Читать книгу Athanor 2: Der letzte König - David Falk - Страница 7
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ОглавлениеDer Sturm tobte die ganze Nacht. Irgendwann war Athanor endgültig auf die Knie gesunken. Das Wasser reichte ihm manchmal bis zum Gürtel, brandete ihm bis ins Gesicht. Ganz von selbst glich sein Körper das Auf und Ab der Wogen aus. Seine Arme wuchteten Eimer um Eimer Wasser über Bord, ohne dass er es merkte. Er hatte keinen Blick mehr für Vindur, dessen Flüche verstummten, oder die Elfen, die wie Gespenster durch die Dunkelheit spukten. Er starrte ins Leere, während er in Gedanken mit Hadon, dem Totengott stritt. Seit Ewigkeiten drehte sich ihr Disput im Kreis. Athanor erklärte, dass er nicht sterben würde, und der Dunkle grinste höhnisch. Noch nie hatte Athanor das Gesicht des Gottes so deutlich vor sich gesehen. Es war nicht das runde Antlitz, das bei Vollmond aus grünlichen Linien auf einer fahlen Scheibe bestand. Es glich eher einem Totenschädel – hager, unheimlich, mit Augen, in denen selbst das Licht der Sonne erlosch.
Plötzlich bewegte die Erscheinung dünne Lippen. Eine Stimme, kalt wie eine Winternacht, ertönte in Athanors Kopf. »Warum sollte ich dich zu mir rufen, wo du mir so treue Dienste leistest?«
Athanor schreckte auf, als hätte er geschlafen. Das Bild des Dunklen verschwand abrupt, und doch war ihm, als hätte er nie zuvor etwas Wirklicheres gesehen. Gab es die Götter etwa doch? Warum hatten sie dem Untergang der Menschheit dann tatenlos zugesehen? Warum waren alle Gebete und Opfer an den lichten Aurades vergebens gewesen, wenn er doch Nacht für Nacht seinen dunklen Bruder Hadon besiegte? Athanor schüttelte sein durchnässtes Haar, dass die Tropfen flogen. Es war leichter zu glauben, dass es keine Götter gab, als mit ihrem Verrat zu leben.
»Es hat nachgelassen«, keuchte Vindur jenseits des Masts.
Die heisere Stimme drang durch das Rauschen des Wassers wie aus einer anderen Welt an Athanors Ohr. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten ließ er den Eimer sinken und sah sich um.
»Du merkst es doch auch?«, fragte Vindur, als fürchte er, er könnte sich irren.
Athanor brummte nur. Die Wellen waren noch immer beeindruckend, doch sie reichten nicht mehr bis zur Mastspitze empor. Der Wind, der eben noch ohrenbetäubend gebrüllt hatte, wehte nur schwach. Verglichen mit dem wilden Ritt, den sie hinter sich hatten, glitt die Linoreia geradezu sanft die Wogen hinauf und hinab. Der graue Dunst um sie her wurde heller. Der eben noch eisenschwarze Ozean nahm die Farbe guten Stahls an.
Ein Elf stieß einen Schrei aus und eilte nach hinten, wo Thalasar mit geschlossenen Augen neben dem Ruder lag. Athanor wollte aufspringen, doch seine kalten, tauben Beine versagten ihm den Dienst. Medeam stürmte an ihm vorbei, um seinem Verwandten zu helfen.
»Ist er tot?«, rief Athanor und erkannte seine krächzende Stimme kaum wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte er die steifen Knie durch und richtete sich auf.
»Nein, er lebt«, antwortete Medeam.
Gemeinsam betteten die beiden Elfen ihren Schiffsführer auf die Kisten, die aus dem eingedrungenen Wasser ragten. So lag er nicht bequem, aber wenigstens so trocken, wie es auf dem verfluchten Schiff möglich war.
»Wir müssen das verdammte Wasser loswerden«, knurrte Athanor und zwang seine widerstrebenden Finger, sich erneut um den Henkel des Eimers zu schließen. Jeder Muskel in seinem Körper sträubte sich, die mühsam errungene aufrechte Haltung wieder aufzugeben, doch es musste sein. Solange er im Wasser stand, würde er nie wieder warm werden.
»Aber was hat er?«, fragte Vindur mit einem besorgten Blick auf Thalasar. Wie konnte sich der Zwerg noch so flink bewegen? Machte ihm die Kälte denn überhaupt nichts aus?
»Das kommt vom Zaubern«, erklärte Athanor. »Ich habe das schon bei Davaron gesehen. Wenn sie zu viel Magie verbrauchen, werden sie ohnmächtig. Das wird wieder.« Zumindest hoffte er, dass es so war, denn er wusste nicht, ob sie einer der anderen Elfen über den Ozean bringen konnte.
Für den Moment übernahm Medeam das Ruder und befahl den anderen, wieder das Segel zu setzen. So gelang es ihnen, etwas Wind einzufangen, während sie mit vereinten Kräften das Wasser zurück ins Meer beförderten. Bald war nur noch eine letzte hartnäckige Handbreit übrig. Wenn sie zum Schöpfen nicht Becher und Löffel benutzen wollten, mussten sie es hinnehmen.
Mit schweren Lidern sah sich Athanor ein letztes Mal um. Die Wogen waren nur noch wenig höher als die Bordwand, aber die Wolken hingen so tief, dass er in diesem Nebel kaum von einem Ende der Linoreia zum anderen blicken konnte. War Davarons Schiff noch irgendwo dort draußen, oder sank der Bastard gerade auf den Meeresgrund?
Es war sein letzter Gedanke, bevor er erschöpft auf die nassen Planken sank. Über ihm schlug das Segel nur noch ein paar lustlose Wellen. Athanor fiel in traumlosen Schlaf.
* * *
Wispernde Stimmen weckten ihn. Vielleicht sprachen die Elfen immer so leise, wenn sie beieinander standen, doch nach dem Sturmgebrüll kam es ihm wie Flüstern vor.
»Piriyath hat recht«, hörte er Thalasar sagen. »Das war kein gewöhnlicher Sturm. Auch ich habe Magie darin gespürt, starke Magie.«
»Aber wer außer einem Astar oder einem Gott könnte eine Nacht lang eine solche Macht entfesseln?«, staunte Medeam.
»Nur weil wir es nicht können, muss es kein Gott gewesen sein«, wehrte Thalasar müde ab. Seit wann waren Elfen so bescheiden?
Athanor öffnete die salzverkrusteten Lider. Seine Kleider waren immer noch klamm, seine Glieder kalt, und jede Bewegung fiel ihm so schwer, als hätte er eine Nacht lang mit einem Bären gerungen. Der Nebel nahm der Sonne jede Wärme. Wie eine Münze schimmerte sie durch den Dunst, gleich neben dem Segel, das schlaff herabhing.
Der Anblick erinnerte Athanor an seinen letzten Gedanken vor dem Einschlafen. War Davarons Schiff gesunken? Näherten sie sich endlich einer Küste? Er stand auf und sah sich um. Das Meer lag glatt wie ein zugefrorener See da. Nur das auf der Stelle schaukelnde Boot schlug träge Wellen, die sich im ölig wirkenden Wasser bald wieder verloren. An einigen Stellen reichte der Nebel noch bis zum Wasser hinab. An anderen rissen die weißen Schwaden bereits auf.
»Schiffsführer!«
Der Ruf war nicht laut, doch es lag eine solche Dringlichkeit darin, dass sich auch Athanor hastig umwandte. Vor ihnen ragte etwas Dunkles, schwer Bestimmbares aus dem Nebel. Obwohl es wirkte, als käme die Linoreia keinen Fingerbreit voran, wurde sie doch auf das Gebilde zugetrieben.
»Was ist das?«, fragte Medeam.
Niemand antwortete. Außer dem leisen Schmatzen des Wassers an ihrem Schiff war es totenstill. Athanors Hand langte nach dem Schwertgriff, der nicht an seinem Platz war.
»Bewaffnet euch!«, raunte Thalasar. »Vielleicht solltet Ihr Eure Nabelschnur durchtrennen.« Vage deutete er in Athanors Richtung.
Meine was? Athanor sah an sich hinab und entdeckte das Seil, mit dessen Ende er sich an den Mast gebunden hatte. Falls ihnen ein Kampf bevorstand, konnte es ihn in der Tat behindern. Kurz zerrte er mit steifen Fingern an dem aufgequollenen Knoten, dann zog er das Messer und schnitt sich los. Hastig öffnete er die Seekiste, in der er Schwert und Kettenhemd verstaut hatte. Sie stand bis zum Rand voll Wasser. Aufgeweichte Brotkrumen schwammen obenauf. »Verdammt!« Fluchend packte er in die trübe Brühe, zog den in Ölpapier eingeschlagenen Schwertgurt heraus und legte ihn an. Wenigstens die Klinge war in der Scheide erstaunlich trocken geblieben.
Um ihn herum zerrten die Elfen Harpunen zwischen Rudern und Kisten hervor. Rasch setzte Vindur den nassen Helm auf und riss die tropfende Hülle von seiner Axt. Thalasar stand mit dem konzentrierten Blick im Heck, der verriet, dass er zauberte. Schon blähte eine leichte Brise das Segel und trieb die Linoreia ein wenig schneller voran.
»Bleibt verteilt, sonst kentern wir!«, mahnte Medeam, als Athanor zu den beiden Elfen im Bug eilen wollte.
Noch immer verhüllte der Nebel, was vor ihnen aus dem Wasser ragte. Thalasar steuerte einen neuen Kurs, um dem Hindernis auszuweichen. Je näher sie kamen, desto klarer stach etwas Kantiges aus dem Dunst. Es sah aus wie … Holz?
»Ein Schiff!«, rief Piriyath.
»Untiefe voraus!«, schrie der Elf neben ihm.
Wasser rauschte unter dem Bug auf. Die Linoreia warf sich so abrupt zur Seite, dass Athanor um sein Gleichgewicht rang. Vindur murmelte einen Fluch in seinen Bart. Athanor merkte, wie sich die Planken unter seinen Füßen verformten. Mit leisem Knirschen schabten sie über Sand. »Wir hängen fest!«
Eine Böe blies so plötzlich ins Segel, dass die Linoreia mit einem Ruck von der Sandbank glitt. Bevor es wieder im Nebel versank, erhaschte Athanor einen Blick auf das Wrack, das mit zerbrochenem Rumpf im seichten Wasser lag.
»Ist das …?« Vindur hatte offenbar denselben Gedanken wie er. Doch das Segel, das in Fetzen vom Mast herabhing, sah zu verrottet aus, um von einem kürzlich gestrandeten Schiff zu stammen. Auch die Form des Hecks stimmte nicht. Es war höher und eckiger geformt als das der Elfenschiffe.
»Nein. Es kann nicht Davarons Boot gewesen sein.« Aber woher stammte das Schiff dann? Aus Dion? »Warum ist das Wasser hier so flach? Sind wir so nah an der Küste?«, rief Athanor.
»Wenn Ihr für einen Moment schweigen würdet, könnten wir lauschen, ob wir eine Brandung hören«, tadelte Thalasar.
Zähneknirschend hielt Athanor den Mund und horchte in den Nebel. Außer leisem Plätschern hörte er nichts. Im Bug hielten die Elfen nach weiteren Untiefen Ausschau und bedeuteten Thalasar mit ihrem Schweigen, dass er sich auf sicherem Kurs befand. Mit jedem Augenblick hob sich der Nebel höher, ballte sich umso dichter vor der Sonne, deren Licht schwand. Immer weiter reichte die Sicht über die spiegelglatte See. In welche Richtung Athanor auch blickte, sah er weitere Wracks aus dem Wasser ragen. Von einigen waren nur noch Kiel und Querstreben übrig. Verwittert und bleich lagen sie im Dunst wie die Knochen lange verstorbener Riesen.
»Bei allen Astaren«, flüsterte Piriyath, »das muss Abadon sein – die Schattenwelt der Ertrunkenen.«
Athanor schnaubte nur. Schließlich waren sie nicht ertrunken. Aber konnte er sich dessen sicher sein? Er war nass und kalt wie eine Leiche, die man aus einem Fluss zog …
»Wenn es nicht Abadon ist, hatten wir unfassbares Glück«, befand der junge Elf. »Wären wir im Sturm hierher geraten, hätten uns die Brecher zertrümmert.«
»Ich glaube eher, dass uns Thalasar gerettet hat«, erwiderte Medeam. »Du hast es gehört. Es war kein gewöhnlicher Sturm. Wir sollten hier zerschellen, aber Thalasar hat dem Zauber so lange standgehalten, dass der Plan nicht aufging.«
»Wenn das so ist, sollten wir lieber wachsam bleiben«, mahnte Vindur und sah sich misstrauisch um.
Medeam nickte. »Wohl gesprochen, Zwerg. Noch sind wir nicht hindurch.«
Schweigend spähten sie abwechselnd über die Bordwand ins Wasser und zu den reglos daliegenden Wracks hinüber. Immer wieder rief einer der Elfen im Bug Begriffe und Zahlen, die Thalasar offenbar halfen, zwischen den Sandbänken hindurchzunavigieren. Doch davon abgesehen blieb es unnatürlich still. Athanor konnte kaum glauben, dass er das unablässige Säuseln des Winds in seinem Ohr vermisste, doch es gehörte so fest zur Fahrt auf diesem Schiff, dass ihn sein Fehlen beunruhigte.
Wieder schweifte Athanors Blick über ein gestrandetes Boot. Es war noch kürzer als die Linoreia, aber ebenso breit und aus dickeren Planken gefügt. Wer außer den Elfen befuhr dieses Meer, und warum hatte er noch nie von diesen Seeleuten gehört? Wohin hatte der Sturm Davaron verschlagen? »Sollten wir nicht bleiben und nach dem Schiff dieses Eleagon su…« Er brach ab, als eine unscheinbare Woge beinahe lautlos gegen das Wrack schwappte. Aus Richtung der Linoreia kam sie nicht. Misstrauisch musterte er das Wasser.
»Da!«, rief Vindur hinter ihm. »Was ist das?«
Athanor wandte sich um, doch die See lag noch immer nahezu unbewegt. »Was?«
»Ein Aufwallen. Wie in einem Kessel auf dem Feuer, aber … Da!«
An einer Stelle hob sich das Wasser, als ob sich etwas darunter regte. Im nächsten Augenblick lag es wieder still.
»Was zum …« Athanor sah zu Thalasar, der mit gerunzelter Stirn aufs Wasser blickte.
»Jetzt ist es hier!«, gellte Medeams Ruf aus dem Bug.
»Es umkreist uns«, flüsterte der Elf neben Athanor. Die Linoreia schaukelte kurz, dann stand sie wieder aufrecht in der glatten See. Athanor glaubte, einen Schatten unter der Oberfläche zu sehen. Der Schemen zog an ihm vorbei, und wo er gerade noch gewesen war, wogte das Wasser.
»Festhalten!«, rief Thalasar. Seine Stimme ging in plötzlichem Rauschen unter. Etwas Gewaltiges schoss neben dem Bug der Linoreia empor und riss Schiff und Wasser mit sich. Jäh stieg die Linoreia in die Höhe und kippte dabei zur Seite. Athanor glaubte, Schreie zu hören, doch er konnte sich nur an die Bordwand klammern. Wasser prasselte ihm ins Gesicht, raubte ihm die Sicht auf das, woran das Schiff nun abglitt, mit fast waagrechtem Mast und doch vorangetrieben von Thalasars magisch beschworener Böe.
War es das Brausen des Winds, das Rauschen des Wassers, durch das die Linoreia raste wie von einem neuerlichen Sturm gepeitscht? Oder ein Brüllen, so laut, dass es die Planken unter Athanors Fingern zittern ließ? Mit einem Ruck richtete sich das Schiff wieder auf und jagte noch schneller dahin. Taue und Mast knarrten unter dem Wind, der Athanor Tränen in die Augen trieb. Hastig rappelte er sich auf und spähte zurück. Die Linoreia bockte, als ihr eine Sandbank einen Schlag unter den Kiel verpasste, doch sie flog weiter.
Hinter ihnen ragte ein grünlich glänzendes Ungeheuer aus dem Ozean. Es hatte nur Kopf und Hals aus dem Wasser gereckt, und doch blickte es aus Baumhöhe auf die schaumige Spur des Schiffs hinab. Lange Fäden hingen ihm wie Barteln um das geöffnete Maul, in dem Zähne wie Schwertklingen blitzten. Es mochte weder Flügel noch Feuer haben, doch es war zweifellos ein Drache. Die mit spitzen Hornplatten gespickte Rückenlinie teilte das Wasser, als er sich hinter ihnen herwarf und tauchte.
»Er folgt uns!«, brüllte Athanor gegen den Wind. Falls Thalasar ihn hörte, ließ es sich der Elf nicht anmerken. Er hielt das Ruder und starrte ins Segel hinauf. In den entschlossenen Zügen glaubte Athanor, Zeichen der Erschöpfung zu entdecken. Verdammt! Was konnten sie in dieser Nussschale einem solchen Ungetüm entgegensetzen?
Vindur zerrte unter der Ausrüstung den alten Schild hervor, den die Zwerge Drachenauge nannten. Sternförmig aufgebrachte Kupferblitze ähnelten der Iris eines Drachen, während der schwarze, längliche Schildbuckel die Pupille nachahmte. Mit Blut hatte Hrodomar Vindur darauf die Schildbruderschaft geschworen und war doch allein in den Tod gegangen. Vindur stellte sich mit Schild und Axt mitten im Boot auf. Seine grimmige Miene verriet keine Angst. »Mit einem Drachen hat meine Verbannung begonnen, und mit einem Drachen wird sie enden.«
Athanor sah sich um. Es musste irgendetwas geben, das er tun konnte. Der Ersatzmast! »Piriyath, gib deine Harpune her!«
Der Elf wandte sich vom Horizont ab, wo weit und breit keine Wracks mehr zu sehen waren. Vielleicht hatten sie die Sandbänke hinter sich gelassen. Die Linoreia fegte über die kaum vorhandene Dünung wie ein jagender Falke.
»Was willst du damit? Du hast dein Schwert«, murrte Piriyath gegen den Wind.
»Hilf mir lieber, den Ersatzmast loszumachen!«, herrschte Athanor ihn an und säbelte den ersten Strick entzwei. »Wenn wir deine Harpune an die Spitze binden, können wir ihn als Lanze verwenden.«
Wortlos sprang ihm Medeam zur Seite. Nun legte auch Piriyath Hand an. Wenige Lidschläge später hielten Athanor und Medeam die lange, etwas zu dicke Stange fest, während Piriyath mit Seemannsknoten seine Waffe daran befestigte.
»Nicht übel«, befand Vindur.
Athanor nickte, obwohl er Zweifel hegte. Die Schuppenhaut eines Drachen zu durchdringen, erforderte enorme Kraft, und der Boden unter seinen Füßen – das Schiff – gab jedem Druck nach. Hol’s der Dunkle! Sie hatten keine Wahl. Er packte den provisorischen Spieß und stützte das Ende an einer Querstrebe der Linoreia ab.
Noch blähte sich das Segel in Thalasars magischem Wind, dass die Takelung ächzte, doch das Gesicht des Elfs war vor Anstrengung grau und verzerrt. Er brach so plötzlich zusammen, dass Medeam nicht rechtzeitig bei ihm war, um ihn aufzufangen. Sein Kopf schlug auf die Bordwand. Sofort sickerte Blut durch das weiße Haar. Bewusstlos oder tot – in jedem Fall würde er sich nicht in einen Seelenvogel verwandeln und davonfliegen können.
Athanor wusste nicht, warum ihn der Gedanke berührte. Warum sollte es dem Elf besser ergehen als ihm? Über ihm fiel das Segel in sich zusammen, und sogleich verlor die Linoreia an Fahrt. Medeam übernahm das Ruder, während die anderen Elfen Thalasar hastig in die Mitte des Boots trugen und auf die Decken betteten. Athanor und Vindur behielten den Ozean hinter dem Schiff im Auge. Die Linoreia verlangsamte sich so rasch, dass es Athanor bereits vorkam, als trieben sie erneut auf der Stelle.
»Bei allen Astaren, bringt das Segel an diesen Hauch von Wind!«, schimpfte Medeam. »Piriyath, kannst du ihn verstärken?«
Die Elfen eilten an die Taue.
Piriyath sah gequält den Mast empor. »Ich habe kaum noch Kraft.«
Der Feigling will sich aufsparen, damit er abhauen kann! »Tu gefälligst …!«
Die Worte erstarben Athanor im Mund. Hinter dem Heck türmte sich rasend schnell Wasser auf, bevor ein riesiger, zottiger Schädel die Oberfläche durchbrach. Wie ein Korken, den man unter Wasser gedrückt hatte, schoss er auf seinem langen Hals in die Höhe. Sturzbäche rauschten an ihm herab. Wild schaukelte die Linoreia auf den aufgewühlten Wogen. Athanor rang darum, auf den Füßen zu bleiben. Schon fuhren die zähnestarrenden Kiefer auf ihn herab. Athanor brüllte, kämpfte gegen das Schwanken, um die Lanze auf das stinkende Maul zu richten.
Einen Augenblick lang wähnte er sich am Ziel, sah bereits vor sich, wie die Harpune in den Rachen drang. Doch in diesem Moment kippte die Linoreia zur anderen Seite. Er verriss die Spitze, spürte, wie sie über die Schuppen des Drachen glitt. Einen Lidschlag lang sah er dem Ungeheuer ins flammenrote Auge, dann packten die mächtigen Kiefer zu, schlossen sich um den splitternden Spieß und schleuderten ihn samt Athanor in weitem Bogen zur Seite.
Es ging so schnell, dass er nicht einmal loslassen konnte. Er spürte pfeifende Luft und Schwerelosigkeit, bis er platschend aufschlug. Der Mast prellte ihm aus den Armen. Plötzlich war nur noch kaltes, graues Wasser um ihn, drang in Augen, Nase und Mund. Keuchend kam er wieder an die Oberfläche, hustete, trat um sich, um nicht sofort wieder unterzugehen. Endlich klärte sich seine Sicht. Gegen das Wasser blinzelnd entdeckte er die Linoreia. Gestalten rannten auf dem Boot, doch im nächsten Moment verdeckte der Drache sie. Wie eine Schlange wand er sich um das Schiff und drückte zu. Er war so groß, dass Athanor nur die Mastspitze über dem grün geschuppten Leib aufragen sah. Ein lautes Bersten und Krachen ertönte. Zersprungene Planken flogen in alle Richtungen und klatschten ins Meer.
Drei weiße Vögel stiegen mit raschen Flügelschlägen in den Nebel auf. Gegen den Drachen wirkten sie klein, doch sie mussten die Größe von Adlern haben. Das Ungeheuer stieß ein Fauchen aus und schnappte nach einem von ihnen, doch der Seelenvogel wich aus und stieg höher. Zornig biss der Drache um sich, als wollte er wenigstens irgendeinen seiner fliehenden Gegner erwischen. Aber der Dunst hing zu tief, und ihre Farbe tarnte die Vögel. Einen Augenblick später waren sie verschwunden.
Der Seedrache sandte ihnen ein Brüllen nach, das Athanor aus seiner Starre riss. Wenn ihn der Drache entdeckte, war er verloren. Hastig holte er Luft und tauchte unter, schwamm unter Wasser, so weit er konnte, bevor seine Lunge zu platzen drohte. Lebte Vindur noch? Konnte er ihm helfen? Er strich sich die triefenden Haare aus den Augen, während er Luft holte, und sah sich nach der Linoreia um. Nur noch treibende Trümmer waren von ihr geblieben. Aus seiner Perspektive konnte er sie kaum noch sehen. Der Drache wütete darin, drosch mit seinem peitschenden Schwanz auf den Ozean ein, dass Wasser schier bis zum Himmel spritzte.
Du wolltest nie wieder Freunde zurücklassen, erinnerte ihn eine Stimme aus seinem Innern.
Athanor ballte die Fäuste. Vindur konnte nicht einmal schwimmen. Er war längst ertrunken, wenn ihn der Drache nicht zuvor zerquetscht hatte. Wenn ich jetzt abhaue, kann ich vielleicht eine Sandbank erreichen. Allerdings lagen die Wracks bereits weit zurück, und der Nebel wurde wieder dichter. Ohne Sonne würde er die richtige Richtung niemals finden.
Willst du Vindur im Schattenreich einst gegenübertreten und ihm sagen, dass du nicht einmal versucht hast, ihn zu retten?
»Götterverflucht«, zischte er, »ja! So bin ich nun mal!« Auf diese Art war er den Drachen aus dem brennenden Theroia entkommen – und ihren Chimären auf der Jagd nach Flüchtlingen. Alles und jeden hatte er verraten und im Stich gelassen, um zu überleben.
Der Drache pflückte mit den Zähnen das Segel aus dem Wasser und schüttelte es samt dem daran hängenden Mast wie ein Wolf seine Beute.
Dieses Mal ist es anders. Vindur wollte sterben. Er wollte endlich seinem Schildbruder in die Schmiede des Großen Baumeisters folgen, wie es sein Schwur vorsah. Aber ich habe noch eine Aufgabe zu erfüllen.
Athanor wandte sich ab und tauchte. Erneut brachte er so viel Abstand zwischen sich und den Drachen, wie er konnte, bevor er Atem holte. Wieder und wieder tauchte er. Das Schwert an seiner Seite zog immer schwerer an ihm. Was brachte es ihm hier schon? Fort damit! Als er die Gürtelschnalle löste, sank es sofort. Er schwamm weiter. Längst verbarg sich die Sonne hinter den Nebelschleiern. Leichte Wellen kräuselten das Wasser, klatschten ihm ins Gesicht, als wollten sie ihn verhöhnen. Das ewige Salz in seinem Mund machte ihn durstig. In welche Richtung musste er nun? Es war fast leichter zu tauchen, als gegen diese heimtückischen Wellen anzuschwimmen. Immer im falschen Moment schwappten sie bis in seine Nase hinauf.
Tritt nicht auf der Stelle! Hier gibt es nichts. Beweg dich!
Es dämmerte. Irgendwo hinter dem verfluchten Dunst ging die Sonne unter. Athanor peitschte sich weiter. Das Wasser, das ihn auf seltsame Art trug, lähmte zugleich seine Glieder. Oder war es die Kälte? Wann hatte er begonnen zu zittern? Er erinnerte sich nicht mehr, und irgendwann hörte es wieder auf. Es wurde Nacht. Er wusste nur noch, dass er nicht untergehen durfte. Dieses Wasser war zu tief. Er würde sinken und sterben und weitersinken, hinab in die Schattenwelt. Der Ozean hatte ein Ende. Wenn er nur lange genug durchhielt, würden ihn die Wellen an Land tragen – an die Küste der Elfenlande zurück oder nach Dion.
Niemand kann tagelang schwimmen.
Athanor ignorierte die Stimme und bewegte die schwerfälligen Beine. Obwohl es so dunkel war, glänzte das Wasser, und der Nebel hing grau, nicht schwarz über ihm. Vielleicht stand der Mond am Himmel, und der Dunkle sah amüsiert auf seinen dummen Hund herab, der einfach nicht aufgeben wollte. Bewegte er sich wirklich noch? Wasser drang in seine Nase. Athanor schreckte hoch. Er musste für einen Moment eingenickt sein. Mit neuem Schwung schob er sich mit Armen und Beinen durchs Wasser, als sei er wirklich ein Hund. Doch die Kraft verließ ihn so rasch wieder, wie sie gekommen war. Sein Nacken war steif. Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich eine Weile treiben. Wieder fielen ihm die Augen zu. Er merkte es erst, als Wasser in seinen Mund lief. Das Husten schenkte ihm erneute Kraft, doch diese Momente wurden immer kürzer. Er ahnte, dass er den kommenden Tag nicht mehr überleben würde.
Hör endlich auf zu kämpfen, du Narr, und stirb!
Allmählich bekam die Vorstellung etwas Verlockendes. In der Schattenwelt mochte es ebenso kalt und dunkel sein, aber wenigstens wäre es ihm dann gleich. Oder nicht? Ich mag kein Held sein, aber ich ergebe mich nicht. Ich werde Davaron finden. Wieder zwang er seine zentnerschweren Beine, sich zu bewegen. Einmal, zweimal, dann streifte etwas sein Knie.
* * *
Den ganzen Sturm hindurch hatte Eleagon Davarons Schwertgurt getragen. Jetzt hob er ihn so hoch, dass er den dunklen Kristall am Knauf der Waffe genau betrachten konnte. »Die Träne eines Astars. Es scheint tatsächlich etwas von der Macht eines Astars darin gespeichert zu sein.«
Davaron bemerkte sehr genau, wie sich der junge Schiffsführer überwinden musste, ihm das Schwert zurückzugeben. Dieser Mann besaß Ehrgeiz, sonst hätte ihn die Aussicht auf Ruhm nicht gelockt.
Eleagon gab sich einen Ruck. Das sonnengebleichte Haar hatte er sich in einem Zopf aus dem Gesicht gebunden, was seine fast weißen Augen noch eindringlicher zur Geltung brachte. »Hier. Nehmt es! Wir alle schulden Euch Dank dafür, dass Ihr es mir geliehen habt. Ohne die Kraft dieses Steins hätte ich dem Sturm weit weniger zu trotzen vermocht.«
Vergesst es nicht gleich wieder, dachte Davaron säuerlich, doch er winkte ab. »Ich wollte uns allen ein unfreiwilliges Bad ersparen, aber damit war ich nicht besonders erfolgreich.«
Die Besatzung der Kemethoë lachte. Ihnen allen tropfte noch Wasser aus Haaren und Kleidern, doch Sonne und Wind würden sie bald getrocknet haben. Nur noch Salzränder würden dann an die vergangene Nacht erinnern.
Da er den Schwertgurt einhändig nur mühsam anlegen konnte und zu erschöpft war, um es zu versuchen, behielt Davaron ihn in der Hand. Schön, dass alle so erleichtert sind. Dabei hatte er in größerer Gefahr geschwebt als sie alle. Er war der Einzige auf diesem Schiff, der sich nicht in einen Vogel verwandeln und wegfliegen konnte, wenn es sank.
Linker Hand hing in der Ferne Dunst über dem Wasser. Vielleicht tobte der Sturm dort noch immer. Doch in alle anderen Richtungen erstreckten sich harmlose, strahlend blaue Wellen, in denen sogar ein paar Delfine sprangen. Als hätte es diese Nacht nicht gegeben.
Eleagon rieb sich nachdenklich das Kinn. »Dieser Sturm war ungewöhnlich. Er wechselte immer wieder die Richtung.«
»Es lag Magie darin«, behauptete Mahanael, dessen selbst für einen Elf hohe und schlanke Gestalt ebenso auf Ahnen unter den Abkömmlingen Heras schließen ließ wie seine durchscheinende Haut. Wenn sich jemand aus der Mannschaft auf Luftmagie verstand, dann er.
Die anderen nickten.
»Na und?«, fragte Davaron argwöhnisch. Wollten die tapferen Söhne Thalas deshalb etwa umkehren? »Wir haben den Sturm überstanden. Verschwinden wir lieber, bevor ein neuer aufkommen kann.«
»Ich weiß nicht, Schiffsführer«, wandte Mahanael ein. »Niemand entfesselt solche Gewalten zum Vergnügen. Irgendein Wesen mit sehr viel Macht will verhindern, dass wir unser Ziel erreichen.«
»Astare haben schon ganz andere Dinge zu ihrem Vergnügen getan«, entgegnete Davaron. »Von Göttern ganz zu schweigen. Ihr seid kurz davor zu vollbringen, was seit über tausend Jahren niemandem gelang. Es wäre lächerlich, jetzt aufzugeben.«
Alle Blicke richteten sich auf Eleagon, der trotzig das Kinn vorschob. »Natürlich wäre es lächerlich. Wir fahren weiter!«
Zufrieden zog sich Davaron auf eine Bank zurück, um den Seeleuten nicht im Weg zu sein. Dass in diesem Unwetter Magie gewirkt hatte, war selbst ihm nicht entgangen – obwohl er weder Luft- noch Wasserzauber beherrschte. Wollte sie wirklich jemand aufhalten? Auch wenn Peredin und der Hohe Rat vor Wut schäumten, reichte Anvalons Arm nicht so weit übers Meer. Dessen war er sicher. Niemand würde ihm nach Dion folgen, und wenn er die dunkle Magie dieses geheimnisvollen Lands erlernt hatte, konnte er heimlich zurückkehren und seinen Schwur erfüllen. Doch wer sollte sonst etwas dagegen haben, dass seine Flucht gelang? Besaßen die Chimären so viel Macht? Elanya zu töten, hatte Chrias Pläne durchkreuzt. Nahm die Harpyie ihre Niederlage einfach so hin? Auf dem ganzen Weg zur Küste hatte er erwartet, dass sich ein kreischender Schwarm auf ihn stürzte, doch nichts war geschehen.
Plötzlich schnürte sich ihm die Kehle zu. Wusste Chria, wo er Eretheya versteckt hatte? Tobte sie ihre Rache an Mevethas zerbrechlichem Leib aus? Diese Möglichkeit hatte er nicht bedacht. Dieser ganze Ausflug war nicht nach Plan verlaufen. Er hatte erwartet, dass Elanya vernünftig und zum Wohle aller handelte. Hatte sie das nicht immer getan? Wäre sie einsichtig gewesen, hätte er die Elfenlande nicht verlassen müssen und könnte die Höhle beschützen.
Doch nun saß er auf diesem Schiff. Falls sich die Chimären tatsächlich an seiner Familie vergriffen hatten, war es längst zu spät. Er musste darauf hoffen, dass sich Chria dieses Druckmittel aufhob, um ihn doch noch auf ihre Seite zu zwingen. Genau das wird sie tun.
Davaron stand auf und schöpfte sich einen Becher Wasser aus dem letzten Fass. Es schmeckte bereits brackig, weil es schon so lange in der Sonne stand. Sie konnten nicht mehr umkehren. Sie mussten Dion erreichen und Wasser finden.