühlte ich mich jedoch ausgebrannt. Ich litt unter starken Stimmungsschwankungen und verfügte nicht über das Handwerkszeug, um damit zurechtzukommen. Als eine Kollegin mir vorschlug, sie zu ihrer örtlichen Achtsamkeitsmeditationsgruppe zu begleiten, war ich leichte Beute: Achtsamkeit genoss einen zunehmend positiven Ruf in der Psychologie, und mir gefiel die Idee, eine bewusstere Beziehung zu meinem Geist aufzubauen. Während ich also dasaß und meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem lenkte, fragte ich mich: Wie schwer kann das schon sein?

Natürlich war es unmöglich. Ich verbrachte meine erste Meditationseinheit komplett in Gedanken versunken und realisierte dies erst, nachdem am Ende der Sitzung die Glocke geläutet hatte. Nichtsdestotrotz fing ich an, diese Praxis zu lieben und erkannte, dass sie mir in vielerlei Hinsicht half. Ich war mir meines Körpers bewusster, weniger an aufwühlende Gedanken gebunden und fühlte mich zufriedener und glücklicher, als ich es je zuvor gewesen war. Ich schuf neue Verbindungen zur Welt und fand Bedeutung und Resilienz außerhalb meiner Arbeit mit Straftätern – zum Beispiel, wenn ich dem Wind im Erdbeerbaum vor meinem Küchenfenster lauschte oder wenn ich meine Füße spürte, wie sie auf dem Weg zur Arbeit den Boden berührten. Wenn ich unter emotionalem Schmerz litt, verhalf mir Achtsamkeit zu neuer Perspektive und Raum. Sie half mir dabei, mir selbst mit neuem Mitgefühl und auf nicht wertende Weise zu begegnen.

Dann, völlig unerwartet, gingen die Lichter aus. Ich befand mich auf einem Stille-Meditationsretreat im ländlichen Massachusetts, als mich das Gefühl überkam, jemand hätte so etwas wie einen Hauptschalter in meinem Körper umgelegt. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, mich auf meine Übungen einzulassen, weil mir eine bestimmte Geschichte sexueller Gewalt aus meiner therapeutischen Arbeit immer und immer wieder durch den Kopf ging. Wenn ich meine Augen in dem schwach beleuchteten Raum öffnete, sah ich, dass alles da war, wo es sein sollte: Mitmeditierende, die neben mir auf ihren Kissen ruhten, die Buddha-Statue auf der Stirnseite des Raumes, und durch das Fenster sah ich die schmale Mondsichel zwischen den Bäumen. Nichts hatte sich gerührt und nichts Äußerliches hatte sich verändert.

Dann aber sah ich mich selbst. Ich schaute von einem der Dachbalken von oben auf meine Schultern herab. Panik ergriff mich, und trotzdem blieb ich so regungslos wie die Statue, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte. Ich vertraute darauf, dass diese Erfahrung, wie jede andere, die ich während meiner Meditation gehabt hatte, vorübergehen würde – wenn nicht bis zum Ende der Sitzung, dann doch sicherlich bis zum nächsten Morgen.

Leider war dem nicht so. Zumindest nicht ganz. Während der nächsten Woche des Retreats verwandelte sich die Welt in einen finsteren, unterirdischen Ort. Mir war, als würde ich zwischen zwei Sphären schweben, von denen sich keine auf festem Boden zu befinden schien. Ich war physisch anwesend, jedoch nur oberflächlich. Meine Sinne waren wie gedämpft und stummgeschaltet, mein Appetit verschwand und ich hatte das düstere, durchdringende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war, als hätte sich ein wesentlicher Teil von mir dazu entschlossen, aufzustehen und davonzulaufen, ohne jegliche Absicht, je wieder zurückzukommen. An jedem zweiten Tag des Retreats traf ich mich mit einem der Meditationslehrer – und häufig spürte ich, sobald ich mich hinsetzte, Tränen in mir aufsteigen. Jedes Gespräch verließ ich mit ähnlichen Instruktionen: Sei achtsam. Nimm die Ablösung wahr. Gib nicht auf. Vertraue dem Prozess. Und für den Rest des Retreats tat ich genau das.

TRAUMA ENTDECKEN

Als ich in diesem Sommer nach Hause kann, konnte ich in den Gesichtern meiner Freunde und Familie ablesen, was mir bereits klar war: Ich war lädiert vom Retreat zurückgekehrt. Ich fühlte mich desorientiert, innerlich taub und hatte Probleme, mich wieder in meinen Alltag einzugewöhnen. Als ich mit meinen Freunden und Kollegen über meine Erfahrungen sprach, überraschte es mich, dass sie das Wort „Trauma“ gebrauchten – einen Begriff, mit dem ich mich zwar theoretisch beschäftigt hatte, den ich aber nie mit meinem Leben in Verbindung gebracht hatte.

Für mich beschränkte sich diese Bezeichnung auf Handlungen schlimmster Übergriffe und Gewalt. Überfallopfer trugen Traumata in sich. Veteranen mit Kampferfahrung erlebten Traumata. Menschen, die durch Unterdrückungs-Regimes grausame und ungerechte Behandlung erfahren hatten – zum Beispiel in Form von Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit –, ertrugen Traumata. Ich hatte ein relativ beschütztes Leben geführt, und meine Erfahrungen als „traumatisch“ zu beschreiben, schien, als würde man die Ungeheuerlichkeit des Schmerzes von Traumaüberlebenden trivialisieren.

Trauma jedoch, wie ich seitdem gelernt habe, beschreibt nicht so sehr den Inhalt einer Erfahrung als vielmehr die Auswirkungen – unerwartet und fortlaufend, – die sie auf unsere Physiologie hat. Die Veteranentraumaspezialistin Pat Ogden schreibt: „Jedes Erlebnis, das genug Stress verursacht, um uns hilflos, verängstigt und überwältigt oder zutiefst unsicher fühlen zu lassen, wird als Trauma angesehen.“ (2015, S. 66) Sei es, dass man Zeuge von Gewalt wird oder diese selbst erfährt, einen geliebten Menschen verliert oder zum Ziel von Unterdrückung* wird, Menschen erleben Trauma auf unterschiedlichste Art und Weise. Und meiner ursprünglichen Annahme entgegengesetzt, minimiert die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen persönlichen Traumas nicht die Wichtigkeit des Traumas einer anderen Person. Vielmehr kann dies sogar Ursprung eines Gesprächs über die sozialen Bedingungen sein, die Traumata in erster Linie aufrechterhalten.3

Durch Freunde ermutigt, fing ich an, einen Traumatherapeuten zu besuchen. Es waren bereits sechs Wochen seit dem Retreat vergangen, und die Last der Erfahrung machte mir noch immer zu schaffen. Ich dissoziierte regelmäßig, hatte wiederkehrende Albträume und entwickelte zum ersten Mal in meinem Leben Schlafstörungen. Nach einigen Sitzungen stelle mein Therapeut die These auf, dass ich möglicherweise stellvertretendes bzw. sekundäres Trauma durch meine Arbeit mit Sexualstraftätern erlebte, weil ich kontinuierlich Geschichten von Gewalttaten ausgesetzt war, die sich letztendlich traumatisierend auf mich auswirkten. In diesem Rahmen begannen die Symptome, die ich erlebte – aufdringliche Gedanken, emotionale Distanziertheit, Dissoziation –, Sinn zu ergeben.

Wie sich herausstellte, sollten die Sitzungen mein Leben verändern. Ich hatte in der Vergangenheit das Privileg gehabt, verschiedene Formen der Gesprächstherapie zu erleben – Jungsche Therapie, kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie –, hatte aber nie den Eindruck gehabt, dass die Einsichten, zu denen ich dabei gekommen war, eine bleibende Veränderung herbeiführten. Traumaarbeit erwies sich als etwas anderes. Sie half mir, mich auf eine Art zu verändern, wie es vorherige Therapien und Meditationen nicht vermocht hatten. Aber ich bemerkte auch, dass mir meine Achtsamkeitsausbildung während der Sitzungen half, die intensiven Emotionen und physischen Wahrnehmungen, die zum Vorschein kamen, besser wahrzunehmen und mit ihnen präsent zu bleiben. Angetrieben von den Vorteilen der Traumatherapie, schrieb ich mich für ein mehrjähriges Trainingsprogramm, genannt Somatic Experiencing, ein – ein zeitgenössischer therapeutischer Ansatz, der von dem Biophysiker Peter Levine entwickelt wurde.4 In dem Kurs lernte ich sowohl, wie der Körper auf Trauma reagiert, als auch sichere und praktische Wege, wie man mit Traumaüberlebenden arbeiten kann. Es ist eine beeindruckende Methode, die mein Denken geformt hat. Allerdings hatte ich auch das Gefühl, dass in dieser Arbeit etwas fehlte. Fortwährend sprachen Lehrer über die biologischen Wurzeln von Trauma, diskutierten jedoch nie die sozialen Ursprünge – einschließlich der mit Trauma einhergehenden unterdrückenden Systeme. Mir wurde beigebracht, Trauma als eine ausschließlich individuelle, vom Rest der Welt abgekoppelte Erfahrung zu betrachten. Und obwohl mir dieses Rahmenwerk als Studierender westlicher Psychologie vertraut war, fühlte es sich im Zusammenhang mit Trauma besonders problematisch an. Ich war zuvor politischer Aktivist gewesen, und nun war ich auf der Suche nach einem Heilungsansatz, der eine Brücke zwischen persönlicher und sozialer Veränderung schlug.

Ein Jahr später fand ich ihn. Ein Freund stellte mich Staci Haines vor, eine Lehrerin, Klinikerin und soziale Aktivistin, die in ihrer Arbeit ein systemisches Verständnis von Trauma vorschlägt.5 Zusammen mit Spenta Kandawalla, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und Akupunkteurin ist, gründete Staci Generative Somatics – eine nationale Non-Profit-Organisation mit Sitz in Oakland, Kalifornien, die soziale Analyse mit Traumaheilung kombiniert. Durch das Verweben von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft, politischer Theorie und Prinzipien der transformativen Gerechtigkeit6 bietet die Organisation eine ganzheitliche Herangehensweise für die Heilung von Traumata an. Im Zentrum der Kurse stehen die Erfahrungen von Menschen, die durch Trauma und Unterdrückung am meisten betroffen sind7, und die Vision einer kollektiven Transformation bewegte mich bis ins Mark. Durch diese lebensverändernde Arbeit wurde Trauma zunehmend zu einer Linse, durch die ich die Welt zu sehen und zu verstehen lernte.

TRAUMA UND ACHTSAMKEIT

Auch während dieser Zeit fühlte ich mich weiterhin stark zur Achtsamkeitsmeditation hingezogen. Nach meiner Retreaterfahrung war ich noch immer auf der Hut, freute mich jedoch, Forschungsstudien zu finden, die bestätigten, was ich ebenfalls erfahren hatte: dass Achtsamkeit wirkliche, positive und messbare Veränderungen herbeiführen kann.8 Dennoch fragte ich mich weiterhin: Wie viele Menschen da draußen mochten sich wohl ebenso sehr quälen, wie ich es getan hatte? War meine Erfahrung eine Anomalie oder spiegelte sie einen größeren Trend wider? Ich fing an, Literatur zu studieren, die auf diese Fragen eine Antwort geben konnte, und realisierte, dass sich nur wenige Menschen geradeheraus mit der Beziehung von Achtsamkeit und Trauma beschäftigt hatten. Dadurch ermutigt, schrieb ich mich für ein Postgraduiertenprogramm der Psychologie ein, verfasste eine Dissertation zu dem Thema und fing schließlich an, über die Herausforderungen, die ich erfahren hatte, zu sprechen und zu schreiben.

Mir wurde schnell klar, dass ich nicht allein war. Nachdem ein Video von einer meiner Vorlesungen zu dem Thema anfing, im Internet seine Runden zu machen9, meldeten sich Menschen wie Nicholas bei mir, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich. Nicht jeder von ihnen war auf einem langen Retreat gewesen oder betrieb eine intensive Meditationspraxis. Oftmals hatten sie Achtsamkeitsmeditation lediglich bei einer der momentan vielfältig angebotenen Gelegenheiten ausprobiert – im örtlichen Gemeindezentrum, bei einem Stressreduktionsprogramm oder mithilfe von Anleitungen, die sie online gefunden hatten.

Dies war alarmierend. Ich nahm an, dass die meisten Achtsamkeitslehrer zwar wussten, was Trauma war, allerdings war ich weniger davon überzeugt, dass sie ausreichend ausgerüstet waren, um angemessen damit arbeiten zu können. Waren sie in der Lage, Trauma zu erkennen, geschweige denn zu sehen, wann ein Traumaüberlebender Hilfe brauchte? Wussten sie, wann ein Kursteilnehmer an einen Traumaspezialisten überwiesen werden musste? Und konnten sie Verbindungen zwischen Trauma und der systemischen Unterdrückung herstellen, der viele Menschen täglich ausgesetzt sind?

So entwickelte ich meine Leitfrage: Wie könnten Achtsamkeitslehrende, in Anbetracht der Allgegenwärtigkeit von Trauma, sicherstellen, dass sie Achtsamkeit in effektiver, kundiger und traumasensitiver Form lehrten?

TRAUMASENSITIVE ACHTSAMKEIT

Aus dieser Fragestellung heraus habe ich ein Rahmenwerk aus Prinzipien und Modifikationen entwickelt, die dazu dienen, traumasensitive Achtsamkeit zu unterstützen. Als eine Art „Best-Practices“-Ansatz zu dem Thema ist traumasensitive Achtsamkeit eine Stimme in einem eben beginnenden Diskurs darüber, wie eine trauma-bewusste Herangehensweise an Achtsamkeit und Meditation aussehen könnte.10 Traumasensitive Achtsamkeit bietet praktische Vorschläge im Kontext der Achtsamkeitslehre und richtet sich besonders an Achtsamkeitslehrer, Traumaexperten und an jeden, der daran interessiert ist, mehr zu diesem Thema zu erfahren.

Meine Definition von traumasensitiver Praxis stammt vom U.S. National Center for Trauma-Informed Care (2016):

Ein Programm, Organisation oder System, das trauma-kundig ist, nimmt die weitreichenden Auswirkungen von Trauma wahr und kennt potenzielle Wege, um sich von einem Trauma zu erholen; es erkennt Zeichen und Symptome von Trauma bei Klienten, Familien, Personal und anderen im System Involvierten; es reagiert, indem es Wissen über Trauma vollständig in seine Grundsätze, Prozeduren und Praktiken integriert; und es strebt aktiv danach, Retraumatisierung zu vermeiden.

Diese Definition ist eine praktische, auf gesundem Menschenverstand basierende Herangehensweise an traumasensitive Praxis und dient diesem Buch als Wegweiser. Durch die Einsicht, wie weitverbreitet Trauma ist, möchte ich Sie in die Lage versetzen, traumatische Symptome zu erkennen und eine Retraumtisierung Ihrer Klienten während Ihrer Achtsamkeitsarbeit zu vermeiden. Jedes Kapitel und jede Modifikation bezieht sich auf einen Teil dieser Definition: das Wahrnehmen von Trauma, das Erkennen der Symptome, das Reagieren darauf oder das Vermeiden einer Retraumatisierung.

Das Rahmenwerk, das ich Ihnen präsentieren werde, beinhaltet fünf Kernprinzipien, die zur Unterstützung von traumasensitiver Praxis konzipiert wurden. Diese fünf Prinzipien sind nicht als vorgeschriebener Ansatz zur Traumheilung gedacht – dafür ist Trauma viel zu komplex. Vielmehr biete ich Anregungen anstelle von Arbeitsschritten, die Sie dazu befähigen sollen, die für Ihre achtsamkeitsbasierte Arbeit relevanten Informationen einzubauen. Ich glaube fest daran, dass es in unserer Verantwortung liegt, Achtsamkeit dahingehend zu adaptieren, dass sie sich den spezifischen Bedürfnissen des Traumaüberlebenden anpasst und wir nicht davon ausgehen sollten, dass diese Menschen sich uns anzupassen haben.

Wie bin ich zu diesen Prinzipien gekommen? Ich begann mit der Suche nach Trauma-Schlüsselkonzepten, die mit Achtsamkeit in Verbindung standen. Dann habe ich jedes Konzept dazu genutzt, um mir Achtsamkeit wie durch eine Linse anzusehen– ein Prozess, der sowohl die Risiken als auch den Nutzen von Achtsamkeit in Bezug auf Trauma offenbarte. Beispielsweise glauben viele Traumaspezialisten, dass Körperarbeit entscheidend für die Heilung ist. Aus diesem Blickwinkel heraus kann Achtsamkeitsmeditation unterstützend wirken, weil sie das eigene Bewusstsein für den Körper erhöht, indem sie sich physischen Sinneswahrnehmungen widmet. Allerdings kann Achtsamkeit, ohne die richtige Anleitung, eine rein geistige und dissoziative Praktik sein, die Menschen dazu bringt, Empfindungen zu umgehen, die um Aufmerksamkeit wetteifern. Daher stellt sich die Frage: Was sind unter diesen Umständen die besten Wege für Menschen, die Trauma erleben, körperorientierte Achtsamkeit zu praktizieren? Bei meiner Arbeit bin ich daher durch drei primäre Ziele geleitet worden:

1 Das Leid für Menschen,

die Achtsamkeit praktizieren, minimieren

Diejenigen von uns, die Achtsamkeit lehren oder in ihrer Arbeit anwenden, tragen die Verantwortung, sicherzustellen, dass die Menschen, mit denen sie arbeiten, bei der Achtsamkeitsmeditation so sicher und stabil wie möglich sind. Das Ziel jedweder Traumaarbeit, schrieb Babette Rothschild, muss es sein, „das Leid zu mindern und nicht zu intensivieren“. (2010, S. xi) Dies kann in Anbetracht dessen, dass Achtsamkeitsmeditation oft Stillsitzen mit geschlossenen Augen beinhaltet, eine erstaunlich schwierige Aufgabe sein. Woher können wir also wissen, ob jemand auf die von uns angebotenen Meditationsanleitungen traumatisch reagiert?

Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Frage. Jede Person und jede Situation ist einzigartig. Jedoch können wir als Lehrer und Experten für seelische Gesundheit unser Bestes tun, um uns stetig fortzubilden. Wir können lernen, wie man Trauma erkennt und wie man effektiv darauf reagiert; wir können unsere Klienten an Menschen überweisen, die auf die Arbeit mit Trauma spezialisiert sind, und wir können unsere Achtsamkeitsarbeit an die Bedürfnisse traumatisierter Klienten anpassen – all dies kann einer Retraumatisierung vorbeugen. Mein Ziel ist es, Ihnen praktische, vernünftige Wege anzubieten, die zumindest versuchen, sicherzustellen, dass sich die Menschen in Ihrer Obhut nicht selbst schaden.

2 Ein systemisches Verständnis von Trauma voranbringen

Dieses Ziel wurde durch meine Arbeit mit Generative Somatics geprägt. Ich glaube, dass es mehr bedarf als des bloßen Abwandelns traditioneller therapeutischer Techniken, um ein traumasensitiver Achtsamkeitspraktiker zu werden. Wir müssen erkennen, was Trauma mit der Welt um uns herum zu tun hat. Wenn wir uns ausschließlich auf einzelne Teilbereiche von Trauma konzentrieren, gehen wir das Risiko ein, dass unsere Aufmerksamkeit von den unterdrückenden Systemen, die so oft die Wurzel von Traumata bilden, abgelenkt wird. Traumatischer Stress ist eine körperliche und seelische Erfahrung, aber darüber hinaus ist er eben auch eine politische Erfahrung. Dies zu verstehen – unseren eigenen soziologischen Kontext eingeschlossen –, kann Sicherheit und Vertrauen aufbauen und uns dabei helfen, die Menschen, mit denen wir arbeiten, bestmöglich zu unterstützen.

3 Für eine kontinuierliche Partnerschaft zwischen

Achtsamkeitspraktikern und Traumaspezialisten eintreten

Jede dieser beiden Berufsgruppen hat der jeweils anderen unverzichtbare Erfahrung zu bieten. Traumaexperten, die die biologischen, psychologischen und sozialen Dimensionen von Trauma verstehen, können Achtsamkeitspraktikern dabei helfen, mehr über Trauma zu erfahren und somit eine entscheidende Rolle in deren Beratung spielen. Achtsamkeitspraktiker* wiederum verfügen über ein umfassendes Verständnis dafür, wie man geschickt mit dem Geist arbeitet, problematische Geisteszustände eingeschlossen. Während die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Psychologie längst etabliert ist, bietet die aufkeimende Beziehung von Achtsamkeitspraktikern und Traumaexperten ein großes Potenzial für gemeinsames Vorankommen.

EINE WEGBESCHREIBUNG

Teil I dieses Buches bringt gewissermaßen Achtsamkeit und traumatischen Stress miteinander ins Gespräch. Ich definiere Trauma und Achtsamkeit, betrachte ihre jeweilige besondere Geschichte und untersuche, wie moderne Neurowissenschaft unser Verständnis von beidem formt. In Teil II behandle ich die fünf Prinzipien der traumasensitiven Achtsamkeit, indem ich relevante Theorien und Modifikationen präsentiere, die Sie bei Ihrer Arbeit anwenden können.

Dazu noch einige Vorbemerkungen. Erstens: Manchmal werde ich gefragt, ob es Achtsamkeit ist, die für Traumaüberlebende problematisch ist, oder ob es Achtsamkeitsmeditation ist, welche die Schwierigkeiten verursacht. Wie Sie sehen werden, tendiere ich zu Letzterem. Es ist wichtig, zwischen Achtsamkeit als Geisteszustand und der Art und Weise, wie dieser Zustand erreicht wird, zu unterscheiden. Achtsamkeit an sich verursacht kein Trauma – es ist die Ausübung von Achtsamkeitsmeditation, die ohne ein entsprechendes Traumaverständnis angeboten wird, die traumatische Symptome verstärken und verfestigen kann. Menschen praktizieren Achtsamkeit in unterschiedlichen Kontexten: zu Hause, im Rahmen einer Psychotherapie oder wenn sie an längeren Retreats teilnehmen. Angesichts der beschränkten Zahl empirischer Studien zur Beziehung von Achtsamkeit und Trauma bleibt uns nichts anderes übrig, als unseren gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Was für den einen Traumaüberlebenden ein Trigger sein kann – wie zum Beispiel ein Meditationsretreat im Schweigen –, tut dem anderen gut. Wir sollten daher in der Lage sein, für die individuellen und andauernden Bedürfnisse unserer traumaüberlebenden Klienten empfänglich zu bleiben.

Zweitens: Traumasensitive Achtsamkeit ist nicht als Ersatz für bewährte Methoden der Traumaheilung gedacht. Sie werden von mir nicht die Behauptung hören, dass Achtsamkeit „heilen“ kann, was für viele ein so komplexes, intensives und andauerndes Thema ist. Statt dessen werde ich mich darauf konzentrieren, in welcher Weise Achtsamkeit eine Ressource für Traumaüberlebende sein kann, genauer gesagt, in welcher Weise Achtsamkeit dabei helfen kann, Erregungszustände zu regulieren und Stabilität beim Erleben von traumatischen Symptomen zu unterstützen – ein notwendiger Schritt innerhalb der Traumaheilung.

Zuletzt möchte ich klarstellen, dass ich nicht behaupte, dass Achtsamkeit – oder das Umfeld, in dem Menschen diese lehren und praktizieren – fehlerhaft ist. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass sie eine tiefgreifende Ressource für Traumaüberlebende ist und dass Achtsamkeitsgemeinschaften sich zutiefst dem Wohlergehen ihrer Mitglieder verpflichtet fühlen. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass wir es besser machen können. Achtsamkeit muss nicht für jeden funktionieren, aber ich bin überzeugt, dass bestimmte Modifikationen dabei helfen können, Traumaüberlebende zu unterstützen – zumindest aber verhindern können, dass diese sich innerhalb ihrer Praxis selbst retraumatisieren. Die Rahmenbedingungen des Lehrens und Praktizierens von Achtsamkeit trauma-bewusst zu gestalten, ist ein natürlicher – und wie ich finde, notwendiger – Schritt in der Entwicklung einer zeitgenössischen Achtsamkeitsbewegung.

Die Auseinandersetzung mit Trauma verlangt uns eine Menge ab. Wie die feministische Psychiaterin und Professorin Judith Herman schrieb, konfrontiert es uns „mit der Verwundbarkeit des Menschen in seiner natürlichen Umwelt und mit der Fähigkeit zum Bösen als Teil der menschlichen Natur“. (2003, S. 17) Trauma zu studieren bedeutet auch, das Leid, das in größeren unterdrückenden Systemen gebunden ist, zu untersuchen – Systeme, die ganze Gemeinschaften von Menschen anfälliger für Trauma machen und andere Gemeinschaften wiederum davor schützen. Achtsamkeit kann uns dankenswerterweise dabei helfen. Sie stärkt unsere Fähigkeit, mit dem Unerträglichen gegenwärtig zu sein. Dies, so glaube ich, ist eine Aufgabe innerhalb der traumasensitiven Arbeit: sich dem Leid in seinen vielen Formen zu stellen. Wie der Schriftsteller und Gesellschaftskritiker James Baldwin schrieb: „Nicht alles lässt sich ändern, aber nichts ändert sich von selbst.“

* Ich benutze den Begriff „Traumaüberlebende“ durchgehend im Buch, als Kürzel für „Kursteilnehmer und Klienten, die Symptome posttraumatischen Stresses erleben“. Wie ich im Weiteren noch genauer ausführen werde, erfährt nicht jeder Traumaüberlebende notwendigerweise posttraumatischen Stress oder hat Schwierigkeiten mit Achtsamkeitsmeditation.

* „Unterdrückung“ schrieb die Polit-Pädagogin und somatische Praktikerin Sumitra Rajkumar, „ist der soziale Zustand, in dem die brachialen Machtdynamiken historischer Kräfte, wie zum Beispiel Kapitalismus, weiße Vorherrschaft und Patriarchat, unnötiges Leid erzeugen und das Leben und die Selbstbestimmung einschränken.“ (persönliches Gespräch, 12. Juni 2016)

* Ich gebrauche den Ausdruck „Achtsamkeitspraktiker“, um sowohl Achtsamkeitslehrende zu beschreiben, als auch Menschen, die auf Achtsamkeit basierende Interventionen innerhalb ihrer psychotherapeutischen Arbeit nutzen. Die Bezeichnungen „Klienten“ und „Kursteilnehmer“ benutze ich durchgängig im Buch, um jene Menschen zu beschreiben, die Achtsamkeit unter der Anleitung von Lehrern/Therapeuten/Heilpraktikern üben.

Traumasensitive Achtsamkeit

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