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Ardarea, zwei Jahre nach Theroias Untergang

Wer ein Held werden will, muss im richtigen Moment sterben. Den hab ich wohl verpasst. Athanor lächelte sarkastisch.

Verwirrt wich der Elf, der ihn so finster angestarrt hatte, seinem Blick aus und ging rasch an ihm vorbei. Er kannte ihn nicht. Vermutlich war der Kerl nicht einmal aus Ardarea, doch umso mehr ärgerte Athanor die Feindseligkeit. Behandelte man so den Retter, der die Elfenlande vor der Vernichtung bewahrt hatte? Nur weil er ein Mensch war?

Wenn das so weiterging, konnte ihm das Fest der Heiligen Acht gestohlen bleiben – auch wenn ihn Elanya wieder mit ihren großen, grünen Elfenaugen ansah. Aber wäre das nicht Feigheit? Er hatte doch nicht ein Trollheer in die Schlacht geführt, um jetzt vor ein paar überheblichen Elfen zu kneifen. Aus allen Himmelsrichtungen wurden Gäste für diese Feier erwartet, mit der die Abkömmlinge Ardas alle acht Jahre ihre Ahnfrau ehrten. Seit Tagen lag Vorfreude in der Luft. Kinder halfen eifrig dabei, Blumen für Girlanden und Gestecke zu sammeln. Erwachsene schleppten heran, was die Gärten für das Festmahl hergaben. Aus einigen Häusern wehte bereits der Duft süßen Gebäcks, und auf allen Gesichtern lag ein Lächeln – bis Athanor vorüberging.

Nicht alle Elfen hassten ihn. Vereinzelt rief ihm sogar jemand einen fröhlichen Gruß zu. Doch die meisten erwiderten seinen Blick mit versteinerter Miene oder wandten sich wie zufällig ab. Sie wussten genau, was sie ihm verdankten, aber es war ihnen so angenehm wie ein Splitter im Hintern.

»Soll ich euch was sagen?«, herrschte er im Vorübergehen eine Gruppe Fremder an, die ihn misstrauisch beäugte. »Ich hab’s nicht mal für euch getan!«

Beunruhigt wichen die Elfen in ihren von der Reise staubigen Umhängen zurück.

»Es war für die Trolle«, murmelte er. »Und für mich.«

Er hielt auf das kleine runde Haus am Waldrand zu, das die Elfen seinem Freund Vindur geschenkt hatten. Während die Dächer aller anderen Gebäude in Ardarea von den silbrigen Kronen besonderer Bäume gebildet wurden, war dieses mit Ziegeln gedeckt, damit sich Vindur nicht wie unter freiem Himmel fühlte. Athanor fand, dass es aussah, als rage das oberste Stockwerk eines Turms aus dem Boden. Die Elfen liebten nun einmal Häuser ohne dunkle Ecken und harte Kanten.

Wir haben heute wohl wieder einen schlechten Tag, folgerte er, als er die geschlossenen Fensterläden sah. Auch das war ein Zugeständnis an Vindurs lächerliche Ängste. Wenn Elfen zu viel Wind oder Regen durch die Fenster wehte, setzten sie raffiniert gefertigte Gitter in die leeren Rahmen.

Etwas zu laut klopfte Athanor an die mit Schnitzereien verzierte Tür.

»Komm rein!«, rief Vindur. »Es ist offen.«

Immerhin etwas. Manchmal hatte die Angst den Zwerg so fest im Griff, dass er von innen den Riegel zuschob. Athanor öffnete die Tür und trat in das Halbdunkel dahinter. Außer der Flamme einer Öllampe spendete nur die Glut in der Feuerstelle etwas Licht. Die Luft war schwer von Rauch und einem süßlichen Geruch.

»Ist das etwa Malz?«, fragte Athanor.

Vindur tauchte aus den Schatten seiner Behausung auf und grinste stolz. Obwohl das schwache Licht seinen Narben schmeichelte, wirkten sie, als habe sein Gesicht einst angefangen zu schmelzen und sei dann wieder erstarrt. Auch der blonde Bart hatte unter den Verbrennungen gelitten und war zu schütter nachgewachsen, um viele Narben zu verdecken. »Malz aus echter Gerste! Weißt du, wie lange ich kein solches Bier mehr getrunken habe?«

»Seit die Händler ausblieben?«

Vindur nickte und rührte in dem Kessel, in dem er das Getreide röstete. »Ohne Menschen keine Gerste. Und kein Brot. Das habe ich den Drachen am meisten verübelt.«

Athanor schnaubte. »Brot ist also alles, was den Zwergen von uns im Gedächtnis bleiben wird.«

»Nun ja …« Vindur warf ihm einen schuldbewussten Blick zu. Aber was konnte der Zwerg dafür, dass die Drachen die Menschheit ausgelöscht hatten? Daran hatte er selbst deutlich größeren Anteil. Und hätten sich die Drachen nicht am Ende gegen Theroia gewandt, wäre er wohl niemals einem Zwerg begegnet.

»Willst du von meinem neuesten Versuch kosten? Ich glaube, ich habe endlich den richtigen Pilz für die Gärung gefunden.« Bevor Athanor antworten konnte, verschwand Vindur wieder in den Schatten und kehrte mit zwei tropfenden Krügen zurück.

Einen reichte er Athanor, der ihn zögernd annahm. Sosehr es ihn erleichterte, dass der Zwerg endlich eine erfüllende Beschäftigung gefunden hatte, so abschreckend lag ihm der Geschmack der bisherigen Brauversuche noch auf der Zunge.

»Das ist gut! Glaub mir!«, beteuerte Vindur und hob theatralisch die kaum noch vorhandenen Augenbrauen, während er einen tiefen Schluck nahm.

Was soll’s. Schlimmer als beim letzten Mal kann es nicht sein. Athanor nahm einen kräftigen Zug. Unter der zähen Schaumkrone verbarg sich ein überraschend gutes Bier.

»Na?«, bohrte Vindur.

»Etwas zu hefig, aber nicht übel.«

»Wie bitte? Nicht übel?« Der Zwerg schwenkte drohend seinen Krug. »Setz dich, du Banause! Zur Strafe wirst du den ganzen Bottich mit mir leeren.«

»Es gibt Schlimmeres als die Gesellschaft eines heimwehkranken Zwergs.« Athanor setzte sich auf die steinerne Bank, die nach elfischem Geschmack im Halbkreis die Feuerstelle umgab.

»Noch schlimmer?«, fragte Vindur mit gespieltem Entsetzen.

»Allerdings.« Athanor nahm einen weiteren Schluck, um den Gedanken an die Elfen zu vertreiben, doch es half nichts.

Vindur schob den Bottich heran, in dem das schaumige Gesöff schwappte, und setzte sich neben ihn. Gemeinsam starrten sie in die schwelende Glut unter dem Malzkessel und leerten die Krüge, die Vindur sogleich wieder füllte.

»Ist dir eigentlich schon aufgefallen, wie viel wir gemeinsam haben?«, fragte Athanor nach einer Weile. Sofort musste er schmunzeln. Der Zwerg reichte ihm nur bis zur Brust, hatte viel helleres Haar und ein entstelltes Gesicht.

»Du meinst, weil wir beide Prinzen ohne Reich und heimatlos sind?«

»Ich dachte eher daran, dass wir beide noch leben, obwohl wir besser gestorben wären.«

Vindur sah ihn zweifelnd an. »Auf mich trifft das ganz sicher zu.« Sein Volk hatte ihn verstoßen, weil er nicht mit seinem Schildbruder im Feuer gestorben war, wie es ihr Eid verlangte. Anstatt ihn für den Sieg über den untoten Drachen zu feiern, hatten sie ihn schwer verwundet bei den Elfen zurückgelassen. Die Ungerechtigkeit empörte Athanor noch immer.

»Aber du?« Vindur schüttelte den Kopf. »Du magst dein Volk verloren haben, aber immerhin hast du das Herz einer Elfe erobert.«

»Das ist wahr«, gab Athanor zu. Er hatte mehr, als sich sein Freund auch nur erträumen durfte. Wenn er mit Elanya allein war, vergaß er, dass er der letzte Mensch war und dieses Schicksal selbst über sich gebracht hatte. Dennoch … »Aber den anderen Elfen wäre es lieber, ich wäre gestorben. Dann könnten sie jetzt Heldenlieder über mich singen, ohne mich aus Dankbarkeit ertragen zu müssen.«

Der Zwerg brummte in seinen Bart, und für einen Moment schämte sich Athanor für sein Selbstmitleid. Er mochte ein nur widerwillig geduldeter Gast sein, aber wenn Vindur das Haus verließ – was er selten genug tat –, betrachteten die Elfen seine Narben mit schlecht verhohlener Abscheu.

Schweigend blickten sie erneut in die Glut.

Hol’s der Dunkle! »Sieh uns nur an! Wir haben ein Heer von Untoten und einen Drachen besiegt, und jetzt sitzen wir hier und blasen Trübsal, weil uns die hochnäsigen Elfen nicht zu Füßen liegen.«

Vindur lachte auf. »Du hast recht. Wer braucht schon Elfen? Selbst ist der Zwerg! Und der Mensch natürlich. Auf dich!« Er hob seinen Humpen und leerte ihn.

Athanor tat es ihm nach. Schöne Worte. Aber was bedeuteten sie? Es gelang ihm nie lange, die unterschwellige Feindseligkeit zu ignorieren. Früher oder später nagte sie doch wieder an seiner Laune – und an seinem Stolz. Hätte es Elanya nicht gegeben, wäre er längst weitergezogen. Doch wohin? Aus den Stollen der Zwerge war er für immer verbannt, weil er zwei Elfen dort eingeschmuggelt hatte. Und die Trolle hatten zu viel Hunger auf Menschenfleisch, um bei ihnen zu leben. Orkzahn, ihr Anführer, hatte ihn gewarnt. Dafür, dass er sie aus der Knechtschaft der Elfen befreit hatte, waren sie ihm in die Schlacht gegen die Untoten gefolgt. Mehr Dankbarkeit konnte er von ihnen nicht erwarten.

»Wie wäre es, wenn wir nach dem Fest in den Dienst der Grenzwache treten?«, schlug er vor. »Wir sind doch beide Krieger und langweilen uns hier nur.«

Vindur lächelte gequält. »Nun ja, das klingt sicher verlockend für dich. Ich habe die Herumsitzerei ja auch satt, aber …« Er richtete den Blick zur Decke empor, und schon bei der Vorstellung hinauszugehen, schlich sich ein ängstlicher Zug in seine Miene.

Athanor entfuhr ein Knurren. »Komm schon, Vindur, der Himmel wird dir nicht auf den Kopf fallen! Eher wirst du vom Blitz erschlagen.«

Um die Nase des Zwergs wurde die Haut noch ein wenig bleicher.

»Schon gut, das war nicht gerade das hilfreichste Beispiel. Aber du kannst dich nicht für den Rest deines Lebens hier vergraben.«

»Du hast gut reden. Du verstehst das nicht. Sobald ich kein Gestein um mich habe, kommt es mir vor, als müsste ich nackt gegen eine Horde Trolle kämpfen.«

»Damit würdest du ihnen nur das Schälen ersparen.«

Vindur prustete den Schluck wieder hervor, den er gerade genommen hatte. »Glaubst du, ein Zwerg ist nur eine Nuss für sie?«

»Gehen wir sie fragen! Hauptsache, wir müssen eine Weile keine Elfen sehen.«

»Baumeisters Bart! Du bist hartnäckiger als eine hulrat, die Futter riecht.«

»Heißt das, dass du mitkommst?«

»Zu den Trollen? Ich bin vielleicht trübsinnig, aber nicht lebensmüde.«

»Nicht zu den Trollen, zur Grenzwache!«

Wieder stahl sich die Furcht in Vindurs Blick. »Können wir uns nicht erst einmal auf einen kürzeren Ausflug einigen? Lass uns ein paar Tage jagen gehen.«

»Also gut. Wildschweine.« Sich mit einem wütenden Keiler zu messen, versprach immerhin Abwechslung.

Der Zwerg atmete erleichtert auf.

»Ich nehme dich beim Wort, Vindur. Keine Ausflüchte! Sobald dieses Fest vorbei ist, ziehen wir los.«

* * *

Wie kann eine Hand schmerzen, die man nicht mehr hat? Je öfter sich Davaron die Frage stellte, desto absurder kam es ihm vor. Anfangs hatte er es auf die Wunde geschoben, die die Axt des zwergischen Henkers hinterlassen hatte. Der Schmerz war so verzehrend gewesen, dass es auf die genaue Stelle nicht ankam. Doch mit der Zeit – und dank Elanyas Magie – war der Stumpf verheilt. Davaron hob ihn vor sein Gesicht, sodass der lange Ärmel, mit dem er ihn verbarg, herabrutschte. Angewidert betrachtete er die wulstigen Narben, die selbst im Mondlicht abstoßend aussahen. Manchmal fand er es schwer zu glauben, dass etwas so Hässliches zu ihm gehören sollte. Er war ein Elf. Alles an ihm hatte makellos zu sein.

Instinktiv versuchte er, die Finger zu bewegen, die es nicht mehr gab. Die unsichtbare Hand schmerzte stärker. Er stellte sich vor, wie im fernen Zwergenreich bleiche Finger wackelten. Bewahrten die Zwerge die Hand auf? Als Andenken an den Narr, der geglaubt hatte, unbemerkt in ihre Schatzkammern einbrechen zu können? Oder war sie im Schweinefutter gelandet? Wenn es so war, hatte er damit wenigstens einen Teil seiner Schuld gegenüber dem Sein abgetragen. Durch den Tod vieler Orks und Chimären hatte er genug davon auf sich geladen. Wenn das mal dein schlimmstes Vergehen am Sein wäre, höhnte eine Stimme in seinem Kopf.

Ich tue nur, was nötig ist, antwortete er im Stillen und tauchte den Stumpf in den kühlen Teich, an dem er saß. Obwohl nur eine Mondsichel am Himmel stand, waren die Steine am Grund des flachen Weihers zu erkennen. Deshalb wurde er Teich der Mondsteine genannt. Davaron kam gern abends her, um allein zu sein, doch nun wurde es Zeit zu gehen. Omeon erwartete ihn. Der legendäre Alte …

Obwohl Davaron nicht zum ersten Mal in Ardarea weilte, hatte er Omeon noch nie gesehen. Es hieß, er blicke auf ein ganzes Jahrtausend zurück. Wenn es stimmte, war er der älteste Elf unter der Sonne Ardaias. Allerdings mied er diese Sonne schon so lange, dass sich die Kinder Schauergeschichten über ihn zuraunten wie über einen Geist. In sein Haus zu spähen, war bereits in Davarons Jugend eine Mutprobe gewesen. Auch er hatte sich angepirscht, aber im dunklen Innern niemanden entdeckt.

Schon damals war das Gerücht umgegangen, dass Omeon verbotener Magie anhing. Daran hatte sich nichts geändert. Manche behaupteten hinter vorgehaltener Hand, dass er sein unnatürlich hohes Alter nur diesen Freveln verdankte. Gerade deshalb war Davaron auf dem Weg zu ihm.

Seit seiner Ankunft in Ardarea hatte er sich so beiläufig wie möglich nach Omeon und dessen Machenschaften erkundigt. Was er in Theroia gesehen hatte, bestätigte ihn darin, dass alles möglich war, wenn man nur die richtigen Zauber kannte. Und Omeon besaß vielleicht den Schlüssel dazu. Doch wenn er einfach am helllichten Tag in dessen Haus spazierte, konnte er seine Frevel ebenso gut beim Fest der Heiligen Acht verkünden.

Er hatte herausgefunden, dass entfernte Verwandte dem Alten Essen und frische Kleidung brachten. Schon am nächsten Tag war der Junge, den er ausgehorcht hatte, wieder bei ihm aufgetaucht. »Ihr sollt morgen zu meinem Uronkel kommen, wenn der Abend in die Nacht übergeht«, hatte er verkündet und war davongerannt. Der Alte musste so ausgehungert nach Besuchern sein, dass er keine Zeit verschwendete.

Neugierig näherte er sich dem Haus. Selbst er, den man hinter seinem Rücken düster und übellaunig nannte, spürte die Ahnung des Todes, die wie ein Schatten über dem Anwesen lag. Von einem Schritt auf den anderen kam es ihm vor, als sei die Nacht dunkler geworden. Doch die Mondsichel stand unverändert am Himmel.

Nach alter Sitte war die Tür nicht verriegelt, um den Besucher willkommen zu heißen. Dennoch klopfte Davaron an, bevor er über die Schwelle trat. Dahinter empfingen ihn Stille und Dunkelheit. Nur spärlich sickerte Mondlicht durch die Fenstergitter und erlaubte ihm, die Umrisse der Einrichtung zu erahnen. Wo steckte Omeon? Die Bank um die erloschene Feuerstelle war leer.

»Davaron?« Wo die kratzige, leise Stimme herkam, glühte schwacher Feuerschein auf und enthüllte den Durchgang in einen weiteren Raum.

Davaron antwortete erst, als er das Nebenzimmer betrat. »Der bin ich.«

Omeon saß hinter einem steinernen Kohlebecken, in dessen Glut er schürte. Im unsteten Licht der glimmenden Kohle glich seine Miene der eines Flammendämons. In den starren Augen spiegelten sich die Funken, und tiefe Schatten tanzten über das faltige Gesicht. Auf dem ausgemergelten Schädel fand sich nur noch ein Rest weißen Haars.

Er sieht aus wie ein Mensch! Wie die Greise, die er in den Menschenlanden manchmal bettelnd am Straßenrand gesehen hatte. Plötzlich verstand er die Gerüchte, Omeon klammere sich auf ungebührliche Weise ans Leben. Jeder andere Elf hätte längst die Zeichen erkannt und sich auf die Reise zum Ewigen Licht begeben. Omeon würde nirgendwo mehr hinpilgern. Er war zu gebrechlich. Wenn ihn niemand trug, musste er in seinem Haus sterben, und die Seelenjäger zerrten seine Seele ins Nichts. Allein dafür verdiente er Verachtung. Wer das Ewige Licht ohne Not um eine Seele für die Wiedergeburt brachte, beging ein Verbrechen am ganzen Volk.

Davaron lächelte. Er hatte seine Seele so oft in Gefahr gebracht, dass er aufgehört hatte zu zählen.

»Der edle Davaron«, sagte Omeon.

Höre ich da Ironie? Davarons Lächeln vertiefte sich. Noch vor einem Jahr hatte er allen nur als wertloser Bastard gegolten, weil sein Vater ein Abkömmling Ardas und seine Mutter eine Tochter Piriths gewesen war. Und nun verneigten sie sich vor ihm, dem hehren Helden, der die Zauberkristalle aus dem Zwergenreich geholt hatte. »Ich danke Euch für die Einladung, Ältester«, erwiderte er und deutete eine Verneigung an.

»Kein Grund, mir zu schmeicheln«, brummte Omeon. »Diesen Ehrentitel tragen andere. Aus gutem Grund.« Sein Grinsen offenbarte lückenhafte Zähne.

Davaron schauderte angesichts so fortgeschrittenen Verfalls. Es war, als blickte er einem lebenden Toten ins Antlitz. Doch genau deshalb war er hier.

»Warum hast du dich nach mir erkundigt?«, fragte Omeon, als habe er Davarons Gedanken gelesen.

»Ihr … habt einen gewissen Ruf. Und …« Nein, es war zu früh, um diesem Mann Geheimnisse anzuvertrauen. Auch wenn es unwahrscheinlich schien, dass Omeon mit irgendjemandem darüber sprechen würde, musste er vorsichtig sein. »Und seit ich aus Theroia zurück bin, treiben mich gewisse Fragen um.« Das entsprach zumindest so weit der Wahrheit, dass es selbst in seinen Ohren glaubwürdig klang.

Omeon nickte. »Viele waren verwirrt. Aber wer nicht mit eigenen Augen gesehen hat, vergisst schnell. Und die anderen verdrängen es mit der Zeit. Leben ist Leben, und Tod ist Tod. Dazwischen darf es nichts geben.«

»Aber diese Toten sind aufgestanden und haben gekämpft«, stellte Davaron fest. »Die Menschen hatten seit jeher Legenden darüber. Wir jedoch nicht. Auf meinen Reisen durch ihre Reiche habe ich sie gehört. Aber ich hielt sie für Aberglaube, bis uns das Heer der Wiedergänger gegenüberstand. Seitdem frage ich mich, wie es sein kann. Wie ist so etwas möglich? Habt Ihr Antworten darauf?«

»Mir wurde berichtet, dass sich der Verräter Kavarath dazu bekannte, die Toten geweckt zu haben. Warst du nicht sogar anwesend, als er gestanden hat?«

»Allerdings.« Davaron spürte den Zorn, als sei es erst gestern gewesen. Als Kavarath den Fragen ausgewichen war, hatte er ihn sogar mit dem Armstumpf ins Gesicht geschlagen. Kavarath war der Älteste der Abkömmlinge Piriths gewesen. Ich habe ihm vertraut. In seinem Auftrag habe ich meine Hand geopfert, um meines Volks würdig zu sein. »Aber was kann man solchem Abschaum schon glauben? Seine Erklärung war lachhaft, und wir hatten nicht viel Zeit, ihn zu befragen, bevor …« Dass die Trolle den Verräter zerrissen und gefressen hatten, um sich für die vielen Toten in ihren Reihen zu rächen, erfüllte ihn noch immer mit Genugtuung. »… bevor er seine gerechte Strafe fand.«

Omeon lachte heiser. »Der Hohe Rat in Anvalon vertritt dazu sicher eine andere Ansicht.«

»Mag sein, dass es der Erhabene wie üblich bei einer Verbannung belassen hätte, aber ich stelle mir Kavaraths letzte Augenblicke immer wieder gern vor.«

»So viel gerechter Zorn«, stellte Omeon amüsiert fest.

Obwohl der Alte unmöglich wissen konnte, was Davaron getan hatte, kam er sich ertappt vor. Doch ganz gleich, wie viel Neid und schlechtes Gewissen in seiner Wut mitschwingen mochten, Kavarath hatte dieses Schicksal verdient. Ob er selbst Anteil an dieser Schuld hatte, stand nicht einmal fest. Wenn ja, würden eines Tages andere darüber richten, aber nicht ausgerechnet Omeon. »Könnt Ihr mir nun Hinweise geben oder nicht?«

Der Alte hob beschwichtigend eine knochige Hand. »Gemach, gemach, junger Mann! Wir kennen uns schließlich kaum.«

Davaron zuckte mit den Schultern. Da auch er seine Geheimnisse wahrte, konnte er nicht verlangen, dass Omeon sämtliche Karten auf den Tisch legte. »Was schlagt Ihr vor?«

»Du kommst wieder, wenn du bereit bist, mir ein wenig mehr darüber zu erzählen, warum du diese Antworten wirklich suchst. Bis dahin …« Omeon erhob sich und schritt bedächtig zu den Regalen, denen Davaron bislang keine Beachtung geschenkt hatte. Alle Wände des Raums verschwanden bis zum Laubdach empor hinter Manuskripten und Schriftrollen. »… empfehle ich dir diese Lektüre.« Der Alte zog ein zwischen geschnitzte Buchdeckel gebundenes Bündel Pergament hervor und reichte es Davaron.

»Worum geht es darin?«

»Es sind Aufzeichnungen des großen Entdeckers Eleagon.«

Ein Reisebericht? Ist das sein Ernst? »Warum sollte ich die lesen wollen?«

»Weil ihn sein Weg in ein Land führte, in dem Antworten auf deine Fragen zu finden sind.«

* * *

»Wollen wir den Tag nicht lieber hier verbringen?«, fragte Athanor. Obwohl er Elanya im Arm hielt und ihr Schenkel noch erhitzt über seinem Unterleib lag, stellte er sich vor, wie sie sich am Morgen im warmen Wasser geräkelt und das lange, rotbraune Haar ihre Brüste umflossen hatte. »Wir sollten noch einmal bei diesem Moment im Bad beginnen.«

Lachend entzog sich Elanya seinem Griff und stand auf. »Klingt verlockend, aber du hast vergessen, dass Aphaiya jeden Augenblick hier sein wird, um uns abzuholen.« Rasch zog sie ein grünes Seidenkleid über und strich sich das Haar wieder zurecht.

Athanor brummte widerwillig, doch auch Vindur war womöglich bereits im Anmarsch, um sie zu diesem lästigen Fest zu begleiten. Schon pochte es an der Tür.

»Verdammt, es ist noch verriegelt!«, fluchte Athanor und sprang aus dem Bett. Hoffentlich nahm es Elanyas Schwester nicht persönlich. Die elfischen Sitten waren ihm eben noch fremd.

Elanya zwinkerte ihm zu und eilte nach nebenan, während er seine beste Kleidung überstreifte. Wie fast alles, das er besaß, bestand sie aus Geschenken der wenigen Freunde, die er unter den Elfen hatte. Das weiche Leder und die edlen Stoffe waren eines ungekrönten Königs von Theroia würdig, aber sie erinnerten ihn zugleich daran, was er in den Augen seiner Gastgeber war: ein einsamer Wanderer, der nicht mehr besaß, als er am Leib trug.

Wie jeden Morgen kostete es ihn Überwindung, nicht den Schwertgurt anzulegen. Nach den Jahren im Krieg und auf Wanderschaft kam ihm seine Hüfte ohne das Gewicht der Klinge leer vor, doch er musste die Bräuche der Elfen respektieren. Wenn sie nicht gezwungen wurden, sich zu verteidigen, pflegten sie eine geradezu abergläubische Scheu vor tödlichen Waffen.

Den Stimmen nach zu urteilen, war Aphaiya vor Vindur eingetroffen. Falls sich der Zwerg überhaupt überwand, seine Höhle zu verlassen. Wenn nicht, werde ich ihn eigenhändig herausziehen. Sein Freund sollte sich nicht einbilden, dass er diese Folter aus Flötenspiel und Süßigkeiten allein über sich ergehen ließ.

»Ich würde ja sagen, dass du großartig aussiehst«, begrüßte ihn Aphaiya, als er aus dem Schlafzimmer trat. »Aber leider wirkst du auf mich wie immer.«

Athanor grinste, denn Aphaiya war blind, und Vindurs selbstironische Art färbte allmählich auf sie ab. Allen Heilkünsten Elanyas und ihrer Mutter zum Trotz hatte sie bei einem Unfall in ihrer Kindheit nicht nur ihr Augenlicht verloren, sondern auch ganz ähnliche Narben wie der Zwerg zurückbehalten. Zumindest nahm Athanor das an, da sie stets eine starre Maske trug, die ihr ganzes Gesicht bedeckte.

»Ich kann dir versichern, dass es stimmt«, scherzte er. »Aber hinter dir und deiner Schwester wird mich ohnehin niemand bemerken.« Er wünschte, es wäre so, doch er wusste es besser.

Aphaiya lachte verlegen. Unter Elfen, die jeden körperlichen Makel verabscheuten, hörte sie wohl selten Komplimente. Elanya warf ihm dafür einen dankbaren Blick zu.

»Bilde ich mir das ein, oder scheint die Sonne heute besonders grell?«, fragte Vindur von der offenen Tür her. Gequält blinzelte er zum strahlend blauen Himmel empor. Anstelle seiner Bergmannskappe hätte er besser einen Hut mit Krempe tragen sollen.

»Die zwergische Umschreibung für schönes Wetter«, übersetzte Elanya belustigt. »Wie es sich für ein gelungenes Fest der Acht ziemt.«

»Also bringen wir’s hinter uns«, rutschte es Athanor heraus. »Nach euch, edle Elfen«, fügte er rasch hinzu und ließ den Schwestern den Vortritt.

Elanya hakte sich bei ihrer Schwester unter, um sie insgeheim zu führen. Obwohl Athanor immerzu staunte, wie gut sich Aphaiya allein zurechtfand, nahm sie in Gesellschaft gern Hilfe an.

Vindur gab den beiden den Weg frei und reihte sich neben Athanor ein. »Ich habe vorsichtshalber gebraut«, raunte er. »Falls es nur Honigwein gibt …«

»… setzen wir uns ab«, beschloss Athanor ebenso leise.

Sie mussten sich nur wenige Schritte vom Gästehaus entfernen, um auf festlich gekleidete Elfen zu treffen. Aus allen Richtungen strömten sie herbei und sammelten sich rund um die Halle der Wächter. Die riesigen Bäume, die die acht Ecken des Gebäudes bildeten, standen angeblich seit Ardas Zeiten an diesem Ort und wachten über das Grab der Urmutter. Bis in die Kronen hinauf waren sie heute mit Blumenranken und Seidenbändern geschmückt. Die hellen Stimmen der Elfen und der Duft zahlloser Leckereien erfüllten die Luft. In das Lachen und Plaudern mischten sich Harfenklänge und Gesang.

Athanor entdeckte einige bekannte Gesichter in der Menge, doch Davaron war nicht darunter. Als er vorüberkam, gefroren einige der fröhlichen Mienen zu kühler Höflichkeit. Andere brachten wenigstens an diesem Tag ein Nicken oder Lächeln zustande. Merava, die Frau des Erhabenen, hob sogar ihr Glas zum Gruß. Doch vor allem Vindur löste angewiderte Blicke und empörtes Tuscheln aus.

»Ich habe eine Maske für dich gefertigt«, flüsterte Aphaiya dem Zwerg zu. »Möchtest du sie nicht wenigstens einmal anprobieren?«

Verblüfft sah Athanor, wie die Elfe etwas aus ihrem Ärmel zog. Es war ein breiter Streifen aus weichem Leder mit zwei elegant geschnittenen Löchern für die Augen, den sie Vindur reichte.

Vindur rang sich ein Lächeln ab, obwohl Aphaiya es nicht sehen konnte. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich …«

Elanya nahm ihm die Maske ab, mit der er ein wenig hilflos herumwedelte. »Sieh nur die herrlichen Stickereien! Aphaiya stickt besser als ich. Probier sie einmal an!«

Vindur murrte etwas in seinen Bart, ließ sich aber gefallen, dass Elanya ihm die Maske umlegte und hinter seinem Kopf verknotete. Unwirsch zupfte er daran herum, bis sie richtig saß. Sie ließ Mund und Bart unbedeckt und passte genau, und doch …

»Es sieht verwegen aus«, befand Elanya.

»Soll das ein Scherz sein?«, fuhr Athanor auf. »Warum bindet ihr ihm nicht gleich noch eine Schleife ins Haar? Vindur ist ein Krieger! Er trägt seine Narben mit Stolz.«

Aphaiya zuckte vor seinem Zorn zurück. Es versetzte Athanor einen Stich, aber was zu weit ging, ging zu weit.

»So schlimm?« Hastig zerrte sich Vindur die Maske wieder vom Gesicht. »Aphaiya, danke, ich, äh, weiß zu schätzen, wie viel Mühe du dir gemacht hast, aber …«

»Lass uns lieber dem Flötenspiel lauschen«, fiel Aphaiya ihm ins Wort und wandte sich brüsk einem Elf zu, der eine liebliche Melodie zum Besten gab.

»War das nötig?« Vorwurfsvoll sah Elanya Athanor an.

»Ihre Kunstfertigkeit in Ehren, aber Vindur ist kein Schoßhund, den man mit besticktem Firlefanz ausstaffiert!«

»Ich brauche jetzt Wein«, verkündete Elanya.

»Den brauchen wir wohl alle.«

»Ich hole uns welchen«, versprach sie und verschwand in der Menge.

Athanor sah sich um. Überall standen oder saßen Elfen beisammen, lauschten Gesang oder dem Geplauder ihrer Nachbarn. Auch Elanyas Eltern waren darunter, die ihn mit frostigen Blicken für die Entscheidungen ihrer Tochter straften. Was zum Dunklen hatte er ihnen getan?

»Taktlos, uns das schöne Fest mit dieser Fratze zu verderben«, sagte jemand hinter ihm gerade so laut, dass es nicht im Trubel unterging.

»Was will man von unreinen Tieren schon erwarten?«, erwiderte eine andere Stimme. »Widerlich, dass Elanya es mit diesem …«

Athanor fuhr herum. Fünf junge Elfenmänner standen in lässiger Runde und wandten ihm die hochnäsigen Gesichter zu. Obwohl zumindest einige von ihnen das nötige Alter hatten, wäre Athanor jede Wette eingegangen, dass sie nicht mit dem Heer in Theroia gekämpft hatten.

»Was willst du?«, fragte ihr Wortführer und reckte herausfordernd das spitze Kinn.

Dass er einen der Mistkerle anrempelte, als er auf Spitzkinn zutrat, nahm Athanor gern in Kauf. »Den Respekt einfordern, der mir zusteht.«

»Dir steht hier gar nichts zu«, erwiderte Spitzkinn hasserfüllt. »Pack den Lohn für deine Mühen endlich zusammen und verschwinde!«

»Und wenn ich es nicht tue? Was willst du kleiner Scheißer dann unternehmen?« Streng genommen war der Elf nicht kleiner als er, aber Athanor war nicht in der Stimmung, es damit genau zu nehmen.

»Das wirst du schon sehen«, blökte ein Blondschopf, den jede Menschenfrau um seine Locken beneidet hätte.

»Vielleicht bauen wir einen Stall für dich«, höhnte ein Jüngerer, dessen schmale Schultern bei Athanor fast Mitleid erregten.

»In dem kannst du dann mit den anderen Bären leben«, lachte Blondschopf.

»Firas Flamme!«, rief Vindur. »Das nennt ihr Dankbarkeit?«

»Halt die Klappe, du Missgeburt!«, nölte Spitzkinn.

Du sagst es. Athanors Faust traf den Elf so fest, dass die Kiefer hörbar aufeinanderschlugen. Als sich der Kopf nach hinten bog, knirschte es im Nacken. Spitzkinn taumelte rückwärts und stieß gegen andere Festbesucher.

Mit einem Wutschrei warf sich Blondschopf auf Athanor. Der Elf wollte ihn um die Schultern fassen und zu Boden reißen, doch Athanor wich aus, sodass ihn der Gegner nur um die Taille erwischte. Vergeblich versuchte Blondschopf, ihn doch noch zu Fall zu bringen, während Athanor den Kopf des Elfs unter seinem Arm einklemmte.

Neben ihm schlug ein anderer Elf der Länge nach hin. »Tja«, brummte Vindur. »Über Zwerge stolpert man leicht.«

Spitzkinn hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden und stürzte sich auf Athanor, der nur die linke Hand frei hatte. Athanor empfing ihn mit einem Tritt, der den Elf zurück in die aufgeschreckten Zuschauer schleuderte. Auf einem Bein hatte er jedoch Blondschopfs Druck nicht mehr viel entgegenzusetzen. Gemeinsam fielen sie um, doch da der Kopf des Elfs noch immer unter Athanors Arm feststeckte, landete Blondschopf mit dem Gesicht im Gras. Über Athanor rammte Vindur gerade dem Jüngsten die Faust in den Bauch. Der Elf krümmte sich, was ihn erst in Reichweite des Kinnhakens brachte, mit dem ihn Vindur von den Füßen fegte.

Mit der Linken schlug Athanor dem strampelnden Blondschopf in die Nieren und ließ ihn los, um aufzuspringen. Schon war Spitzkinn wieder heran und erwischte ihn mit einem Fausthieb, der seine Zähne knirschen ließ. Athanor schmeckte Blut, doch auch dem Elf rann Blut aus der aufgeplatzten Lippe. Der Treffer stieg Spitzkinn so zu Kopf, dass er vor Grinsen seine Deckung vergaß. Athanor trat ihm gegen ein Bein, dass der Elf schreiend in die Knie ging. »Hältst du meinen Freund immer noch für eine Missgeburt?«

»Er ist ein verdammtes Scheusal!«, spuckte Spitzkinn mit einigen Tropfen Blut hervor.

»Nach dir«, bot Athanor an und gab Vindur den Weg frei.

»Ach, weißt du, so viel Aufmerksamkeit hat das Stück Trollscheiße eigentlich gar nicht …« Der Zwerg brach ab, als er die Ranken bemerkte, die sich wie aus dem Nichts um seine Knöchel wanden. Entgeistert deutete er darauf. »Was …«

Aus dem Augenwinkel sah Athanor, wie Spitzkinn zu einem Hieb ausholte. »Verfluchter Zauberer!« Er wollte den Elf mit einem Tritt umstoßen, doch sein Fuß hing fest. Spitzkinns Faust sauste auf Vindurs Kopf zu, als sich eine Ranke wie eine grüne Peitsche um das Handgelenk des Elfs schlang und den Hieb gerade noch abfing. Ein rascher Blick bestätigte Athanor, dass das magische Gespinst auch seine Füße an den Boden fesselte.

»Schluss damit! Sofort!«, tönte die Stimme des Erhabenen über den Festplatz.

Der scharfe Ton ließ Blondschopf innehalten, der außer Reichweite gekrochen war, um sich nun von hinten auf Vindur zu stürzen. Schuldbewusst sah er sich zu Peredin um, dessen Frau Merava in der Nähe stand und ihrem in sich gekehrten Blick nach zu urteilen den Rankenzauber wirkte.

Obwohl er leises Bedauern über das jähe Ende der Schlägerei empfand, atmete Athanor auf. Peredin war ihm nicht nur freundlich gesinnt, sondern auch der Vorsitzende des Hohen Rats zu Anvalon und das Oberhaupt der Abkömmlinge Ardas. Bevor ihn der Rat zum Erhabenen gewählt hatte, war er hier in Ardarea zu Hause gewesen und nun auf einen Besuch in die Heimat gekommen.

Die lebenden Fesseln lösten sich, während die Menge dem Erhabenen die letzten Schritte zu den Streithähnen freigab. »Schämt ihr euch nicht, das Fest der Heiligen Acht mit einem so unwürdigen Schauspiel zu verderben?«, tadelte er. Wie so oft trug Peredin eine schlichte Robe aus grüner Rohseide, die so verhalten schimmerte wie sein ergrauendes Haar. Ein ärmelloser brauner Ziermantel komplettierte die Farben der Abkömmlinge Ardas, wodurch der Erhabene die Zugehörigkeit zu seinem Volk unterstrich.

»Der Mensch hat zuerst zugeschlagen«, blökte der Junge mit den schmalen Schultern.

»Ich will nichts davon hören!«, herrschte Peredin ihn an. »Der Prinz von Theroia mag reizbar sein, aber auch Worte vermögen zu verletzen. Für euch ist das Fest zu Ende. Geht nach Hause und übt euch in angemessenem Verhalten!«

Athanor öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch der Erhabene wandte sich ebenso harsch ihm zu.

»Das gilt auch für Euch«, bestimmte Peredin und sah dabei auch Vindur an. »Ihr habt diesen Tag durch sinnlose Gewalt entweiht. Beleidigt die Heiligen Acht nicht länger durch Eure Anwesenheit!«

Es fiel Athanor schwer, den Vorwurf widerspruchslos zu schlucken, doch Vindur stieß ihn mit dem Ellbogen an.

»Er hat recht. Wir hätten uns am Riemen reißen müssen. Gehen wir.«

Widerstrebend folgte Athanor seinem Freund, und die feindseligen Blicke der Elfen begleiteten sie. Athanor spürte sie wie Stiche in seinen Rücken. Wie sehr hatte er Elanyas Volk dieses Mal gegen sich aufgebracht?

* * *

»Baumeisters Bart!«, brach es aus Vindur heraus, sobald sie außer Hörweite der Festgäste waren. »Dem hast du vielleicht eine eingeschenkt! Dafür schulde ich dir ein Bier.«

»Ach, Unsinn. Ich hätte ihm schon viel früher eine reinhauen sollen.« Prüfend betastete Athanor sein Kinn und bewegte den Kiefer. Mit einem kurzen Knirschen rastete das Gelenk wieder ein. »Hat sich verdammt gut angefühlt.« Er konnte sich das Grinsen nicht länger verkneifen.

Vindur lachte. »Und ob! So viel Spaß hatte ich lange nicht mehr. Ich hab sogar den da oben darüber vergessen.« Vielsagend deutete er zum wolkenlosen Himmel.

»Darauf sollten wir anstoßen.«

»Sag ich doch!«

»Aber nicht mit Bier.«

Enttäuscht verzog Vindur das narbige Gesicht. »Warum?«

»Weil ich etwas Besseres habe«, behauptete Athanor und schlug den Weg zum Gästehaus ein. »Komm mit! Dir werden die Augen übergehen.«

»Wo du das gerade erwähnst, du hättest das Gesicht dieses langen Elends sehen sollen, das du im Schwitzkasten hattest«, prustete Vindur. »Ich habe noch nie einen Elf mit so rotem Kopf gesehen.«

»Du hast aber auch ganz ordentlich hingelangt«, lachte Athanor.

»Wie schön, dass ihr euch so gut amüsiert«, ertönte Elanyas Stimme hinter ihnen.

»Ähm, ich glaube, ich muss jetzt nach Hause.« Vindur wedelte wieder vage nach oben. »Der freie Himmel und so. Ihr wisst schon.«

»Und mit wem trinke ich jetzt die Essenz des Lebens?«, rief Athanor ihm nach. Peredin selbst hatte ihm eine Flasche dieses magisch veredelten Weins verehrt.

»Du willst auch noch feiern, dass du mir und allen anderen das Fest verdorben hast?« Kopfschüttelnd schritt Elanya an ihm vorbei zum Eingang. »Ich fasse es nicht!«

»Wer hier wem das Fest verdorben hat, kann man auch anders sehen«, erwiderte Athanor und folgte ihr ins Haus. »Wenn du gehört hättest, was sie gesagt haben, wärst du genauso wütend geworden wie ich.«

Elanya brachte die halbkreisförmige Bank um die Feuerstelle zwischen ihn und sich, als ob sie sich hinter etwas verschanzen müsste. Das Gästehaus bestand aus drei Räumen, und an der Rückwand gab es ein Fenster. Doch das meiste Licht sickerte durch die Baumkronen, die das Dach bildeten. Wie es seinen Weg hereinfand, obwohl der Regen so zuverlässig nach außen abgeleitet wurde, gehörte für Athanor zu den Rätseln der elfischen Baukunst. Bestimmt war dabei Magie im Spiel. Geradeso wie beim Errichten der Wände, die als Gebilde aus schlanken Steinsäulen und dünnen Baumstämmen aus dem Boden wuchsen.

»Es spielt keine Rolle, was sie gesagt haben«, rief Elanya. »Du hast sie geschlagen! Es ist sogar Blut geflossen. Am Tag der Heiligen Acht! Elfen tun so etwas nicht.«

»Jetzt komm mir nicht wieder mit dieser alten Leier! Kavarath war auch ein Elf, und seinetwegen sind über hundert Elfen im Kampf gegen die Untoten gestorben. Und sein Sohn? Hat sogar eigenhändig die Erhabene ermordet.«

»Soll das deine Rechtfertigung sein, halbstarke Maulhelden zu verprügeln?«

»So jung waren sie nun auch wieder nicht. Aber vielleicht hätte es ihnen gut getan, wenn sie schon früher einmal jemand übers Knie gelegt hätte!«

»Du würdest ein Kind schlagen?«, fragte Elanya entsetzt.

»Wie soll man ihnen sonst Respekt einbläuen?« Er erinnerte sich noch gut an die Ohrfeige, mit der ihn sein Vater dafür bestraft hatte, dass er dessen Lieblingsmätresse nachgestiegen war.

Elanya schüttelte erneut den Kopf. »Vielleicht hatten unsere Ahnen doch recht, sich von den Menschen abzuwenden. Sie kennen nichts als Gewalt.«

Das wird ja immer besser. Athanor verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach ja? Auch Worte können verletzen. Peredin hat es selbst gesagt.«

»Deshalb schlägt man noch lange nicht zu!«

»Er hat uns alle beleidigt!«

»Kennst du nur eine Antwort auf alles? Ein Schwert in die Rippen oder eine Faust ins Gesicht?«

»Wenn du mich so siehst, warum bist du dann hier? Anscheinend gefällt es dir.«

Elanya drehte sich abrupt um und marschierte zum Fenster. Kurz hielt sie dort inne, dann wandte sie sich Athanor wieder zu. Schimmerten etwa Tränen in ihren Augen? Schon dafür verspürte Athanor Lust, diesem Widerling noch einmal die Faust ans spitze Kinn zu rammen.

»Ich habe immer mehr in dir gesehen als jene, die euch Menschen hassen«, brachte Elanya heraus. »Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen, bevor ich den Eindruck gewinne …«

Ich werde mir das nicht länger anhören. »Du findest mich bei Vindur!«, fiel er ihr ins Wort und stürmte hinaus.

Athanor 2: Der letzte König

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