Читать книгу Traumasensitive Achtsamkeit - David Treleaven - Страница 9

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KAPITEL 1

Die Allgegenwärtigkeit von Trauma:

sichtbare und unsichtbare Formen

Die Dinge verschlechtern sich nicht, sie werden aufgedeckt.

Wir müssen uns gegenseitig stützen und damit fortfahren, den Vorhang wegzuziehen.

Adrienne Maree Brown

Manchmal erleben wir Dinge, die unserem Bedürfnis nach Sicherheit, einer verlässlichen Ordnung, nach Berechenbarkeit und Rechtmäßigkeit so sehr zuwiderlaufen, dass wir damit nicht mehr fertigwerden – dass wir nicht mehr in der Lage sind, Dinge zu integrieren, und schlicht und einfach unfähig, so weiterzumachen wie bisher. Unfähig, die Realität zu ertragen. Diese Art von Erlebnissen, die uns zutiefst erschüttern, nennen wir Traumata. Niemand von uns ist gegen sie immun.

Stephen Cope

„Der Schaden, den ich erlitten habe, ist innerlich, unsichtbar. Ich trage ihn mit mir. Du hast mir meinen Wert genommen, meine Privatsphäre, meine Energie, meine Zeit, meine Sicherheit, meine Intimsphäre, mein Selbstvertrauen, meine eigene Stimme, bis heute.“

Diese Worte sagte eine 23-jährige Frau in einem Gerichtssaal in Kalifornien am 2. Juni 2016.11 Sie richteten sich vor der Urteilsverkündung an Brock Turner, einen Studenten der Stanford University, der in drei Anklagepunkten sexueller Nötigung vor Gericht stand. In der Nacht der Attacke war Turner – damals 19 und Mitglied des Stanford-Schwimmteams – von zwei ausländischen Studierenden gestellt worden. Sie waren Zeugen geworden, wie Turner eine halbnackte, bewusstlose Frau am Rande einer Campusparty angegriffen hatte – dieselbe Frau, die nun hier vor ihm im Gerichtssaal stand.

„Ich stand da und betrachtete meinen Körper unter dem Wasserstrahl“, führte die Frau ihre Erfahrungen in der Notaufnahme weiter aus, „und ich beschloss, dass ich meinen Körper nicht länger haben wollte. Er erschreckte mich … Ich wollte meinen Körper wie eine Jacke ablegen und ihn mit allem anderen im Krankenhaus zurücklassen.“

Turner konnte nicht wissen, dass das Statement, das man ihm da vorlas, in der folgenden Woche 14 Millionen Mal online abgerufen werden würde.12 Darüber hinaus wurde es live und ohne Unterbrechung 25 Minuten lang auf CNN vorgelesen. Die Menschen waren geschockt und verstört, als die Frau – deren Identität der Öffentlichkeit nicht bekannt ist – den seelischen Schiffbruch darlegte, den sie als Nachwirkung der Attacke erlitt: schlimmste Angstzustände, ein überwältigendes Gefühl der Scham und chronische Albträume von Übergriffen, ohne aufwachen zu können.

Ebenso schrecklich war für viele die milde Strafe, die Turner erhielt: sechs Monate in einem Bezirksgefängnis statt bis zu 14 Jahre in einem Staatsgefängnis. Der Richter, der über diesen Fall entschied, selbst ein Stanfordabsolvent, hatte die Befürchtung, dass ein längerer Gefängnisaufenthalt einen „schwerwiegenden Effekt“ auf Turner haben und sich negativ auf seine Olympiahoffnungen auswirken könnte – ein Thema, das während der Gerichtsverhandlung wiederholt aufkam. In einem Brief, in dem Turners Vater als Leumundszeuge auftrat, schrieb er, dass Brock zu hart für eine „20 minütige Tat“ bestraft würde und dass er „zuvor noch nie anderen gegenüber gewalttätig gewesen“ sei, und auch in der Nacht der Attacke sei er es nicht gewesen.13

Am Tag nach der Urteilsverkündung war ich mit meiner engsten Freundin in einem Café und beobachtete sie dabei, wie sie das Statement des Opfers las. Es war quälend, mit ansehen zu müssen, wie sie die Worte in sich aufnahm. Dies war eine Freundin, von der ich viel über Sexismus gelernt hatte, die mein Bewusstsein für die sozialen Normen, die sie als Frau zum Objekt herabwürdigen und Männer wie Turner schützen, erweitert hatte. Ich mochte diese Freundin sehr. Ihr dabei zusehen zu müssen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, erfüllte mich mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Praktisch alle Frauen in meinem Leben – meine Freundin eingeschlossen – sind Opfer sexueller Gewalt geworden. Instinktiv verstand sie daher den inneren Aufruhr, die Flashbacks, die Isolation, die Turners Opfer beschrieb.

Später am gleichen Morgen erfuhren wir, dass ein vierter Polizeibeamter aus Baltimore für den Totschlag an Freddie Gray – einem 25 jährigen afro-amerikanischen Mann, der im vorausgegangenen Jahr in Polizeigewahrsam gestorben war – freigesprochen worden war.14 Es war einer aus einer Reihe von Vorfällen – Michael Brown in Ferguson, Missouri; Rekia Boyd in Chicago, Illinois; Tamir Rice in Cleveland, Ohio –, bei denen ein unbewaffneter schwarzer Mensch durch die Hand eines Polizisten gewaltsam zu Tode kam. Meine Freundin und ich hatten den Prozess in Teilen verfolgt, und wir waren ziemlich verzweifelt. Wir hätten beide gerne daran geglaubt, dass diese Fälle, von denen wir an diesem Tag gelesen hatten, Ausnahmen waren.

Aber sie waren es nicht. In den Vereinigten Staaten wird nahezu eine von fünf Frauen im Laufe ihres Lebens vergewaltigt15, und Schätzungen zufolge wird alle 28 Stunden ein schwarzer Mensch von der Polizei, Sicherheitspersonal oder durch vom Staat geduldete Bürgerwehren ermordet.16 An diesem Tag wurden wir lediglich an diese Tatsache erinnert, konfrontiert mit einer Form von traumatisierender Gewalt, die, obwohl sie so vielen vertraut ist, oft unterdrückt und außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung gehalten wird.17

An diesem Abend besuchten meine Freundin und ich eine Achtsamkeitsgruppe. Die Meditation half mir, mich von meinen Grübeleien freizumachen, Verbindung mit meinem Körper aufzunehmen und Empathie für mich selbst und für andere herzustellen. Mir als weißem, heterosexuellem Mann mit politischer Urteilsfähigkeit half Achtsamkeit dabei, meine Fähigkeit auszubauen, mich Formen unterdrückender Gewalt zuzuwenden, statt mich reflexartig von ihnen abzuwenden. Kurz nachdem wir zwei frei Plätze im Meditationsraum gefunden und es uns bequem gemacht hatten, erklang die Glocke, um die halbstündige Schweigemeditation einzuläuten. Meine Freundin griff nach meiner Hand und drückte sie leicht.

Nach der Hälfte der Zeit wurde es für meine Freundin schwierig. Ich merkte, wie sie neben mir unruhig wurde, und als ich meine Augen öffnete, sah ich, dass ihr Gesicht angespannt war und ihre Schultern zitterten. Einige Minuten später stand sie leise auf und ging.

Während der Pause fand ich sie zitternd in der Kälte. Sie war von Bildern der Gewalterfahrungen aus ihrer Vergangenheit überwältigt worden – Erinnerungen, die durch das Lesen der Schilderungen von Brock Turners Opfer an diesem Morgen ausgelöst worden waren. Ihre Herzfrequenz war während der Meditation hochgeschnellt, und das Gewahrsein ihres Pulses hatte ihre Anspannung nur noch intensiviert. Normalerweise war Meditation meiner Freundin eine Zuflucht, aber an diesem Abend hatte sie in ihr ein Gefühl des In-der-Falle-Sitzens ausgelöst, verbunden mit dem Gefühl, kurz vor einer Panikattacke zu stehen.

Als wir ins Foyer zurückgingen, trat eine Frau mittleren Alters zu uns. Sie machte sich Sorgen, denn sie hatte meine Freundin während der Meditation fortgehen sehen und wollte wissen, ob sie helfen konnte. Durch die freundliche Geste getröstet – und durch das Wissen, dass diese Frau über viel Meditationserfahrung verfügte –, beschloss meine Freundin, zu erzählen, was mit ihr während der Meditation geschehen war. Die Frau nicke empathisch, offensichtlich berührt von dem, was sie zu hören bekam. Nach ihrer Erfahrung, so sagte sie sanft, könne Meditation diese Form von Schmerz hervorrufen. Es sei keine Praxis für schwache Nerven. Aber sie war auch überzeugt, dass Durchhaltevermögen der Schlüssel zum Erfolg war. Wenn meine Freundin über genug Entschlusskraft verfügte, würde sich der eiserne Griff der Erinnerungen lösen. Die Frau war sich sicher – beruhend auf ihrer eigenen Erfahrung –, dass Achtsamkeit jeden Schmerz heilen konnte.

Meine Freundin und ich dankten ihr. Im Stillen jedoch hoffte ich, ich könnte ihre Überzeugung teilen.

TRAUMASENSITIVE ACHTSAMKEIT

Wenn Menschen erfahren, dass ich über Trauma und Achtsamkeit schreibe, erwarten sie oft, dass ich mich ausschließlich zu Möglichkeiten äußere, wie Achtsamkeit die Traumaheilung unterstützen kann. Tatsächlich kann sie das auch: Achtsamkeit kann das Bewusstsein für den gegenwärtigen Augenblick erhöhen, unser Selbstmitgefühl steigern und die Fähigkeit zur Selbstregulation bei Menschen, die von posttraumatischem Stress betroffen sind, verbessern.18,19 Achtsamkeit kann aber eben auch Probleme für Menschen schaffen, die mit traumatischem Stress zu kämpfen haben.20 Wenn wir jemanden, der ein Trauma erlitten hat, auffordern, seiner inneren Welt genaue und ausdauernde Aufmerksamkeit zu schenken, fordern wir ihn zum Kontakt mit traumatischen Stimuli auf – Gedanken, Bilder, Erinnerungen und physische Sinneseindrücke, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen. Dies kann, wie meine Freundin erfahren musste, Symptome von traumatischem Stress verstärken und intensivieren und in manchen Fällen sogar zu einer Retraumatisierung führen – einem Rückfall in einen zutiefst traumatisierten Zustand.

Dies wirft entscheidende Fragen für diejenigen von uns auf, die Achtsamkeitsübungen anleiten. Welche Verantwortung tragen wir Menschen gegenüber, die Trauma erleben? Ist ein gewisses Maß an Schmerz beim Üben von Achtsamkeit zu erwarten? Wie können wir wissen, ob ein Traumaüberlebender meditieren sollte oder eher nicht? Und wie können wir unsere eigenen Grenzen beim Verstehen der Traumata anderer Menschen zu einem Mittel machen, um diese Menschen bestmöglich zu unterstützen? Zusammengefasst: Wie können wir Achtsamkeitsübungen auf eine traumasensitive Art anbieten?

Ob traumasensitiv oder trauma-bedacht, in der Praxis bedeutet das, dass wir über ein grundsätzliches Verständnis von Trauma im Kontext unserer Arbeit verfügen müssen. Zum Beispiel kann ein traumabewusster Arzt Patienten um Erlaubnis bitten, bevor er sie berührt. Oder ein trauma-kundiger Schulpsychologe könnte einen Schüler fragen, ob er die Tür während der Sitzung lieber offen oder geschlossen halten möchte und sich nach einer angenehmen Sitzentfernung erkundigen. Mit trauma-kundiger Achtsamkeit wenden wir dieses Konzept in der Achtsamkeitsanleitung an. Wir verpflichten uns, Trauma zu erkennen, angemessen darauf zu reagieren und vorbeugende Schritte zu unternehmen, damit sich Menschen, die sich von uns anleiten lassen, nicht selbst retraumatisieren.21

Der Bedarf an traumasensitiver Achtsamkeit wird klar, wenn man einen Blick auf die Statistik wirft. Währen des letzten Jahrzehnts ist die Popularität von Achtsamkeit explosionsartig angestiegen.22 Sie wird heute an einer Vielzahl nicht-religiöser Orte angeboten, etwa an Grund- und weiterführenden Schulen, in Unternehmen und Krankenhäusern23. Eine Vielzahl an Workshops, Retreats, Konferenzen, Seminaren und Instituten bieten Achtsamkeitsübungen an. Bücher und Artikel zu diesem Thema haben den Markt geradezu überschwemmt24. Gleichzeitig ist Trauma sehr weitverbreitet. Die Mehrheit von uns – wie ich in Kürze detaillierter beschreiben werde – wird im Verlauf unseres Lebens mindestens einer Art von traumatischem Erlebnis ausgesetzt sein, und einige von uns werden in der Folge beeinträchtigende Symptome entwickeln. Wenn wir Ziel systemischer Unterdrückung sind25 – wie etwa jemand, der arm ist, der Arbeiterschicht entstammt, behindert, eine „Person of color“, Transgender oder eine Frau ist –, sind wir einer weitaus größeren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, im Laufe unseres Lebens zwischenmenschliches Trauma zu erfahren und jeden Tag unter traumatisierenden Umständen leben zu müssen.26

Dies bedeutet, dass, wo auch immer Achtsamkeit praktiziert wird, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass jemand der Anwesenden mit traumatischem Stress zu kämpfen hat. Vom Schüler, der Zeuge häuslicher Gewalt wurde, bis zum älteren Menschen, der kürzlich seinen Partner durch einen Sturz verloren hat, Trauma wird oft präsent sein. Und obwohl nicht jeder, der ein Trauma erfahren hat, notwendigerweise negativ auf Achtsamkeit reagieren wird, müssen wir auf diese Eventualität vorbereitet sein.

Ich werde in jedem Kapitel ein Beispiel präsentieren, um das Konzept, das ich vorstelle, zu verdeutlichen. Jeder dieser Fälle wird sich aus Erfahrungen mit verschiedenen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, zusammensetzen, wobei jedoch alle identifizierenden Merkmale geändert wurden. Dies vorausgeschickt, lassen Sie mich RJ vorstellen – ein Schüler, der sich an der Schnittstelle von Meditation und traumatischem Stress wiederfand.

RJ: IN STILLE LEIDEN

RJs Magen verkrampfte sich, als der Achtsamkeitslehrer den Klassenraum betrat. Es war Dienstagnachmittag, und er hatte vergessen, dass dies die Unterrichtstunde war, in der die Meditationsübungen stattfanden. Ihm brach der Schweiß aus, und er sah sich im Klassenraum um, nur um seine Klassenkameraden entspannt und gut gelaunt vorzufinden – ein Anblick, der seine eigene Not noch verstärkte. Plötzlich fühlte er sich,

als müsste er sich übergeben.

Seit drei Wochen lernte RJ an seiner Schule Achtsamkeitsmeditation. Ursprünglich war er der Idee gegenüber sehr offen gewesen – dankbar für die willkommene Ablenkung vom regulären Unterricht. Allerdings empfand er die Praxis schnell als quälend. Während der Meditationsübungen überlagerte sich die Stimme seines Lehrers mit dem Geräusch seines Herzschlags. Er konnte sich nicht auf seinen Atem konzentrieren und bemerkte, dass er jede Meditation extrem aufgewühlt verließ und dieser Zustand für den Rest des Tages anhielt. Nachdem er um Erlaubnis gefragt hatte, der Stunde an diesem Nachmittag fernzubleiben, lief RJ zügig zu den Toiletten, schloss sich in einer der Kabinen ein und nahm sein Telefon heraus. Er hielt es nicht aus, von Menschen umgeben zu sein und musste flüchten, um sich beruhigen zu können.

Vor vier Monaten hatte RJ seine ältere Schwester Michelle durch einen Autounfall verloren. Sie war beim Joggen in der Nachbarschaft von einem Autofahrer erfasst worden, der übersehen hatte, dass sie bereits in die Kreuzung gelaufen war. RJ war nach dem Fußballtraining nach Hause gekommen, um seine Eltern, beide im Schockzustand, mit einem Polizisten am Tisch sitzend vorzufinden. Er erfuhr, dass Michelle seine neuen Kopfhörer getragen hatte – diese waren vermutlich der Grund dafür gewesen, dass sie das nahende Auto nicht gehört hatte. Er litt sehr darunter, sich für den Tod seiner Schwester verantwortlich zu fühlen, und für den Rest der Woche war ihm, als befände er sich im freien Fall.

Die folgenden Monate waren grauenvoll. Seine Lehrer sahen ihn oft allein im Flur sitzen, desolat und verloren. Die Essenspakete, die ihm seine trauernde Mutter für die Mittagspause mitgab, blieben unberührt27, RJ gab das Basketballtraining auf und begann die Schule zu schwänzen, um im nahegelegenen Park Drogen zu konsumieren. Darüber hinaus entwickelte er Albträume über den Unfall und bekam Panikattacken, sobald er Jogger in seiner Nachbarschaft sah. Emotional abwesend und taub, fühlte sich RJ gefangen in einem Vakuum zwischen seinem jetzigen Leben und dem Tag, an dem er seine Schwester verloren hatte.

Stille fiel RJ am schwersten. Nachts lag er wach in seinem Zimmer und wartete darauf, seine nach Hause kommende Schwester zu hören. Er erinnerte sich an die Art, wie sie ihren Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte und dann leise zum Kühlschrank geschlichen war. In der Hoffnung, dass der Unfall nur ein Albtraum gewesen war, wartete er auf das Geräusch ihrer Schritte vor der Tür seines Zimmers. Aber sie kam nie mehr zurück.

Dies machte RJ die Achtsamkeitsmeditation unmöglich. Sobald er seine Augen schloss, fühlte er sich von der Stille und Dunkelheit überwältigt. Er versuchte seine Aufmerksamkeit auf seinen Atem zu konzentrieren, aber alles, was er sehen konnte, war das Gesichts seiner Schwester. Manchmal sah er die Straßenecke, an der sie gestorben war. Insgesamt rief die Meditationspraxis bei ihm ähnliche Symptome hervor, wie sie meine Freundin an jenem Abend im Meditationsraum erfahren hatte – ein Gefühl der Angst und des Erstickens, gepaart mit extremer Anspannung. An jenem Nachmittag waren für RJ das Verlassen des Klassenzimmers und das Einschließen in der Toilette die einzige Möglichkeit, mit der Situation umzugehen.

STRESS UND TRAUMA

Was passierte da mit RJ? Abgesehen von der verständlichen Trauer über den Verlust seiner Schwester, was war es, das diese spezifischen Symptome verursachte?

Ohne sich darüber klar zu sein, erfuhr RJ traumatischen Stress. Seine Isolation, der Appetitverlust, die erhöhte Anspannung, sein Leichtsinn und die Albträume waren alle Traumasymptome. Dasselbe galt für die Bilder seiner Schwester, die sich ihm während der Meditation aufdrängten. Trauma kann eine qualvolle, niederschmetternde Erfahrung sein, die uns verängstigt und hilflos sein lässt und uns von jeglicher Form von Leichtigkeit und Freude entfremdet – und RJ steckte mittendrin in dieser Qual.

Um traumatischen Stress besser zu verstehen, sollten wir damit beginnen, ihn zu definieren. Unsere zeitgenössische Definition dieses Begriffs stammt von Hans Selye, einem österreichisch-ungarischen Endokrinologen. Selye charakterisierte Stress als die unspezifische körperliche Antwort auf jedweden Veränderungsbedarf.28 Er erkannte, dass Stress an sich weder gut noch schlecht ist – er ist lediglich etwas, das einen Einsatz unsererseits verlangt. Unser Nervensystem unterscheidet nicht zwischen „positivem“ und „negativem“ Stress. Fahrradfahren, Autofahren oder sexuelle Aktivität sind allesamt Stressoren. Sogar gute Neuigkeiten – wie zum Beispiel die Nachricht einer erhofften Schwangerschaft oder einer Beförderung am Arbeitsplatz –, sind eine Form von Stress. Meist verbinden wir „Stress“ jedoch mit Belastung und Problemen. Endlose Arbeitstage, finanzielle Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Konflikte oder abwertende Kommentare sind allesamt Beispiele für negativen Stress. Es gibt eine ganze Industrie, die sich mit Stressreduktion befasst, und Achtsamkeit spielt darin eine tragende Rolle.

Obwohl negativer Stress sich stark auf unsere Lebensqualität auswirken kann, ist er von traumatischem Stress – der intensivsten Form von Stress, die wir erleben können – klar abgegrenzt. Traumatischer Stress resultiert aus dem Erleben eines einzelnen oder einer Reihe traumatischer Ereignisse. Viele Menschen haben multiple Traumaerfahrungen, zum Beispiel, wenn bestimmte Erlebnisse sich ständig wiederholen und, oft kollektiv, geleugnet werden. Dies kann sexuelle und häusliche Gewalt sein, „Date Rape“ oder die Art sexuellen Übergriffs, wie ich sie eingangs dieses Kapitels beschrieben habe. Darüber hinaus wird jedes Mal, wenn ein erneutes Hassverbrechen oder ein durch die Polizei verursachter Mord geschieht, durch diese fortwährende Unterdrückung traumatischer Stress erzeugt. Traumatischer Stress bezieht sich nicht immer nur auf einen einzelnen, isolierten Vorfall.

In der aktuellen fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5. Auflage, DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) wird ein traumatisches Erlebnis definiert als die tatsächliche oder gefürchtete Erfahrung, Tod, schwerer Verletzung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt zu sein. Diese Exposition kann aus dem persönlichen Erleben oder Miterleben eines traumatischen Ereignisses resultieren oder auch daraus, dass ein Familienmitglied oder ein enger Freund einem solchen Vorfall ausgesetzt war. Sie kann auch dadurch entstehen, dass man Einzelheiten dieses traumatischen Vorfalls wiederholt oder in extremer Weise ausgesetzt ist. Manchmal geschieht das im Kontext der eigenen Arbeit – wie zum Beispiel bei Ersthelfern oder medizinischem Notfallpersonal oder jedem, der sich näher mit Trauma beschäftigt.

DAS SPEKTRUM VON TRAUMA

Ein einzelnes traumatisches Erlebnis wird keine Langzeitfolgen verursachen. Es trifft uns, aber wir sind in der Lage, die Erfahrung umzuwandeln – also unsere Gedanken, Erinnerungen und Emotionen zu verarbeiten, ohne von ihnen übermannt zu werden oder in ihnen steckenzubleiben. Manchmal entwickeln wir jedoch Symptome, die über das traumatische Ereignis hinaus reichen. Dies können wiederholte Flashbacks, quälende körperliche Empfindungen oder starke Stimmungsschwankungen sein, die völlig unvermittelt auftreten. Irgendeines unserer inneren Warnsysteme schaltet nicht ab, und wenn eine traumatische Erfahrung durchkommt, richtet sie in unserem Körper und Geist Verwüstungen an.

Dies bezeichnet man als posttraumatischen Stress – eine Erfahrung, bei der traumatische Symptome über das traumatische Ereignis hinaus erlebt werden. Da wir nicht in der Lage sind, das Erlebte zu integrieren, verfolgt uns der Eindruck des Traumas bis in die Gegenwart und spielt sich dort wieder und wieder für uns ab. Posttraumatischer Stress stellt daher das Konzept, dass Zeit alle Wunden heilen kann, fundamental in Frage.

Manchmal spiegelt posttraumatischer Stress aber auch ganz direkt externe traumatische Lebensumstände. Menschen, die Unterdrückung erfahren, leben oft nicht in Sicherheit, und ihre Angst ist wohlbegründet. So haben sie oft keine Chance, mit dem Trauma abzuschließen – wie zum Beispiel bei Trauma, das aus rassistischer Gewalt resultiert oder wenn man unter einer Militärbesatzung leben muss. Und in wieder anderen Umständen waren wir einem einzelnen traumatischen Ereignis ausgesetzt und registrieren nicht, dass es vorbei ist. Symptome wie Albträume, Dissoziation und Entfremdung prägen unser Leben. Wie Brock Turners Opfer bei der Gerichtsverhandlung rekapitulierte: „Ich kann nachts nicht alleine schlafen, ohne ein Licht anzuhaben, wie eine Fünfjährige, weil ich Albträume habe … Drei Monate lang bin ich erst um sechs Uhr morgens ins Bett gegangen.“

Die Symptome von posttraumatischem Stress treten oft nicht unmittelbar zutage und sind dann entsprechend schwierig zu identifizieren oder zu artikulieren. In RJs Klassenzimmer wusste der Achtsamkeitslehrer nicht, dass RJ seine Schwester verloren hatte und was für eine Herausforderung die Meditation für ihn bedeutete. Wie viele andere Betroffene quälte RJ sich allein mit seinen Symptomen. Das Resultat ist, dass viele Traumaüberlebende bei der Bewältigung ihres Alltags zu Anstrengungen gezwungen sind, die Außenstehende gar nicht erkennen. Sie leiden kaum vorstellbare Qualen, ohne dass andere etwas davon mitbekommen. In Kapitel 5 werde ich Ihnen eine Liste zur Verfügung stellen, die dazu dient, potenzielle Anzeichen traumatischer Symptome im Kontext der Meditation zu erkennen. Im Moment möchte ich jedoch die weitreichenden Belastungen in den Vordergrund stellen, die posttraumatischer Stress den Betroffenen, ihren Familien und oft auch größeren Gemeinschaften auferlegt. Die DSM-5-Definition erinnert uns daran, dass posttraumatischer Stress auch von Menschen erlebt werden kann, die „nur“ Zeuge eines traumatischen Ereignisses geworden sind. Ein Jahr nach Freddie Grays tödlich endender Verhaftung durch die Polizei von Baltimore wurde Kevin Moore, ein Passant, der den Vorfall gefilmt hatte, von einem Journalisten interviewt. „Jede Nacht höre ich die Schreie“, erzählt Moore, und er gibt die letzten Worte Grays wieder: „‚Ich kann nicht atmen, ich brauche Hilfe, ich muss medizinisch versorgt werden’, das ist der Scheiß, der sich wieder und wieder in meinem Kopf abspielt.“29 Wenn wir erfahren, dass ein traumatisches Erlebnis einer uns nahestehenden Person widerfahren ist, kann es geschehen, dass solche Traumasymptome ihre zerstörerische Wirkung über die eigentlich betroffene Person hinaus entfalten.

Wie die afro-amerikanische Psychologin Monica Williams (2015) über Trauma aufgrund von Rassismus schrieb: „Wir werden fortwährend daran erinnert, dass ethnisch bedingte Gefahren immer und überall auf jeden von uns lauern können. Es kann sein, dass wir Berichte in den Abendnachrichten sehen, in denen unbewaffnete Afro-Amerikaner in den Straßen, in Verwahrungszellen oder sogar in der Kirche getötet werden. … Über Jahrhunderte hinweg hat die Gemeinschaft der Schwarzen ein kulturelles Wissen über diese Art schrecklicher Vorkommnisse entwickelt, was uns wiederum für Traumatisierungen prädestiniert, wenn wir von einer erneuten Gewalttat dieser Art hören.“

In manchen Fällen entwickelt sich posttraumatischer Stress in eine PTBS weiter, eine Diagnose, die sich auf eine bestimmte Ansammlung von Symptomen bezieht und mindestens einen Monat über den Zeitpunkt des traumatischen Erlebnisses hinaus anhält.30 Dies beinhaltet fortlaufendes Wiedererleben des traumatischen Vorfalls (oder der Vorfälle), das Meiden von Triggern, die Erinnerungen hervorrufen können, das Erleben negativer Zustände und Stimmungen (zum Beispiel Anspannung und Reizbarkeit), Probleme mit Erregungszuständen (Hypervigilanz, Konzentrations- und Schlafprobleme). Studien schätzen, dass ca. acht bis 20 Prozent der Traumaüberlebenden PTBS entwickeln31, obwohl Menschen an PTBS-Symptomen leiden können, ohne die Kriterien für PTBS zu erfüllen. „PTBS ist eine gesamtkörperliche Tragödie“, schrieb die Sozialarbeiterin Susan Pease Banitt, „ein einschneidendes menschliches Ereignis größten Ausmaßes mit schwerwiegenden Auswirkungen“. (2012, S. xix)

Beim Entwickeln traumasensitiver Achtsamkeit ist es daher nützlich, sich der Abstufungen innerhalb des Traumaspektrums bewusst zu sein – von Stress über traumatischen und posttraumatischen Stress bis hin zu PTBS. Aber für die meisten von uns wird die Aufgabe nicht darin bestehen, Diagnosen zu stellen. Stattdessen wird sie sich primär in den vier Bereichen bewegen, die ich in der Einleitung beschrieben habe: Die allgegenwärtigen Auswirkungen von Trauma wahrnehmen. Die Symptome erkennen. Angemessen auf diese Symptome reagieren. All dies in der Absicht, Retraumatisierung zu verhindern. Unser Augenmerk liegt nicht darauf, ob die Erfahrungen einer Person mit der DSM-5-Definition übereinstimmt. Traumasensitive Achtsamkeit befasst sich in dieser Hinsicht viel eher mit den übergreifenden seelischen Auswirkungen traumatischer Vorkommnisse, die PTBS beinhalten, sich aber nicht darauf beschränken.32

DAS KONZEPT DER INTEGRATION

Vielleicht fragen Sie sich: Wie ist es mit anderen Formen von intensivem Stress? Wie sieht es etwa mit emotionalem Missbrauch oder Hate Speech aus? Werden sie als traumatisch betrachtet? 33

Diese Fragen bringen uns zur Integration, einem zentralen Konzept für das Verständnis von Trauma. Während die meisten von uns eine natürliche Neugier darauf verspüren werden, was ein traumatisches Erlebnis eigentlich beinhaltet, können wir Trauma präziser definieren, wenn man sich die individuelle Reaktion genauer ansieht – genauer gesagt, ob der/die Betroffene die Erfahrung integrieren konnte oder nicht. Wie Pat Ogden in ihrem Buch Sensorimotor Psychotherapy: Interventions for Trauma and Attachment schreibt: „Trauma bezieht sich auf jede gefährliche, überfordernde Erfahrung, die wir nicht integrieren können. … Nach einer solchen Erfahrung finden wir uns oft mit einem verminderten Sicherheitsgefühl im Umgang mit anderen und in der Welt wieder und dem Gefühl, in unserer eigenen Haut nicht sicher zu sein.“ (2015, S. 66)

Ein Eintopf ist ein einfaches Beispiel für Integration. Wenn wir eine Reihe verschiedener Zutaten zurechtschneiden – Gemüse, Huhn, Kräuter –, und diese zur Brühe hinzugeben, verbinden sie sich zu einem harmonischen Ganzen. Eine technischere Definition bietet Daniel Siegel, Professor für Psychiatrie an der University of California in Los Angeles (UCLA), der über die Neurologie von Achtsamkeit und Trauma geschrieben hat. Siegel beschreibt Integration als „die differenzierten Elemente eines Systems“. (2011, S. 64)34 Um die Eintopf-Metapher wieder aufzugreifen: die differenzierten Elemente sind die verschiedenen Zutaten, die in dem größeren System verbunden werden – in diesem Fall dem Eintopf.

Integration geschieht in einer Vielzahl von Systemen. In unserem Körper passiert sie, wenn unsere linke und rechte Gehirnhälfte kommunizieren oder Parallelen zwischen Gedanken und körperlichen Sinneswahrnehmungen gezogen werden.

In Beziehungen geschieht Integration, wenn wir an einem Gespräch teilnehmen und dabei mit uns selbst verbunden bleiben, während wir uns auf unser Gegenüber einstellen. In einem größeren System, wie zum Beispiel dem Gesundheitssystem, werden die medizinischen Fähigkeiten der darin Tätigen und eine Vielzahl verschiedenster Technologien integriert, um dem Patienten die bestmögliche Versorgung zu bieten. Integration erfolgt in großen und in kleinen Systemen.

Posttraumatischer Stress jedoch schafft .Desintegration. Gedanken, Erinnerungen und Emotionen werden von unseren Erlebnissen abgetrennt oder fluten kontinuierlich unser Bewusstseinsfeld. Es kann passieren, dass wir uns außer Balance oder unfähig fühlen, unseren Sinnen zu vertrauen. Unser Körper reagiert mit Alarmbereitschaft, obwohl die Menschen in unserer Nähe uns zu beruhigen versuchen. Die Verbindung von Geist und Körper ist beeinträchtigt – manchmal sogar durchtrennt.

Erinnern wir uns zum Beispiel an RJ. Er war nicht in der Lage, das Trauma über den Verlust seiner Schwester zu integrieren. Seine Gedanken und Emotionen wurden unberechenbar und chaotisch, was ihn von sich selbst und anderen entfernte. Jederzeit und ohne Vorwarnung konnten Bilder von Michelle in sein Bewusstsein vordringen. Brock Turners Opfer beschrieb ebenfalls die desintegrierende Wirkung des Traumas: „Ich versuchte [den Übergriff] aus meinem Kopf zu verdrängen“, sagte sie bei der Gerichtsverhandlung, „aber er wog so schwer, dass ich nicht sprach, nicht aß, nicht schlief, dass ich niemanden aushalten konnte … ich isolierte mich von den Menschen, die ich am meisten liebe.“ Und wie sie, an Turner gewandt, weiter berichtete: „Ich verschloss mich, war wütend, wertete mich selbst ab, war müde, reizbar, leer. … Du hast mir ein Ticket zu einem Planeten verpasst, auf dem ich alleine leben musste.“

Integration ist ein starkes Rahmenwerk innerhalb traumasensitiver Praxis. Statt zu ermitteln, ob ein Schüler oder Klient unter PTBS leidet, können wir uns fragen: Hadert diese Person mit einer traumatischen Erfahrung, die sie nicht integrieren konnte? Wichtiger noch ist die Frage: Hilft Achtsamkeit dabei, das Leid zu vermindern oder verschlimmert sie es? Integration macht deutlich, dass es eine klare Grenze gibt zwischen Erlebnissen, die wir verarbeiten können, und solchen, die uns dies unmöglich machen.35

Integration öffnet uns die Tür zu Erlebnissen, die außerhalb der DSM-5-Definition von Trauma liegen. Dies trifft besonders auf Unterdrückung zu. Wenn man Rassismus, Homophobie oder Armut ausgesetzt ist, zeigt man möglicherweise keine Symptome von posttraumatischem Stress, die den Kriterien einer PTBS-Diagnose entsprechen; nichtsdestotrotz können all diese Erfahrungen traumatische Auswirkungen haben.

Monica Williams hat als Teil ihrer Forschung an der University of Connecticut herausgefunden, dass sogenannte Mikroaggressionen – subtile und weitverbreitete diskriminierende Handlungen – sich bei den Betroffenen anstauen und in traumatischen Symptomen resultieren können.36 Obwohl Trauma oft mit Krieg und sexueller Gewalt assoziiert wird, ist nicht zu leugnen, dass Unterdrückung eine große Relevanz in Bezug auf traumatischen Stress besitzt.

Ich werde mich dem Konzept der Integration am Ende des Kapitels noch einmal widmen, aber bevor wir weiter voranschreiten, möchte ich mich einigen Statistiken zuwenden. Wie oft geschieht Trauma? Und wem widerfährt es? Um trauma-kundig zu sein, sollte man Antworten auf diese Fragen haben.

DIE VERBREITUNG VON TRAUMA

Vor einigen Jahren nahm ich an „Step in/Step out“ teil, einer Anti-Unterdrückungsübung, die geschaffen wurde, um einem die Augen für die Allgegenwart von Trauma und Unterdrückung zu öffnen. Man stand mit 30 Teilnehmern in einem Kreis, während ein Moderator eine Liste mit bestimmten Arten von Leid vorlas. Falls eine Äußerung auf uns zutraf und wir uns gut damit fühlten, diese anderen mitzuteilen, traten wir einen Schritt in den Kreis hinein. Wenn sie nicht auf uns zutraf, blieben wir stehen und ließen die anderen, die in den Kreis hineingetreten waren, nach einigen Momenten der Stille wieder heraustreten.

Ich kann mich an den Klang der Zikaden erinnern, der durch das offene Fenster zu uns drang, während wir im Kreis standen. „Tritt in den Kreis, wenn du Zeuge von Gewalt geworden bist“, begann unser Moderator. Eine überraschende Mehrheit von uns trat einen Schritt nach vorne. Jeder pausierte in der Mitte, hielt inne, um sich die Gesichter der anderen einzuprägen und trat wieder heraus. „Tritt ein“, fuhr der Moderator fort, „wenn du oder eines deiner Familienmitglieder emotional oder physisch misshandelt worden ist, … wenn du oder jemand, den du kennst, Inzest erlebt hat.“ Mit jeder Frage schoben sich unsere Füße in den Kreis und wieder heraus. Wir wurden gebeten, zu fühlen – nicht nur mit dem Verstand wahrzunehmen –, was uns unsere Antworten gegenseitig offenbarten.

Am Ende der Übung hing eine schwere Stille in der Luft. Bis auf einen kannten wir alle jemanden, der vergewaltigt worden war. Fast zwei Drittel von uns kannten jemanden, der Suizid begangen hatte. Die Gesichter im Kreis offenbarten eine Mischung aus Schock, Wut, Traurigkeit und Scham. Wir hatten keine Details preisgegeben, aber wir hatten Erfahrungen geteilt, die viele von uns versteckt und außer Sicht gehalten hatten. Ich hatte bis dahin gedacht, ich sei jemand, der mit Trauma vertraut war, aber die Übung verunsicherte mich. Einige der Teilnehmer kannte ich seit Jahren und hatte dennoch offensichtlich keine Vorstellung davon gehabt, was sie durchgemacht hatten oder wovon sie Zeuge geworden waren. Für den Rest des Tages sah ich diese Menschen in einem anderen Licht. Ich hatte vergessen, dass Trauma oftmals unter der Oberfläche unseres Lebens angesiedelt ist.

Der Psychiater Mark Epstein sprach darüber, indem er Trauma als „einen unauslöschlichen Aspekt des Lebens“ (2013, S. 3) beschrieb. Ein Blick auf die Statistiken unterstreicht diese Aussage: Geschätzte 90 Prozent der Weltbevölkerung werden im Verlauf ihres Lebens einem traumatischen Ereignis ausgesetzt sein.37 In den Vereinigten Staaten wird eines von vier Kindern körperliche Misshandlung erleben, und eines von fünf wird sexuell belästigt werden.38 Bessel van der Kolk (2014, deutsch 2015), einer der führenden Experten im Bereich der Traumaforschung, argumentiert, dass die aus einem Trauma resultierenden Auswirkungen eines der für die Allgemeinheit größten Gesundheitsrisiken unserer Zeit darstellt. Epstein behauptet, dass Trauma die Grundlage der Psychologie ist.

Trauma kann uns schonungslos vor Augen führen, wie verletzlich wir sind. Verkehrsunfälle, Stürze und Ertrinken machen 45 Prozent der tödlichen Verletzungen aus, wobei Verkehrsunfälle jedes Jahr die weltweit häufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen sind.39 Allein in den Vereinigten Staaten werden jährlich 40 Millionen Menschen mit ernsthaften Verletzungen in die Notaufnahme eingeliefert, von denen wiederum zwei Millionen auf der Intensivstation landen.40 Ob Erdbeben oder alltägliche Unfälle, wir sind in vielerlei Hinsicht empfänglich für Trauma – besonders dann, wenn unsere materiellen Lebensumstände prekär sind.

Zwischenmenschliche Gewalt ist eine weitere wesentliche Ursache für Trauma. Zehn Millionen Amerikaner werden jährlich von einem Intimpartner physisch misshandelt41, und alle zwei Minuten findet in den USA ein sexueller Übergriff statt 42. An einem normalen Tag gehen bei den nationalen Telefonberatungsstellen für häusliche Gewalt über 20 000 Anrufe ein 43, und die Opfer häuslicher Gewalt verlieren insgesamt über acht Millionen bezahlte Arbeitstage pro Jahr 44. Während sich die Medien, wenn sie von Trauma sprechen, vor allem auf vom Krieg heimkehrende Soldaten konzentrieren, ist es für eine trauma-bedachte Praxis unabdingbar, sich das Ausmaß des trauma-bedingten Leides in der Gesamtbevölkerung bewusst zu machen. 45

WER ERLEBT TRAUMA?

Lassen Sie uns für einen Moment zu Freddie Gray zurückkehren, dem jungen Afro-Amerikaner, dessen Genick im Polizeigewahrsam der Polizei von Baltimore gebrochen wurde. In den Tagen und Wochen, die Grays Tod folgten, war es unmöglich, keine Parallelen zu ähnlichen Fällen zu ziehen. In jenem Sommer tauchten monatlich, manchmal sogar wöchentlich, neue Videos auf, die einem bewusst machten, wie unverhältnismäßig hoch das Risiko war, dass Schwarze durch die amerikanische Polizei verletzt oder sogar getötet wurden. Ein Beispiel war Eric Garner, ein 43-jähriger Afro-Amerikaner, der nach einem Zwischenfall mit der New Yorker Polizei starb. In einem Video, das mit einem Mobiltelefon von Garners Freund aufgenommen worden war, konnte man einen Zivilpolizisten sehen, der versuchte, Garner wegen des Verkaufs einzelner Zigaretten zu verhaften. „Jedes Mal, wenn ihr mich seht“, hört man Garner sagen, „ versucht ihr euch mit mir anzulegen. … Jedes Mal, wenn ihr mich seht, wollt ihr mich schikanieren.“46 Nachdem der Polizist ohne Erfolg versucht hatte, Garner Handschellen anzulegen, nahm er ihn in den Würgegriff und drückte schließlich sein Gesicht auf den Bürgersteig. „Ich bekomme keine Luft“, konnte man Garner einige Male sagen hören, bevor er das Bewusstsein verlor und auf dem Weg ins Krankenhaus starb.

Vorfälle wie dieser erinnern uns daran, dass der soziale Kontext ein Schlüsselfaktor ist, wenn es darum geht, wie stark man Stress und Gewalt ausgesetzt ist.47 Die Centers for Disease Control and Prevention berichten, dass bei schwarzen Menschen die Wahrscheinlichkeit viermal höher ist als bei weißen, bei einem Aufeinandertreffen mit Vollzugsbeamten ums Leben zu kommen.48 Während die Erfahrung von Polizeigewalt nur ein einzelnes Bespiel für Trauma ist, reflektiert sie doch ein weiterreichendes Muster von Gewalt in der Gesellschaft, die sich gezielt gegen bestimmte Gruppen von Menschen richtet. Schenkt man Garners Worten Glauben, so war er wohl wiederholt Ziel unerwünschter und ungerechtfertigter Aufmerksamkeit durch die Polizei.49

Ein zentraler Teil trauma-bedachter Arbeit besteht darin, den sozialen Kontext von Trauma zu verstehen. Einerseits kann man natürlich Statistiken zitieren, aber es ist etwas völlig anderes, ein Verständnis dafür zu entwickeln, in welchem Ausmaß unterdrückende Systeme die menschliche Erfahrung von Not beeinflussen. Einige von Ihnen mögen über Wissen aus erster Hand verfügen, durch Lebenserfahrung oder Studium. Andere – und da schließe ich mich mit ein – sind von Unterdrückung eher verschont geblieben. Uns wurden unverdiente Privilegien mit auf den Weg gegeben, die verhindern, dass wir die Auswirkungen von Unterdrückung und systemischem Trauma sehen und anerkennen. Wir wurden dahingehend konditioniert, Trauma als eine individuelle Tragödie zu sehen, statt es als etwas zu betrachten, das mit den größeren, dominierenden Systemen, die unsere Welt gestalten, eng verknüpft ist. Wir alle müssen uns über die Auswirkungen von Trauma weiterbilden, wobei diejenigen mit mehr Privilegien stärker in der Pflicht stehen.

Unsere Erfahrung von Naturkatastophen ist ebenfalls durch unseren sozialen Kontext geprägt. Ein schmerzhaftes Bespiel war die schreckliche Überflutung von New Orleans durch den Hurrikan Katrina. Die je nach ethnischer Zugehörigkeit unterschiedliche Erfahrung der Traumaüberlebenden war nicht zu leugnen: Afro-amerikanische Menschen, die vor der Flut geflüchtet waren, einige von ihnen in Rollstühlen oder mit Babys auf dem Arm, wurden von einer über ihre Köpfen feuernden Polizei wieder in die verseuchten Hochwassergebiete zurückgeschickt, um zu verhindern, dass sie sich in Gretna, einem mehrheitlich weißen Vorort, in Sicherheit bringen konnten. Sogar unsere Erfahrungen mit dem Wettergeschehen finden nicht im luftleeren Raum statt. Dies zu realisieren, hat nichts mit politischer Korrektheit zu tun. Es ist ein Weg, um Vertrauen, Sicherheit und Verantwortlichkeit über unsere verschiedenen Realitäten hinweg aufzubauen. Ohne diese Einsicht leben wir wortwörtlich in unterschiedlichen Welten und können keine Brücken zwischen unseren Realitäten schlagen.

Die Bedeutung des sozialen Kontextes wird besonders bei zwischenmenschlichem Trauma deutlich.50 Wenn Sie in den Vereinigten Staaten eine Frau sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von Ihrem Intimpartner gestalkt werden, viermal höher als bei einem Mann51, und die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine versuchte Vergewaltigung erleben, ist 14-mal höher52. Dieses Risiko erhöht sich für Frauen, die arm oder nicht-weißer Hautfarbe sind.53 Wenn Sie ein transsexueller Mann sind, ist die Wahrscheinlichkeit, sexuelle Gewalt erleben zu müssen, zehnmal höher als bei cisgender Männern, Männern also, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.54 Und wenn Sie mit einer Behinderung auf die Welt gekommen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt zu werden, bei 80 Prozent. 40 Prozent der Menschen mit Behinderung erleben im Laufe ihres Lebens mehr als zehn Vorfälle sexuellen Missbrauchs.55

Rassismus erweitert Trauma um eine weitere Dimension. Amerikanische Ureinwohner leben mit einer zweimal höheren Wahrscheinlichkeit als jede andere Gruppe, Vergewaltigung oder sexuelle Übergriffe erleben zu müssen.56 Afro- und Hispano-Amerikaner sind nachweislich einer höheren Rate an Trauma ausgesetzt als Weiße57, wobei Faktoren wie Rassismus zu dieser Ungleichheit beitragen.58 Schichtzugehörigkeit und Einkommen haben ebenfalls Einfluss darauf, wie sehr wir Trauma ausgesetzt sind: In einem 2014 veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation wird beschrieben, dass „Menschen mit schwächerem ökonomischem Hintergrund höhere Todesraten durch lebensgefährliche und nicht-lebensgefährliche Verletzungen haben als wohlhabende Menschen“.59 Forscher haben diese Diskrepanz verschiedenen Faktoren zugeschrieben, unter anderem der Tatsache, dass Menschen mit geringen Einkommen gezwungen sind, unsichere Arbeitsverhältnisse aufzunehmen, weniger Zugang zu Notfallversorgung haben und sich in weiten Teilen der Welt die Kosten für Rehabilitation und den Verlust ihrer Einkünfte nicht leisten können.

Was ich versucht habe, hier klarzumachen, ist, dass Trauma sowohl weitverbreitet als auch politisch ist. Wir leben innerhalb sozialer und ökonomischer Strukturen, die einerseits entworfen wurden, um Respekt, Sicherheit und Perspektiven für einige Gruppen zu schaffen und gleichzeitig andere systematisch vernachlässigen. Dies ist ein „Power over“-Modell, das das Leben und die Perspektiven jedes Einzelnen von uns prägt, selbst wenn wir altruistisch gesinnt sind. Um traumasensitiv arbeiten zu können, muss jeder von uns sich innerlich und äußerlich dafür engagieren, sich dieser verschiedenen Systeme bewusst zu werden.

ZURÜCK INS KLASSENZIMMER

Lassen Sie uns zu RJ zurückkehren. Am Ende seiner Unterrichtsstunde kehrte RJ von der Toilette zurück, wo er versucht hatte, sich von seinen Flashbacks abzulenken. Als die Schüler den Klassenraum verließen, trat Marc, der Achtsamkeitslehrer, an RJ heran. Er fragte, ob RJ einige Minuten für ein Gespräch habe.

Mit dem Gefühl, dabei nichts verlieren zu können, öffnete sich RJ. Er sprach freimütig über den Tod seiner Schwester und auch über seine Erfahrungen während der Meditation. Marc war berührt, weil ihm nicht bewusst gewesen war, wie viel Schmerz RJ mit sich herumtrug. Er erzählte RJ, dass er selbst vor einigen Jahren ein Geschwister durch Krebs verloren hatte und dass ihm Achtsamkeit durch diese Phase geholfen hatte. Sie erlaubte ihm, mit seiner Trauer präsent zu sein, statt sie von sich wegzuschieben.

Nachdem er seine eigenen Erfahrungen mit RJ geteilt hatte, fragte Marc, ob RJ eine begleitete Meditation ausprobieren wolle. Er konnte nun verstehen, weshalb die Gruppenmeditation für ihn ein Trigger gewesen war und wollte RJ etwas anbieten, was ihm eine Hilfe dabei sein konnte, mit dem Schmerz umzugehen. RJ nickte, und Marc bat ihn, seine Augen zu schließen und zu berichten, was er wahrnahm. RJ sagte, er könne das Gesicht seiner Schwester sehen und dass er fühlen konnte, wie es ihm den Magen umdrehte. „Schau, ob du für diese beiden Empfindungen neugierig bleiben kannst“, sagte Marc. „Versuche sie mit Wohlwollen zu untersuchen und versuche zu atmen und dich zu entspannen.“

Nach einigen Minuten öffnete RJ abrupt die Augen. Er verspürte große Angst und sagte dies Marc. „Natürlich“, entgegnete Marc empathisch. „Es ist gut, dass du das bemerken kannst. Schau, ob du es zulassen kannst, dass die Angst da ist, ohne sie zu werten.“

RJ schloss seine Augen, aber eine Minute später öffnete er sie wieder. Wenn er der Angst Aufmerksamkeit schenkte, schien sie zu wachsen und drohte ihn zu übermannen. Es war zu viel, um es aushalten zu können.

Er sah Marc an und sank voll Scham in sich zusammen. Er konnte nicht einmal dann meditieren, wenn ihm jemand dabei half. Er fühlte sich hilflos und am Boden zerstört. „Entschuldigung“, murmelte er und griff nach seiner Tasche.

Marc sprang auf, bevor RJ den Raum verlassen konnte. Er versicherte ihm, dass es mit der Zeit einfacher werden würde. Er sei da, um ihn zu unterstützen, was auch immer er brauche.

RJ hielt die Augen gesenkt und dankte Marc. Vor allem wollte er jetzt allein sein. Vor dem Klassenzimmer zog er seine Kopfhörer heraus. Obwohl es ihn schmerzte, hatte er sie behalten, um sich durch sie an seine Schwester erinnern zu können.

HÜRDEN BEI DER INTEGRATION

Erinnern wir uns: Wir können uns die Nachwirkungen von Trauma auf zweierlei Weise betrachten: Durch das Spektrum diagnostischer Beschreibungen oder durch die Linse der Integration. Lassen Sie uns für einen Moment zur Integration zurückkehren. Wieso stecken manche Menschen in traumatischen Symptomen fest, während andere in der Lage sind, das traumatische Erlebnis zu integrieren?

Dies ist die Eine-Million-Dollar-Frage, wenn es um Trauma geht. Wenn wir eine klare Antwort hätten, wären wir sehr viel erfolgreicher darin, Menschen mit PTBS bei der Heilung zu helfen.

In Kapitel 4 werde ich darauf eingehen, wie sich Trauma auf das Gehirn und den Körper auswirkt und auf welche Weise uns die Neurophysiologie zu wichtigen Erkenntnissen für die Integration verhilft. Jetzt aber möchte ich zwei Faktoren ansprechen, die für traumasensitive Achtsamkeit unmittelbar relevant sind.

Der erste ist Angst. Trauma kann dazu führen, dass uns unsere inneren Erfahrungen in Angst und Schrecken versetzen. Traumatische Erlebnisse bestehen bei den Traumaüberlebenden in Form von erstarrten Empfindungen und Emotionen fort. Verständlicherweise ängstigen sich Traumaüberlebende davor, diese Empfindungen erneut zu haben. Van der Kolk beschrieb dies folgendermaßen:

Traumatisierte … fühlen sich innerlich nicht sicher – ihr eigener Körper ist für sie zur Zeitbombe geworden. Für sie ist es nicht in Ordnung, sich so zu fühlen, wie sie sich fühlen, und zu wissen, was sie wissen, weil ihr Körper für sie zum Hort von Schrecken und Entsetzen geworden ist. Der zunächst äußere Feind hat sich in einen inneren Schrecken verwandelt. (Emerson & Hopper, 2012, S. 19)

Dies ist eine der eindringlichsten und tiefgreifendsten Belastungen von Trauma: gezwungen zu sein, fortwährend diese quälenden – oftmals verängstigenden – Empfindungen, die in einem weiterleben, aushalten zu müssen.

Stellen Sie sich also vor, was es daher für einen Traumaüberlebenden bedeutet, wenn man ihn bittet, seinen inneren Erfahrungen achtsame Aufmerksamkeit zu schenken. Sehr wahrscheinlich wird er sich mit nicht integrierten Überresten des Traumas konfrontiert sehen: Gefühle des Schreckens, der Hilflosigkeit und verstörende Erinnerungen und Bilder. Dies ist nicht automatisch eine schädigende Erfahrung, aber es kann ihn schnell überfordern. Traumaüberlebende haben aus gutem Grund Angst vor ihren inneren Erfahrungen. Selbst mit den besten Absichten können wir Achtsamkeitspraktiker nicht sicherstellen, dass Menschen sich erfolgreich durch ihr inneres Minenfeld hindurch navigieren.

Nehmen wir Marc, RJs Achtsamkeitslehrer. Achtsamkeit hatte ihm dabei geholfen, über den Krebstod seines Geschwisters hinwegzukommen, und es ist nachvollziehbar, dass er seine Verlusterfahrung auf RJs übertrug. RJ jedoch erlebte posttraumatischen Stress. Die Flashbacks, die Übelkeit und das Bedürfnis zu fliehen waren Anhaltspunkte dafür. Als ein Achtsamkeitslehrer, dem ein tieferes Verständnis von Trauma fehlte, war Marc nicht in der Lage, diese Symptome richtig zu erkennen oder ihnen effektiv zu begegnen. RJ hatte Angst vor dem, was da in ihm lebte und brauchte mehr, als Marc ihm bieten konnte. Einfach nur achtsam zu sein – sowohl seiner Angst als auch seinen Flashbacks gegenüber – intensivierte nur RJs Leid.

Eine zweite Hürde bei der Integration ist Scham. Verbunden mit Demütigung, Demoralisierung und Reue, ist Scham eine komplexe und lähmende Emotion, die häufig mit traumatischem Stress einhergeht. Ein Mensch, der sexuell missbraucht wurde, wirft sich möglicherweise vor, sich nicht genug gewehrt zu haben – obwohl er vielleicht weiß, dass dies die Sache noch schlimmer gemacht hätte. Ein Soldat, der beim Schusswechsel im Kampf erstarrt, wird von den anderen abschätzig behandelt und mag das Gefühl haben, voller Fehler zu sein. Jemand, der unter Diskriminierung zu leiden hat, kann diese Form der Unterdrückung internalisieren und anfangen, sich mangelhaft und wertlos zu fühlen. Scham ist eine starke und lähmende Kraft.

RJ empfand Scham in zweierlei Form. Erstens machte er sich selbst für den Tod seiner Schwester verantwortlich. Ständig hatte er „Was, wenn …“-Gedanken über Michelles Unfall und konnte sich selbst nicht vergeben, ihr seine Kopfhörer geliehen zu haben. Die Verantwortungslosigkeit, die er sich selbst zuschrieb, verursachte Schuldgefühle und ekelte ihn an. Ebenso schämte RJ sich für seine Meditationspraxis; er empfand es als demütigend, dass er Marcs einfache Anleitung nicht befolgen konnte. Nichts in seinem Leben funktionierte, und er fühlte sich schwach und hoffnungslos. All diese Gefühle waren Hindernisse auf dem Weg zur Integration.

In Anbetracht seiner Schamgefühle benötigte RJ mehr als eine angeleitete Meditation. Er brauchte Bindung. Wie ich in Kapitel 8 ausführen werde, erholen und entfalten sich Traumaüberlebende häufig durch die Verbindung mit anderen. Obwohl Bindung kein Allheilmittel ist, kann sie – unter den richtigen Umständen – dabei helfen, Sicherheit und Vertrauen wieder aufzubauen. In dem abgesteckten Raum einer sicheren Beziehung können wir angemessen mit Scham und Vergebung arbeiten. Marcs Empathie war in gewisser Weise konstruktiv, aber Traumaüberlebende brauchen jemanden, der ihnen eine enge und beständige Führung geben kann – jemanden, der darin geschult ist, Trauma zu erfassen. Traumaüberlebenden dabei zu helfen, achtsam mit ihrer Scham umzugehen, reicht oftmals nicht aus.

Es ist wichtig für traumasensitive Praktiker, die Angst und Scham, die Traumaüberlebende empfinden, zu respektieren. Auch wenn es verlockend sein kann, ein Trauma schlicht für eine intensive negative Emotion zu halten, ist es tatsächlich eine Form von Stress, die die Betroffenen außer Gefecht setzt. Es umfasst Überlebensreaktionen, die mit den tiefsten Aspekten unserer Psycho-Biologie korrespondieren. Ein leichtfertiger Umgang mit Trauma kann das Gefühl von Sicherheit und Stabilität gefährden. Daher ist es unsere Aufgabe, so gut wie möglich zu verstehen, welche Rolle Achtsamkeit dabei spielt. Dies öffnet uns die Tür, um Traumata erkennen, effektiv darauf zu reagieren und eine Retraumatisierung zu vermeiden – mit anderen Worten, Achtsamkeit auf eine traumasensitive Art anzubieten.

Traumasensitive Achtsamkeit

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