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Der Adel

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Über die Jahrhunderte hinweg bewies der preußische Adel einen erstaunlichen Überlebensinstinkt und genoß bis zum Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 deren Rückendeckung. Vom 16. Jahrhundert an hatten die Junker gelernt, die Getreideproduktion zu organisieren und vom Verkauf des Getreides auf dem Weltmarkt zu profitieren. Die Junker hatten die Vorherrschaft über den florierenden Agrarsektor und besaßen starken Einfluß auf den Thron, der sie bei der Besetzung hochdotierter Armee- und Staatsfunktionen bevorzugte. Und selbst nach 1807, als die gravierendsten Formen der Leibeigenschaft beseitigt worden waren, behielten die Junker das uneingeschränkte Verwendungsrecht über die landlosen bäuerlichen Arbeitskräfte.

Gewiß waren die Junker längst nicht so reich wie manche englischen Großgrundbesitzer, und sie besaßen ein geringeres kulturelles Niveau als ihre französischen Standesgenossen. Doch auf lange Sicht waren weder Reichtum noch kultureller Glanz entscheidend; im Gegenteil ließ gerade die verhältnismäßige Bescheidenheit ihrer Situation die Junker mächtiger werden. Anders als der von seinen Gütern gewöhnlich abwesende französische Adel, verwalteten die meisten Junker ihre Besitztümer selber. Die Vormachtstellung des Adels über die Bauern wurde durch seine Rechtshoheit und militärische Autorität verstärkt. Auch im 19. Jahrhundert bedrohten weder die Bauern noch der Thron die wichtigsten Privilegien der Junker. Solange deren Getreide billiger war als das Getreide aus anderen Ländern, blieb die ostpreußische Landwirtschaft ein entscheidender Wachstumsfaktor, der jedoch die Industrialisierung des Landes hinauszögerte. Das war damals noch nicht so deutlich absehbar, und die Preußenkönige und ihre Bürokratie folgten der Devise, demzufolge all das, was dem Adel nützlich war, auch der ökonomischen Entwicklung des Landes zugute kommen würde.

Dennoch war die Machtstellung der Junker keineswegs immer gefestigt gewesen. Die entscheidende gesellschaftliche Veränderung des Junkerstandes vollzog sich mit dem Übergang der feudalistischen zur kapitalistischen Ordnung in den Jahren zwischen 1775 und 1825. Dies war die Zeit, in der einige junge Adlige die Töchter und Frauen jüdischer Finanziers besuchten, ihnen den Hof machten und zuweilen sogar heirateten. Um zu verstehen, warum sie dies taten, müssen wir die Krise des preußischen Adels etwas genauer betrachten.

Das Dilemma des Adels war zum Teil die Folge demographischer Veränderungen. Der rapide Bevölkerungszuwachs trieb den Nahrungsmittelbedarf in die Höhe. Die Nachfrage übertraf das Angebot, und zum ersten Mal seit dem Dreißigjährigen Krieg überstiegen in Deutschland die Getreidepreise die Gewerbepreise. Die Preisexplosion hing zudem mit dem Niedergang der Landwirtschaft in England zusammen, wo der Abschluß des Einhegungsprozesses und die Verlagerung der Textilproduktion aus der dörflichen Heimarbeit in die Fabriken dazu führten, daß England von der Einfuhr preußischen Roggens und preußischer Gerste abhängig wurde. In Preußen wiederum führten die steigenden Getreidepreise zu einem Anstieg der Grundstückspreise, verstärkt noch durch den Wunsch vieler wohlhabender, vor allem in Berlin lebender Bürger, ihr Kapital vorzugsweise in Land anstatt in Manufakturen anzulegen. Da Landerwerb den Bürgerlichen jedoch gesetzlich verboten war, wurden entsprechende Geschäfte zunehmend illegal abgewickelt. Land wurde in Preußen so zum profitablen Spekulationsobjekt.

Trotz dieser für die Junker vorteilhaften ökonomischen Entwicklung war es durchaus nicht ausgemacht, ob die Politik des Staates, die Erbschaftsregelungen sowie die Geburtsziffern ihnen die dauerhafte Sicherung ihrer Vorteile erlauben würden. Um ihre Exportgewinne zu erhöhen, waren die Junker auf eine Herabsetzung der Zwischenhandelszölle für Getreide angewiesen, was sie 1790 unter Friedrich Wilhelm II., als der Merkantilismus keine so gewichtige Rolle mehr spielte, auch erreichten. Um jedoch die für einen profitablen Getreideexport notwendigen Produktionsverbesserungen durchzuführen, bedurfte der Adel entsprechend großer Ländereien und Geldmengen. Hier stießen die Junker auf ein gravierendes Problem; denn in zunehmendem Maße besaßen ihre Familien weder das eine noch das andere. Da es in Preußen kein Erstgeburtsrecht gab, wurden die Länder häufig zu gleichen Teilen unter den Söhnen aufgeteilt. Andererseits verstärkte der Kapitalmangel den äußeren Druck dahingehend, die parzellierten Ländereien an den Meistbietenden zu verkaufen. In Folge des Geburtenzuwachses und der Abnahme kriegs- und epidemiebedingter Sterblichkeit wurden die Adelsfamilien größer, und damit wuchs entsprechend die Zahl derer, die Erbansprüche stellten. Um unverheiratete Töchter mit Mitgiftansprüchen vom Heiratsmarkt fernhalten zu können, fehlte es dem protestantischen Preußen an Klöstern. Die Versuchung, benötigtes Bargeld im Austausch für teuer gewordenes Land zu erwerben, wurde folglich immer größer.

Die Entfremdung des Adels vom Land wurde noch dadurch beschleunigt, daß die Junker ihre Söhne in den Heeres- und Staatsdienst schickten. Diese zwischen Krone und Adel übliche Praxis zielte nicht zuletzt darauf, den Druck der Erben auf Land oder Geld zu mildern. Doch war dieses System nicht ohne Widerhaken: Immer mehr junge Adlige, deren Existenzsicherung in den ländlichen Provinzen zunehmend schwieriger wurde, zogen in die Stadt und konkurrierten dort um Stellungen in der Verwaltung oder der Armee. Doch nahm gerade zu jenem Zeitpunkte die Zahl der qualifizierten bürgerlichen Mitwerber rapide zu. Selbst wenn der Adel über das notwendige flüssige Kapital verfügt hätte, wäre er nicht imstande gewesen, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Die preußische Bürokratie war von jeher standesbewußt: Ein Offizier war nicht käuflich. Adlige Offiziere verdienten selten genug, um heiraten und ein standesgemäßes Leben führen zu können. Gelang es ihnen doch, so hatten ihre Töchter erneut Schwierigkeiten, die für einen noblen Lebensstil erforderliche Mitgift zu erhalten.

Friedrich der Große, der ein offenes Ohr für die Probleme des Adels besaß, machte die Praxis seines Vaters, Bürgerliche mit hohen Ämtern zu betrauen, rückgängig und reservierte sie für Adlige. Doch gab es nicht genügend Ämter und Posten. Immerhin lebte gegen Ende des 18. Jahrhunderts rund ein Drittel aller brandenburgischen Adelsfamilien ausschließlich von städtischer Erwerbstätigkeit. Wie ihre auf dem Land zurückgebliebenen Verwandten, die Berlin regelmäßig besuchten, entwickelten sie einen aufwendigen höfischen Lebensstil, der ein Grund mehr dafür war, Ländereien teilweise oder ganz zu verkaufen. Damit begann ein Teufelskreis, der die ökonomische Situation der Junker ernsthaft gefährdete. Nur ein Drittel der Adelsfamilien lebte ausschließlich von den Erträgen seinen Ländereien; mehr als ein Zehntel der Ländereien gehörte bereits Bürgerlichen, und selbst der offiziell in adligen Händen befindliche Grundbesitz war etwa zur Hälfte an Bürgerliche verschuldet. Die aus der Landparzellierung und dem Verkauf auf dem preisexplosiven Grundstücksmarkt gezogenen schnellen Gewinne machten die Mitglieder jenes „glücklichen Standes“ blind für die langfristigen Folgen solcher Praxis.

Friedrich der Große war bis zu seinem Tod 1786 um Abhilfe bemüht, selbst auf das Risiko hin, wegen der wachsenden adligen Majorisierung der Armee und der Verwaltung Publizisten und Beamte gegen sich aufzubringen. Doch reichte die Bevorzugung des Adels bei der Ämtervergabe zur Lösung seiner ländlichen Probleme nicht aus. Zwei Lösungsversuche, die Friedrich der Große und seine unmittelbaren Nachfolger initiierten, waren nicht sofort von Erfolg gekrönt. Zum einen wurden Familientreuhandgesellschaften eingerichtet, die eine weitere Parzellierung der Ländereien durch nachfolgende Generationen verhindern sollten, sich aber nur langsam durchsetzten, weil es verführerisch blieb, die Schulden, die man in der Stadt gemacht hatte, durch den Verkauf von kleinen Landstücken zu hohen Preisen zu begleichen. Zum anderen sollten die Schlupflöcher, welche es Bürgern de facto erlaubten, adligen Grundbesitz zu erwerben, geschlossen werden. Berücksichtigt man jedoch die strukturelle Schwäche des industriellen Sektors, so waren die Bürger nur schwer von solchen Ambitionen abzubringen: Deutschland war eben nicht England. Weder Heimindustrien noch Luxusgütermanufakturen boten dem überschüssigen bürgerlichen Kapital sichere Investitionsmöglichkeiten. Wäre es den Bürgern im anbrechenden 19. Jahrhunderts jedoch möglich gewesen, im selben Maße wie in den Jahrzehnten zuvor Grundbesitz zu erwerben, so hätte dies mit Sicherheit das Bodenmonopol des Adels gebrochen.

Um Bürgerliche vom Zugriff auf Land abzuhalten, ihnen aber Investitionen in die Getreideproduktion zu ermöglichen, wurde 1793 eine Landwirtschaftsbank gegründet. Der Adel war dazu angehalten, seine Besitzstände auf genossenschaftlicher Grundlage zu organisieren, und erhielt dafür im wesentlichen „bürgerliche“ Anleihen auf seine verschuldeten Ländereien. Im Gegenzug wurden den Bürgerlichen für ihre Kredite hohe Zinsen bewilligt, so daß zusätzliches Geld in Umlauf kam, das in die landwirtschaftliche Produktion investiert werden konnte. Kein Bürgerlicher konnte fortan jedoch mehr Grundbesitzer werden, nicht einmal inoffiziell. Aus Angst davor, sein Land als Sicherheit anzubieten, dauerte es zwar lange, bis der Adel imstande war, die Vorteile dieser staatlichen Initiative zu nutzen. Doch blieb ihm auf Dauer keine andere Wahl, wenn er nicht als Gruppe untergehen wollte.

Als Gruppe untergehen bedeutet im wesentlichen den drohenden Verlust der engen Verflechtungen, wie sie zwischen Geburts- und Dienstadel bestanden. Ob Gutsbesitzer oder Staatsdiener – die männlichen Mitglieder des Adelsstandes bildeten einst eine exklusive Einkommensschicht auf höchstem Niveau. Die enge Verflechtung entsprach der Ständegesellschaft. Jeder Stand – Adlige, Bürgerliche und Bauern – hatte eine bestimmte gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, der ein bestimmter Grad des Wohlstands (oder der Armut) entsprach. Im Laufe des Jahrhunderts ließ die Einbindung des Adels in die höchsten Einkommensgruppen nach, und eben darin bestand das Problem. Die Krise der Agrarwirtschaft führte dazu, daß die Besitzer kleiner Ländereien verarmten, während Bürgerliche das Monopol des Adels auf Grundbesitz durchbrachen und mit Adligen um die Ämter im Staatsdienst konkurrierten. Befördert auch durch den Ausbau des Bildungswesens und die Entstehung einer kaufmännischen Elite, waren die höchsten Einkommensgruppen nicht mehr allein vom Land- und Dienstadel besetzt. Die Geburt bot keine hinreichende Voraussetzung mehr dafür, daß Adlige so zu leben vermochten, wie es ihrem Stande entsprach.

Dennoch starb der Adel nicht aus. Nach den zwischen 1807 und 1813 erfolgten Reformen überlebte ein kleinerer, konsolidierter Adelsstand und gelangte im Laufe des 19. Jahrhunderts sogar zu neuer Blüte. Trotz des Verlustes einiger Standesrechte gegenüber der Bauernschaft blieb den Junkern die Kontrolle über die ländlichen Arbeitskräfte mehr als erhalten. Daran änderte auch die Abschaffung der Leibeigenschaft nichts, zumal eine mobile und lohnabhängige Bauernschaft, die im Anschluß an die Ernte wieder entlassen werden konnte, billiger als Leibeigene waren, für deren Unterhalt ganzjährig gesorgt werden mußte. Durch den Aufkauf der Güter von verarmten Adligen, den sogenannten Kohljunkern, verfügte der Landadel des 19. Jahrhunderts auch häufig über mehr Land als zuvor. Der Kapitalmangel unter der kleinen Gruppe von Großgrundbesitzern ging auch dadurch zurück, daß die ehemaligen Leibeigenen nun, da sie ihre Arbeitskraft für Geld verkauften, bei den Gutsbesitzern einkaufen konnten. Schließlich beseitigten die Reformen ein weiteres Hindernis für das Überleben des Adels: Dessen männlicher, bislang häufig beschäftigungsloser Nachkommenschaft wurde fortan gestattet, bürgerliche Berufe auszuüben. Darüber hinaus hielt sich der Thron mit dem Verkauf neuer Adelstitel zurück. Um die Liquidität des Staates zu sichern, gaben die Hohenzollern, anders als die Habsburger, der Besteuerung des Volkes gegenüber dem Verkauf von Titeln den Vorzug.

Gleichzeitig stieg dank des neuerlichen und diesmal legalen Zustroms bürgerlichen Kapitals in die Landwirtschaft die Effizienz der Getreideproduktion. 1820 begann für die preußischen Großgrundbesitzer eine Ära des Wohlstandes, die ein halbes Jahrhundert andauern sollte. Als preußisches Getreide sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einer starken auswärtigen Konkurrenz gegenübersah, verlangten die Gutsbesitzer protektionistische Hilfsmaßnahmen von seiten des Staates, die sie nach Überwindung einiger Schwierigkeiten erhielten. Die ökonomischen und politischen Kosten ihres Sieges zu Lasten der modernen deutschen Entwicklung gehören zu einer Geschichte, die anderswo erzählt wird.

Für die Geschichte, die wir erzählen wollen, bleibt festzuhalten, daß das Vierteljahrhundert vor 1806 für den preußischen Adel eine höchst bewegte und entscheidende Zeit war. Zunehmend mehr Adlige strömten während dieser Zeit in die Stadt und sahen sich dort mit neuen Werten, neuen Ideen und neuen Freunden konfrontiert. Die geistigen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der Stadt erhöhten die Wahrscheinlichkeit, daß sie zur jüdischen Salongesellschaft stießen. Und auf eine verwickelte Art und Weise ebneten die finanziellen Sorgen der Adligen den Weg in die Salons und trugen insbesondere dazu dabei, daß sie gelegentlich jüdische Frauen, denen sie dort begegeneten, heirateten.

Die jüdischen Salons im alten Berlin

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