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Die Rahelzeit

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Als ich in einem Bildarchiv mit der Auswahl der Illustrationen für dieses Buch beschäftigt war, hörte ich beiläufig, wie ein Angestellter seinem Kollegen mein Thema beschrieb: „Sie arbeitet über die Rahelzeit.“ Für mich war diese Etikettierung eine wahre Erleuchtung: Mir wurde auf einmal bewußt, daß die Deutschen ihre Geschichte häufig an Personen festmachen. Man denke nur daran, daß die Namen von Friedrich dem Großen, Otto von Bismarck oder Wilhelm II. in der Geschichtsschreibung für die jeweilige Ära stehen. Vollends ungewöhnlich ist es jedoch, in einer Frau und Jüdin, die weder über politische Macht noch über außerordentliche intellektuelle Meriten verfügte, die Schlüsselfigur einer Epoche zu sehen. Daß die für die deutsche Geistesgeschichte so zentralen Jahre zwischen 1780 und 1806 nun ausgerechnet mit dem Namen einer Jüdin in Zusammenhang gebracht werden, sagt einiges über die Besonderheit dieser Epoche aus. Zu dieser Zeit war es offenbar möglich, berühmt zu werden, auch wenn man weder Mann noch Christ war, weder Titel oder Bürgerrechte oder gesellschaftlichen Status besaß und nicht einmal seine Gedanken in schriftlicher Form an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Herauszufinden, warum Rahel und einigen ihrer jüdischen Freundinnen das gelang, ist das Ziel dieses Buches.

Rahel Varnhagens Popularität innerhalb des exklusiven Kreises frühromantischer Intellektueller begann in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Da war sie noch Mademoiselle Levin, eine wohlhabende Jüdin Mitte zwanzig, die das Dachgeschoß ihres Elternhauses im Zentrum von Berlin bewohnte. Seit ihrer Jugend suchte sie die Bekanntschaft mit prominenten Nichtjuden, die sie schon als Kind von Ferne musterte, wenn sie im Haus ihrer Freundin Brendel spielte, deren Vater, Moses Mendelssohn, Europas berühmtester und gefragtester jüdischer Intellektueller war. Rahels Vater, ein Juwelenhändler mit Beziehungen zum Hof, pflegte Schauspieler und Adlige zum Abendessen in sein Haus einzuladen und ihnen bei solchen Gelegenheiten auch Geld zu verleihen. Noch aber fühlte sich die junge Rahel als Schlehmil, als ein Niemand, wenn Leute wie Alexander und Wilhelm von Humboldt und deren Freunde am Familientisch beisammensaßen.

Doch mit der Zeit bahnte sich auch Mademoiselle Levin ihren Weg in den Humboldt-Kreis. Sie entschloß sich, ihre Bindungen zur jüdischen Gemeinde abzubrechen, und sie weigerte sich, die von ihrer Familie in die engere Wahl gezogenen jüdischen Geschäftsmänner zu heiraten. Statt dessen versuchte sie, ihr Deutsch und Französisch zu verbessern, las und engagierte sogar einen Hofmeister, um Mathematik zu lernen. Sozial ungebunden zu sein und moderne Sprachen sowie Umgangsformen zu beherrschen, war für die eben Zwanzigjährige um so vorteilhafter, als sie während eines sommerlichen Badeurlaubs in Böhmen ausländische Diplomaten und deklassierte adlige Damen kennengelernt hatte. Auf ihre neuen Freunde wirkte Rahel exotisch, charmant und empfindsam. An Winterabenden in der Stadt, nach dem Theater, empfing sie häufig Gäste, die wiederum Freunde vom Hof mitbrachten. Aus diesem Freundeskreis erwuchs allmählich Rahel Levins Salon.

Auch Rahels Freundinnen aus der Kinderzeit kamen in der Berliner Gesellschaft zu Ansehen, wenn auch auf anderen Wegen. Brendel Mendelssohn, die mit neunzehn Jahren einen von ihrem Vater auserwählten jüdischen Geschäftsmann geheiratet hatte, verstand es dennoch, sich ein eigenständiges gesellschaftliches Leben aufzubauen. Sie änderte ihren Namen in Dorothea, verkehrte mit der literarischen Welt und gründete eine Lesegesellschaft, die sich jeden Donnerstagabend bei ihr zu Hause einfand. 1798, im Alter von 34 Jahren, begegnete sie im Haus eines jüdischen Freundes Friedrich Schlegel, der gerade im Begriffe war, sich als Literaturkritiker einen Namen zu machen. Dorothea verliebte sich in ihn, verließ ihren Mann und verbrachte mit Schlegel den Rest ihres nicht ganz einfachen Lebens. Henriette de Lemos, eine weitere ehemalige Spielgefährtin im Haus der Mendelssohns, war die Tochter eines in Berlin lebenden reichen portugiesischen Arztes. Mit zwölf Jahren wurde sie mit Markus Herz, einem jüdischen Arzt, verlobt. Von 1780 an lud das Ehepaar Herz in seinen großen Doppelsalon ein, der als Institution aus den von Markus Herz gehaltenen naturwissenschaftlichen Abendvorlesungen hervorgegangen war. Während er in dem einen Raum physikalische Experimente vorführte, leitete Henriette in dem anderen Diskussionen über die neuesten romantischen Gedichte, Theaterstücke und Romane.

Unter Europas Intellektuellen galten Rahel Levin, Dorothea Mendelssohn und Henriette Herz als die berühmtesten jüdischen Frauen ihrer Zeit, bekannt für ihren kultivierten Geschmack und ihre engen Freundschaften mit prominenten Nichtjuden. Einer Reihe anderer Berliner Jüdinnen gelang ebenfalls der gesellschaftliche und kulturelle Durchbruch. Amalie Beer, die häufig nach Italien reiste, fühlte sich in Berlin am wohlsten, wenn sich von morgens bis abends Gäste in ihrem palastartigen Haus aufhielten. Philippine Cohens Gäste pflegten die Nachmittage im Garten der Gastgeberin zu verbringen, wobei sie Charakterskizzen voneinander entwarfen, die sie sich gegenseitig vorlasen. Die Geschwister Marianne und Sara Meyer wurden früh an jüdische Geschäftsmänner verheiratet, konvertierten jedoch später, um sich in zweiter Ehe mit Adligen zu vermählen. Sara Levy, eine Tochter aus der einflußreichen Familie Itzig, blieb mit einem angesehenen jüdischen Bankier verheiratet und lud Diplomaten und französische Intellektuelle in ihr Haus im besten Viertel der Stadt. Rebecca Solomon, die mit neunzehn Jahren in die berühmte Friedländer-Familie einheiratete und sich vier Jahre später scheiden ließ, schrieb Romane und lange Briefe und sah sich derweil nach einem neuen Gatten adliger Herkunft um.

Der gesellschaftliche Erfolg dieser jüdischen Frauen prägte die kulturelle Lebendigkeit der Rahelzeit. In dem Vierteljahr hundert zwischen 1780 und 1806 erfuhren die Berliner Salons im In- und Ausland große Beachtung. Berlin-Besucher aus ganz Europa waren insbesondere von der raschen Assimilation der jüdischen Salonières angetan, welche ihr gesellschaftliches Ansehen zu einer Zeit erlangten, als die meisten Juden Mittel- und Osteuropas noch arme Händler und Hausierer waren, auf dem Lande und in Dörfern wohnten, Jiddisch sprachen und ihrer traditionellen Lebensweise anhingen. Hier jedoch, in den Gesellschaftsräumen reicher und kultivierter Berliner Jüdinnen, schien der durch aufgeklärte Intellektuelle soeben antizipierte Traum von der jüdischen Emanzipation seiner Verwirklichung nahe zu sein. Im Zuge der Revolution in Frankreich errang die dortige jüdische Gemeinde erstmals ihre volle politische Gleichberechtigung. Aber es war in Deutschland und insbesondere in Berlin, wo die jüdische Gemeinde ein derart hohes gesellschaftliches Ansehen erlangte, daß die Crème der nichtjüdischen Gesellschaft in jüdischen Häusern ein und aus ging oder sogar dort einheiratete. Die Beobachter des Berliner Gesellschaftslebens waren jedoch nicht nur von der Tatsache beeindruckt, daß ausgerechnet Frauen die jüdische Emanzipation vorantrieben, sondern zugleich davon, daß die neuen Gäste sich ebensosehr aus Bürgerlichen wie Adligen zusammensetzten. Man pries dies als eine außerordentliche Errungenschaft eines Landes, das ansonsten von einer starren sozialen Hierarchie geprägt war. Als Madame de Staël, die berühmte französische Salonière, 1804 Berlin besuchte, empfand sie es dort bei weitem leichter als anderswo in Deutschland, Fürsten gemeinsam mit einfachen Schriftstellern einzuladen.

Die heitere Öffentlichkeit der jüdischen Salons beruhte auf der Ablehnung traditioneller Schranken, welche den Edelmann vom Bürger, den Christen vom Juden, den Mann von der Frau trennten. So verkörperten die Salons genau das zu dieser Zeit heftig diskutierte universale Bildungsideal. Bildung schloß Erziehung, Verfeinerung der Umgangsformen und charakterliche Entwicklung ein. Bildung war das Vehikel, womit Menschen von bürgerlicher Herkunft geistigen Adel erlangen konnten; das Instrument, womit Juden den Christen ähnlicher werden konnten. Doch sollte dieser neuen, in den Salons kultivierten Öffentlichkeit ein nur kurzes Leben beschieden sein. Obgleich einige Salons noch nach 1806, dem Jahr des Einmarsches Napoleons in Preußen, fortbestanden, vermochten jüdische Frauen ihre exponierte Stellung innerhalb der Salonkultur nicht mehr länger zu behaupten, und auch die Bedeutung der Salons als Institution war im Schwinden begriffen. Im nachfolgenden Jahrzehnt stand Berlin entweder unter direkter oder indirekter Fremdherrschaft. Mit dem Anwachsen der Opposition gegen die französische Besatzung stellte die patriotisch gewordene städtische Intelligenz auch die Werte in Frage, die für die Entstehung der Salons entscheidend gewesen waren: die Nachahmung der französischen Adelskultur, die sexuelle Libertinage, die Freundschaften zwischen Bürgerlichen und Adligen und die öffentlichen Darstellungen jüdischen Reichtums und jüdischer Kultur. Voller Trauer erinnerte sich Rahel Levin später jener verlorenen Zeit: „Wo ist unsere Zeit! Wo wir alle zusammen waren. Sie ist Anno 6 untergegangen. Untergegangen wie ein Schiff: mit den schönsten Lebensgütern, den schönsten Genuß enthaltend.“

Die jüdischen Salons im alten Berlin

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