Читать книгу Athanor 2: Der letzte König - David Falk - Страница 5

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Obwohl er gesehen hatte, dass der Drache in eine ganz andere Richtung geflogen war, empfand Athanor Erleichterung, als Ardarea wohlbehalten vor ihnen lag. Davaron würde sich über sie lustig machen, weil sie keine Beute mitbrachten, und sie würden wieder feindselige Blicke auf sich ziehen, doch es war ihm egal. Es zählte nur, dass er sich mit Elanya versöhnte, statt schmollend in den Wald zu verschwinden. Die Elfen machten ihr das Leben seinetwegen schwer genug.

»Kommt es nur mir so vor, oder ist es heute ungewöhnlich ruhig hier?«, wunderte sich Vindur.

Athanor sah sich um. Noch wanderten sie durch die versprengten Gärten, die mit dem Wald um Ardarea zu einem Ganzen verwoben waren, aber es waren in der Tat kaum Elfen zu sehen. Für gewöhnlich verbrachten sie viel Zeit in ihren Anpflanzungen, um durch Magie und liebevolle Pflege für reiche Erträge zu sorgen. »Vielleicht sind sie nach ihrem wilden Fest noch zu erschlagen.«

Vindur sah ihn zweifelnd an. »Wenn du einen Elfenreigen wild nennst …«

»Ich habe gehört, es gab immerhin eine Prügelei.«

»Was? Wenn ich die erwische, denen zieh ich die Ohren lang!«, entrüstete sich Vindur, bevor er das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. »Ohren lang … hihi … lang. Du verstehst?«

»Ja, Vindur, ich hab’s verstanden«, versicherte Athanor schmunzelnd. »Aber versuch wenigstens, etwas zerknirscht auszusehen, bevor wir beim Erhabenen ankommen.«

»Ohren lang«, schluchzte Vindur und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. »Herrlich.« Allmählich gelang es ihm, wieder eine ernste Miene aufzusetzen.

Sobald sie die ersten Häuser erreichten, entdeckten sie Elfen, die mit betroffenen Gesichtern beisammen standen oder tiefer in die Stadt hineinhasteten. Hatte der Drache Ardarea doch heimgesucht? Alarmiert blickte Athanor zum Himmel, ob ihm eine Rauchsäule über der Halle der Wächter oder ein ähnliches Anzeichen für Ärger entgangen war. Doch außer ein paar kreisenden Sperbern sah er nichts.

»Wo wollen die denn alle hin?«, fragte Vindur.

»Finden wir es heraus.« Athanor lief hinter einem der Elfen her. »Was ist passiert?«, rief er ihm zu.

Der Fremde bedachte ihn mit einem undeutbaren Blick. »Elanya soll etwas zugestoßen sein. Sie wurde zum Haus ihrer Eltern ge…«

Athanor hörte nicht, was der Elf noch sagte. Er rannte so schnell, dass er nicht einmal wahrnahm, ob Vindur noch bei ihm war. Elanya ist etwas zugestoßen, und ich war nicht da. Ich war nicht da. Ich war nicht da. Wie eine Peitsche trieb ihn der Gedanke voran.

Vor Elanyas Elternhaus hatte sich eine Elfentraube gebildet. Ein wenig abseits grasten Pferde, als wäre nichts geschehen, doch die entsetzten Mienen der Elfen bewiesen das Gegenteil. Rücksichtslos bahnte sich Athanor einen Weg durch die Menge. »Lasst mich durch! Darf ich mal? Ich muss …« Er verstummte, als der Erhabene und seine Frau zurückwichen und ihm den Blick auf das Geschehen vor dem Eingang freigaben. Elanyas Vater sah mit Tränen in den Augen auf seine Töchter hinab, während seine Frau stumm das Gesicht in den Händen barg. Aphaiya hielt Elanyas Hand umklammert und schluchzte hemmungslos hinter ihrer Maske. Athanor war, als sei er zugleich schwer wie ein Berg und leer wie ein hohler Baumstamm geworden. Ein eisiger Wind strich durch seine Rippen, obwohl sich kein Lufthauch regte. Sein Gewicht zog ihn neben Elanya auf die Knie. Bleich und still lag sie im Gras. Wie eine gestürzte Statue aus Theroias zerstörtem Palast. Ihre gebrochenen Augen starrten blicklos ins Nichts.

Athanor berührte sie nicht. Er hatte so viele Leichen berührt. Sie waren nur kaltes, totes Fleisch, das Erinnerungen zerstörte. Elanya war längst fort. Aus dem Licht dieses herrlichen Tags in die Dunkelheit gerissen. Er konnte sie gar nicht berühren. Seine Arme waren so schwer, so leblos. Hatte er überhaupt noch Arme? Er merkte es kaum. Er konnte nur noch auf die Wunde starren, von der jemand das Blut gewaschen hatte. Ein glatter, tiefer Schnitt durch die Kehle. Elanyas Kopf war so gebettet, dass es kaum mehr als ein Strich schien. Doch das Blut, mit dem ihr Hemd getränkt war, sprach eine andere Sprache.

Das war Mord.

Wie der Stoff das Blut aufgesogen hatte, saugte die Leere in Athanor diesen Gedanken auf, bis sie ganz davon erfüllt war. Jemand hatte diese Klinge geführt. Jemand, der ihr Vertrauen erschlichen oder sie von hinten angefallen hatte. Athanor sah die gesichtslose, niederträchtige Gestalt vor sich, wie sie sich auf Elanya stürzte. »Wer hat ihr das angetan?«, brachte er heraus. In den Abgründen seines Innern keimte Wut auf. Dieser Unbekannte hatte ihm Elanya genommen. Ihr die Kehle aufgeschlitzt wie einem Lamm auf der Schlachtbank. Ausgerechnet Elanya!

»Ich … werde unverzüglich Boten aussenden, um in Anvalon und allen anderen Städten nach dem Mörder suchen zu lassen«, versprach Peredin. Er klang betroffen und zugleich gefasst. »Wir müssen einen Rat einberufen und Verfolger ernennen, die …«

»Wer hat ihr das angetan?«, fuhr Athanor auf. Der Zorn trieb ihn auf die Beine. Der Erhabene verschwieg ihm etwas. Er spürte es. Wütend starrte er ihn an.

»Es gibt Hinweise, aber wir dürfen nicht …«

»Sie ist am Morgen mit Davaron fortgeritten«, fiel Merava ihrem Mann ins Wort. »Aphaiya hatte eine Vision, dass ihrer Schwester Gefahr von Harpyien drohe, deshalb haben wir ihr einige Reiter nachgesandt. Am Ende der Fährte fanden sie nur Elanyas Pferd und … sie selbst – auf dem Felsen, auf dem Davarons Frau starb.«

Davaron! »Dieser von allen Göttern verfluchte Bastard!«

Peredin hob beschwichtigend die Hände. »Noch wissen wir nicht …«

»Wollt Ihr mir weismachen, das sei eine Harpyie gewesen?«, herrschte Athanor ihn an.

»Vielleicht ist Davaron in diesem Augenblick dem wahren Mörder auf der Spur. Wir dürfen nicht vorschnell ur…«

Athanor hörte nicht mehr zu. Furchtsam wichen die Elfen ihm aus, als er entschlossen durch die Menge schritt. Sollten sie in ihrem Rat so lange palavern, wie sie wollten. Sie war mit Davaron fortgeritten, und nun war sie tot. Hatte der Bastard nicht stets wüste Drohungen ausgestoßen, damit sie seine Geheimnisse nicht verriet? Er würde ihn finden und die Wahrheit aus ihm herausprügeln, bevor er ihn an den Eiern zum Ausbluten aufhing.

* * *

Athanor hörte jemanden hinter sich herangaloppieren und warf einen Blick über die Schulter, ohne sein Pferd anzuhalten. Zwischen den hohen Bäumen tauchte Vindur auf, der bei seinem Anblick hektisch auf seinem Reittier herumhampelte. Dass der Braune dennoch langsamer wurde und nicht an Athanor vorbeischoss, war wohl nur der Gutmütigkeit der Elfenrösser zu verdanken.

»Baumeisters Bart«, schnaufte Vindur. »Du hättest wenigstens auf mich warten können. Ich musste mich von Elfen aufs Pferd hieven lassen!«

»Welch grausames Schicksal«, knurrte Athanor.

Beschämt senkte Vindur den Blick. Zufrieden sah Athanor wieder auf die Hufabdrücke hinab, denen er folgte. Durch den Trupp, der Elanya hatte retten wollen, waren die Spuren so deutlich, dass sie selbst Aphaiya nicht entgangen wären.

»Du kannst so viel auf mir herumhacken, wie du willst«, verkündete Vindur. »Aber glaub bloß nicht, dass ich dich diesen Ogersohn allein zur Strecke bringen lasse! Der Kerl ist ein heimtückischer Zauberer. Du wirst meine Hilfe brauchen.«

»Ich habe ihn schon einmal besiegt.« Bei der Erinnerung ballte Athanor die Fäuste. Warum hatte er ihn damals nicht verbluten lassen? Umgekehrt hätte Davaron ihn getötet. Um Elanya nicht zu enttäuschen, hatte er das Leben dieses Dreckskerls verschont. Fast konnte er den Dunklen darüber lachen hören. Dieser Schweinegott gewinnt immer. Ob ich töte oder nicht. Den Dunklen musste er damit durchkommen lassen, Davaron nicht.

»Mag sein, dass du ihn schon einmal bezwungen hast«, erwiderte Vindur. »Aber ich werde dafür sorgen, dass er dieses Mal nicht wieder aufsteht.«

»Das wird nicht nötig sein.«

»Das kannst du nicht wissen«, beharrte Vindur. »Er wird nicht auf dieselben Finten reinfallen wie beim letzten Mal.«

»Herr der Schatten! Komm einfach mit und halt endlich die Klappe!«

Vindur nickte zufrieden. Athanor trieb sein Pferd zu einem leichten Galopp an. Solange die Spuren so gut sichtbar waren, behielt er die Geschwindigkeit bei. Es war sein erster Einfall gewesen, zu der Stelle zu reiten, an der es geschehen war, und dort Davarons Fährte aufzunehmen. Doch je mehr Zeit er hatte, sich in die Lage des Mörders zu versetzen, desto mehr Zweifel kamen ihm. Er durfte sich nicht darauf verlassen, dass Davaron das Offensichtliche tat. Wenn es darauf ankam, konnte der Bastard ein gerissener Hund sein. Ich hätte doch zuerst die Elfen befragen sollen, die Elanya zurückgebracht haben. Vielleicht hatten sie an den Spuren gesehen, dass Davaron nach der Tat auf seiner eigenen Fährte zurückgeritten war, bevor dieser Trupp alles umgepflügt hatte.

Athanor ritt langsamer und achtete darauf, ob irgendwo eine Spur von den anderen abzweigte. Der Untergrund wurde steiniger, das Gelände stieg an. Als felsige Anhöhen in Sicht kamen, wurde Athanor die Kehle eng. Auf einem dieser Gipfel musste es geschehen sein. Obwohl er wieder auf die Hufabdrücke starrte, sah er ständig vor sich, wie es abgelaufen sein könnte. Wie Davaron Elanya am Haar packte und ihren Kopf zurückbog, um ihr das Messer über die Kehle zu ziehen. Nein. Nicht der verfluchte Krüppel mit seiner einen Hand. Aber wie dann? Athanor sah, wie sie schlafend in der Sonne lag und sich Davaron über sie beugte. Wie sie stritten und der Elf das Schwert herausriss. Das Ergebnis war stets dasselbe: Elanyas toter Leib vor dem Haus ihrer Eltern. Ich werde dir jeden einzelnen Knochen brechen, bis du um dein Leben winselst.

Als die Spuren ein schmales Rinnsal querten, das von den Bergen herkam, stutzte Athanor. Nach dem Sieg der Drachen hatten Orross – blutrünstige Chimären mit der Kraft und den Pranken eines Bären und den Hauern eines Keilers – Jagd auf die überlebenden Menschen gemacht. Er war so lange vor ihnen geflohen, er wusste, wie man seine Spur nicht nur vor den Augen, sondern auch den Nasen der Verfolger verbarg.

»Hast du etwas entdeckt?« Vindur sah sich misstrauisch um und griff nach seiner Axt.

»Nein. Ich frage mich nur, ob er hier abgebogen und im Wasser weitergeritten ist.«

»Sehen wir nach«, schlug Vindur vor. »Wenn du falsch liegst, haben wir Zeit verloren. Wenn du richtig liegst und wir reiten einfach weiter, aber auch.«

»Das ist wahr.« Athanor sprang ab. »Warte kurz!«

»Was machst du?«

Statt zu antworten, ging Athanor am Rand des Rinnsals entlang und musterte den Bachgrund. Zwischen Steinen und zerbrochenem Geäst gab es morastige Stellen, doch das Wasser floss so schnell darüber, dass es jede Unebenheit sogleich fortspülte. Falls Davaron Schlamm aufgewirbelt hatte, war das trübe Wasser längst wieder klar. Athanor konnte nur darauf hoffen, dass der Elf bald die Geduld verloren und den Bach wieder verlassen hatte.

Aufmerksam wanderte er weiter, bis ihm plötzlich ein Stein auffiel. Während die anderen blank gewaschene Oberseiten hatten, war dieser zur Hälfte mit bräunlichem Schlick überzogen. Vielleicht … Athanor griff ins kalte Wasser und drehte einen der sauberen Brocken um. Auf der Unterseite glänzte ihm dieselbe braune Schmiere entgegen. Eilig ging Athanor weiter. Ein umgekippter Stein konnte Zufall sein. Doch bald fand er einen zweiten. Du hättest Hadons besten Hund nicht herausfordern sollen, verfluchtes Schwein.

* * *

»Mein Vater hätte ihm damals gleich den Kopf abschlagen lassen sollen«, murrte Vindur. Erschöpft hing er über dem Hals seines Pferds. Dunkle Ränder unter seinen Augen zeugten davon, dass sie seit drei Tagen hinter Davaron herhetzten und nur geschlafen hatten, wenn die Pferde eine Rast brauchten, um zu grasen. Da sie keinen Proviant bei sich trugen, ernährten sie sich von Beeren und Pilzen, die sie am Wegrand fanden, und von Fisch, den Athanor mit der Angelschnur aus seiner Gürteltasche fing. Doch sosehr sie sich auch beeilten, holten sie nicht auf. Die Spur nicht zu verlieren, kostete sie Zeit, und Davaron kam wie alle Elfen mit viel weniger Schlaf und Essen aus als sie. Dass er verfolgt wurde, konnte er sich denken. Dass er noch immer floh, bewies, dass er schuldig war.

»Stell dich nicht so an! Letzte Nacht habe schließlich ich Wache gehalten«, erwiderte Athanor. Warum jammerten Zwerge nur so gern, obwohl sie so robuste Gesellen waren?

»Glaubst du, ich mache ein Auge zu, solange dieser Ogersohn durch die Gegend schleicht?«

»Dann schnarchen Zwerge also auch, wenn sie nicht schlafen?«

»Natürlich nicht! Ich habe leise Goldbarren gezählt. Soll beim Einschlafen helfen. Stimmt aber nicht.«

Athanor lächelte matt. Mit einem hatte Vindur recht. Bis sie den Bastard erwischt hatten, würden sie keine Ruhe finden. Davarons Spur führte seit zwei Tagen gen Südwesten, und er fragte sich, ob ein Zusammenhang mit dem Drachen bestand, den sie bei Ardarea gesehen hatten. Seit auch Vindur diesen Verdacht schöpfte, sprach er noch abfälliger über den Elf – falls das überhaupt möglich war.

Gerade ritten sie einen Hügel empor, und Athanor behielt die Löcher im Auge, die Davarons Pferd mit den Hufen in den Bewuchs des Hangs gerissen hatte. Der Wald war hinter ihnen zurückgeblieben, während sich vor ihnen auf der Kuppe hohe Gräser im Wind wiegten.

»Heilige Götterschmiede!«, entfuhr es Vindur. »Was ist das?« Sichtlich beeindruckt hielt er sein Pferd an.

Athanor sah auf. Unter ihnen lag ein Streifen Marschland, und dahinter erstreckte sich Wasser bis zum Horizont. Im Sonnenschein leuchteten die Fluten so blau, dass selbst der Himmel dagegen blass wirkte. »Das muss der Ozean sein.«

Vindur stand vor Staunen der Mund offen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viel Wasser auf der Welt gibt.«

Kein Wunder. Soweit Athanor wusste, gab es im Zwergischen nicht einmal ein Wort für das Meer. Doch auch ihm fiel es schwer, den Blick wieder abzuwenden. Er hatte den Kaysasee in Ithara gesehen, in dem einst die Nymphe Kaysa gelebt und am Ufer den ersten Menschen geboren hatte. Damals war ihm der See groß vorgekommen, denn das andere Ufer war nur ein grüner Streifen. Aber hier … Selbst wenn er die Augen zusammenkniff, verschwamm in der Ferne alles in dunstigem Blau. Es war unmöglich zu sagen, wo das Wasser endete und der Himmel begann. Eine feuchte, salzige Brise wehte von dort heran und legte sich wie Schweiß auf seine Haut.

Hatte Elanya je den Ozean gesehen? Dieses tiefe Blau hätte ihr gefallen. Doch Davaron hatte sie in die graue Welt der Schatten gestoßen. Knurrend trieb Athanor sein Pferd den Hügel hinab. Er würde diesen Bastard einholen, und wenn er dazu den Rest seines Lebens brauchte. Er hat mir ohnehin genommen, wofür es sich zu leben lohnt. Ich bin wieder dort, wo ich herkam. Ein heimatloser Wanderer. Doch dieses Mal hatte er ein Ziel: Rache.

* * *

Von nun an ritten sie die Küste entlang. Oft reichte der Wald bis zum Strand, doch es gab auch breite Schilfgürtel, durch die nur sumpfige Pfade führten. Um lange Umwege zu vermeiden, querte Davaron die felsigen Landzungen, die weit ins Meer hinausreichten. Dann wieder galoppierten sie am Wasser entlang, das die Spuren des Mörders manchmal fortgespült hatte. Doch sie fanden die Fährte stets wieder, so sicher wie die Möwen und das Meer.

Der Ozean war das Rätselhafteste, was Athanor je gesehen hatte. Warum war das Wasser so widerlich salzig, obwohl es klar und einladend aussah? Wie konnten Fische in dieser Brühe leben und doch nicht vollkommen versalzen schmecken? Irgendeine magische Wirkung ging von diesem Wasser aus. Wie konnte es sonst sein, dass er immerzu aufs Meer sehen musste, obwohl er es nicht wollte? Zum Dunklen mit dem Trost, den der Anblick spendete. Er wollte nicht besänftigt werden. War das so schwer zu verstehen?

»Woher kommen diese Wogen?«, wunderte sich auch Vindur. Er deutete auf die kleinen Wellen, die sich unablässig am Ufer brachen und nach den Hufen ihrer Pferde leckten. »Wenn der Ozean ein großer See ist, müsste er doch still liegen. Es weht nicht einmal viel Wind.«

»Ich weiß es nicht«, gab Athanor zu. »Aber mein Lehrer behauptete, dass die Wasser des Ozeans ans Ufer schwappen, weil an seinem Grund drei gefesselte Riesen liegen und gegen ihre Gefangenschaft aufbegehren. Dieses Wissen soll zur Zeit des Alten Reichs von den Elfen auf uns gekommen sein. Aurades, der Sonnengott selbst, hat die Riesen am Ende des Ersten Zeitalters in die Tiefe verbannt, um seine Schöpfung vor ihrem unstillbaren Hunger zu bewahren.«

Vindur winkte ab. »Die Elfen behaupten auch, dass die Alten Drachen geschaffen wurden, um die Herrschaft der Riesen zu brechen. So ein Unsinn! Der Große Baumeister liebt die Riesen. Die Alten Drachen sind durch verderbte Magie entstanden – wie alles Schlechte in der Welt.«

Ob die Sicht der Zwerge nun mehr Wahrheit enthielt als jene der Elfen? Athanor schnaubte. »Die Geschichte der Drachen interessiert mich nicht.« Sie waren hinterhältige Bestien, die sein Volk ausgerottet hatten. Mehr musste er nicht über sie wissen.

»Vielleicht könnte dein Volk noch leben, wenn es mehr auf unser Wissen als auf das der Elfen gegeben hätte.«

Athanor warf seinem Freund einen zornigen Blick zu. »Reiz mich besser nicht, solange Elanyas Mörder nicht blutend vor mir im Sand liegt.«

Grollend jagte er sein Pferd erneut den Strand entlang. In der Ferne erhob sich ein Hügel, der weit ins Meer reichte. Davarons Fährte führte die Anhöhe hinauf, die von oben betrachtet wie eine Klaue in den Ozean ragte. Ihre Krümmung bildete eine geschützte Bucht, auf deren klarem, blauen Wasser eine Stadt schwamm. Athanor sah zweimal hin, um sich zu vergewissern, dass ihn seine Augen nicht täuschten. Die mit Stegen und Treppen verbundenen Häuser schaukelten tatsächlich. Auch an den Ufern des Fallenden Flusses hatte er ganze Dörfer im Wasser gesehen, aber sie thronten auf Stelzen hoch über den Fluten. Nur zur Schneeschmelze stieg das Wasser bis zu den Hütten hinauf.

Hier blickte er dagegen auf eine richtige Stadt aus mehr Häusern, als sich auf die Schnelle zählen ließen, und ein paar größere, prachtvolle Bauten überragten die anderen. Der Stadtrand war mit Bootsanlegern gesäumt, an denen Einbäume und schlanke Segelboote vertäut lagen. Wie die Halle der Abkömmlinge Ameas in Anvalon waren die meisten Dächer mit Goldried gedeckt, dessen Glanz viele Jahre der Verwitterung widerstand. Silbrige Schläuche, die der Wind zur Form von Fischen und Seeschlangen aufblies, wehten als Banner darüber. Nur das Dach des höchsten Gebäudes schimmerte wie eine Perle im Sonnenschein. Konnten die Schindeln aus Perlmutt gefertigt sein? Seit er Kithera, das schwebende Heiligtum der Abkömmlinge Heras gesehen hatte, traute Athanor elfischer Baukunst fast alles zu.

Davarons Spur führte direkt auf die Stadt zu. Sie folgten ihr den Hügel hinab und ließen die Pferde frei, die in der Nähe grasen würden, bis Athanor sie rief. Neugierig sahen erste Elfen zu ihnen herüber. Vom Strand führte ein Steg übers Wasser zur Stadt. Er war breit genug, um nebeneinander zu gehen, doch er gab unter Athanors Füßen nach, als ob sie sich auf einem Moor befanden. Bei diesem Schwanken grenzte es an ein Wunder, dass kein Wasser auf die Bohlen schwappte.

»Vom schaukelnden Rücken des einen Biests zum nächsten«, murrte Vindur. »Bist du sicher, dass dieses Ding stabil ist? Ich kann nicht schwimmen.« Einen Moment lang zitterten Vindurs Beine so sehr, dass Athanor es sehen konnte. Dann ballte der Zwerg die Fäuste und setzte einen Fuß vor den anderen. »Ebenso gut könnte man auf dem Schwanz eines Drachen balancieren.«

* * *

Bestaunt von tuschelnden Elfen, die aus ihren Fenstern blickten oder ihnen auf den Stegen entgegenkamen, betraten sie die Stadt. Kinder versteckten sich bei ihrem Anblick ängstlich hinter ihren Eltern oder rannten davon. Andere zeigten auf sie, lachten und staunten. Die Erwachsenen musterten sie mit mehr Fassung, doch dafür oft genug mit der üblichen Mischung aus Abscheu und Misstrauen. Sicher fragten sie sich, ob diese beiden merkwürdigen Wesen gefährlich waren. In Theroia hätten die Menschen die Stadtwache gerufen, aber in den friedlichen Elfenstädten gab es nichts dergleichen.

Vielleicht hätte ich das Rasieren doch nicht auf morgen verschieben sollen. Hol’s der Dunkle! Sie waren nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Er wollte Davaron die eigene Klinge zu schmecken geben, aber wie sollten sie ihn finden? »An wen kann man sich hier wenden, wenn man ein wichtiges Anliegen hat?«, fragte er den nächstbesten Elf. Bei seinem ungewollt barschen Ton verhärtete sich die Miene des Fremden.

»Geht zur Halle der Thala und fragt nach Kalianara«, riet er und wies gen Stadtmitte, bevor er sich rasch entfernte.

Sogleich schlug Athanor die angegebene Richtung ein. Die Häuser entlang der Stege waren aus hölzernen Rahmen errichtet, in denen aus Schilf geflochtene Matten die Wände bildeten. Auch darin ähnelten sie den Hütten am Fallenden Fluss, doch während jene grau und armselig gewirkt hatten, bestach das Flechtwerk der Elfen mit kunstvollen Mustern aus gelben, grünen, goldenen und braunen Gräsern. Es ähnelte eher den bunten Wandteppichen im Palast eines Königs als den einfachen Strohmatten eines Fischers.

Die Halle Thalas war nicht zu verfehlen. Umgeben von schwimmenden Plattformen, die einem ganzen Markt Platz geboten hätten, erhob sie sich über alle anderen Gebäude der Stadt. Die Säulen, die das Dach aus Perlmutt trugen, waren wie Fontänen geformt, sodass es wirkte, als schwebte das Dach auf sprudelndem Wasser. Die Elfenkünstler hatten sie aus angespülten Baumstämmen geformt, und Athanor fragte sich allmählich, ob es an diesem Ort überhaupt etwas gab, das nicht dem Wasser entnommen war.

Vor der Halle standen einige vornehm gekleidete Elfen in ein Gespräch vertieft. Als sie Athanor und Vindur bemerkten, verstummten sie und wandten sich ihnen zu. Aus Gewohnheit galt Athanors erster Blick den Gürteln der Versammelten. Wie unter Elfen üblich hingen keine Waffen daran. Sicher hatte Davaron in seiner Rüstung und mit dem Schwert an der Seite genug Aufmerksamkeit erregt, dass seine Ankunft den Würdenträgern zu Ohren gekommen war.

Eine Frau mit entschlossenen Zügen und langem, weißblondem Haar trat ihnen entgegen. Sie trug ein weißes, wie mit glitzernden Fischschuppen besticktes Kleid, das einer Königin zur Ehre gereicht hätte. »Ich grüße Euch, Sohn Kaysas«, sagte sie kühl und vermied es, Vindur anzusehen. Was nicht weiter schwierig war, da sie sogar Athanor um zwei Fingerbreit überragte. »Was führt Euch nach Sianyasa?«

Für einen Moment erwog Athanor, über ihre Unhöflichkeit verärgert zu sein. Das Gastrecht gebot, dem Fremden zunächst Gelegenheit zu geben, sich von der Reise zu reinigen und ihn dann zu einem Mahl zu bitten, bevor man ihn nach dem Anlass seines Besuchs fragte. Doch er hatte es ohnehin eilig, also beschloss er, darüber hinwegzugehen. »Seid Ihr Kalianara?«

Die Elfe nickte. »So ist es.«

»Wir verfolgen einen Mörder. Er hat Elanya …« Bei ihrem Namen wurde ihm die Kehle so eng, dass er das nächste Wort kaum herausbrachte. »… eine Tochter Ardas getötet, und seine Spur führt direkt in Eure Stadt. Er muss vor etwa zwei Tagen hier angekommen sein.«

Kalianara schüttelte den Kopf. »Ihr seid seit über tausend Jahren der erste Sohn Kaysas, der Sianyasa betritt. Ihr müsst Euch irren.«

»Davaron ist ein Elf, ein Sohn Piriths«, erklärte Athanor gereizt. »Er trägt eine schwarze Rüstung und …«

»Dieser Mann ist ein Mörder?«, fiel ihm die Elfe ins Wort.

Treffer! »Dann habt Ihr ihn gesehen?«

Kalianara wich zurück und musterte ihn skeptisch. »Wenn es stimmt, was Ihr sagt, warum wird er dann nur von Euch und einem Zwerg verfolgt? Haben die Ältesten der Abkömmlinge Piriths und Ardas keine Gesandten, um den Frevler vor Gericht zu bringen?«

»Eigentlich hat der Erhabene angekündigt, Boten zu allen Elfenvölkern zu schicken.« Bekam dieser große Redenschwinger nicht einmal das hin?

Die Elfe schürzte die Lippen. »Damit sind demnach wieder einmal nicht die Söhne und Töchter Thalas gemeint.«

Thala?

»Es gibt ein fünftes Elfenvolk?«, wunderte sich auch Vindur. In Anvalon saßen nur die Vertreter der Abkömmlinge Ardas, Heras, Ameas und Piriths im Rat.

»Wir sind die Söhne und Töchter der See«, antwortete Kalianara stolz. »Die anderen sehen auf uns herab, weil wir einer Verbindung aus Elfen aller Völker, vor allem Ameas und Heras, entstammen.«

Ein Volk von Bastarden. Athanor konnte sich lebhaft vorstellen, wie in Anvalon über sie gesprochen wurde. Hoffentlich bedeutete es nicht, dass sie Davaron deshalb Zuflucht gewährten. »Ich teile die Vorbehalte der anderen Elfenvölker nicht«, versicherte er. »Ich bin nur hier, um den B… Dreckskerl zur Strecke zu bringen, der …«

»… die berühmte Heilerin und Heldin des Heerzugs gegen die Untoten grausam ermordet hat«, beendete Vindur für ihn den Satz.

»Dann seid Ihr sicher der Mensch, der die Trolle befreite, und Ihr der Zwerg, der den Drachen erlegte. Es hat zwar niemand für nötig gehalten, uns von den Ereignissen in Kenntnis zu setzen, aber wir haben von Euch gehört.«

Das erklärt, warum es beim Heer keine Abkömmlinge Thalas gab.

»Athanor, Prinz von Theroia, und Vindur, Prinz von Firondil«, stellte sein Freund sie vor und reichte der Elfe die Hand.

Verblüfft sah Kalianara auf ihn hinab.

»Das ist ein zwergischer Brauch«, eröffnete Vindur ihr großmütig. »Man ergreift die Hand des anderen und bewegt sie auf und ab.«

Athanor sah, wie einige der Umstehenden das Gesicht verzogen. Selbst Elfenbastarde waren eben arrogantes Pack. Doch Kalianara rang sich ein kleines Lächeln ab und schüttelte Vindur die Hand.

»Er hat diese Narben beim Kampf mit dem Drachen davongetragen«, rieb Athanor ihnen unter die hoch getragenen Nasen. »Könnten wir jetzt auf den Mörder zurückkommen, bevor er auf und davon ist?«

»Ich bedaure. Er hat die Stadt bereits verlassen«, sagte Kalianara.

»Was tun wir jetzt?«, rief eine ältere Elfe mit weißem Haar. »Er könnte Eleagon und die ganze Mannschaft ermorden!«

»In welche Richtung sind sie geritten?«, fragte Athanor und spannte sich, um zurück zu den Pferden zu rennen.

Kalianaras Blick verhieß nichts Gutes. »Er befindet sich auf einem Schiff, das gen Dion fährt.«

Athanor 2: Der letzte König

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