Читать книгу Slopentied - Deike Hinrichs - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDas Fiepen im Ohr wurde stärker. Moritz Montag konnte sich kaum mehr auf das Gesagte konzentrieren.
Sie saßen an einem langen, kalten Tisch aus Glas und Edelstahl im seelenlosen Konferenzraum der Film- und Fernsehproduktionsfirma United Media. Die großen Glasscheiben, die fast bis zum Boden reichten, gaben den Blick auf einen der Innenhöfe der nach der Wende herausgeputzten Hackeschen Höfe frei, durch die seit der Instandsetzung unablässig Touristen strömten. Auch in diesem Moment sah Moritz die Reisegruppen, Familien und Pärchen und vereinzelte unverdrossene Single-Globetrotter, allesamt die Köpfe Halswirbelsäulen-unfreundlich nach oben überstreckt, durch die historischen Bögen spazieren. Wattierte Moonboots an den Füßen, die Körper in gesteppte Daunenjacken verpackt und gegen die Strahlen des kalten Winterlichts mit großen Sonnenbrillen bewaffnet, wirkten die Touristen wie auf dem Weg zu einer Expedition in die Arktis.
An den weiß gestrichenen Wänden des Besprechungsraumes hingen grelle Kunstdrucke von Andy-Warhol-Porträts in grün, orange, blau, rot und pink. Ansonsten befand sich in dem Besprechungsraum die übliche technische Ausstattung in Form von Betacam-Recorder, DVD-Player, Beamer, Overheadprojektor — den Moritz Montag in Gedanken nach wie vor Polylux nannte — sowie eine Handvoll ehrgeiziger, überzogen unkonventionell gekleideter, junger Menschen, die begierig an den aufgeworfenen Lippen von Erik Stopske hingen. Stopske und Moritz waren die Einzigen in der Runde, die sowohl bereits die 40 überschritten hatten als auch die einzigen Berliner waren — Moritz betrachtete sich nach mehr als 20 Jahren in der Hauptstadt, und in den Jahren zuvor nur einen Steinwurf von Berlin entfernt lebend, als ein solcher. Zudem schauten beide auf eine gemeinsame berufliche Vergangenheit im Fernsehfunk der DDR zurück. Diese Tatsache verband irgendwie. In ihrem Fall jedoch nicht genügend, um Freundschaft zu schließen. Mit seinen 43 Jahren fühlte sich Moritz Montag paradoxerweise alt. Er wusste nicht, wie es Stopske ging, bei dem ebenfalls schon seit geraumer Zeit weiße Strähnen im Haar den Geburtsjahrgang verrieten. Die ehemals semmelblonden Haare des Produzenten gingen Jahr für Jahr mehr in ein bleiches Weiß über. Merkwürdigerweise trug Erik Stopske die schütteren Haare, seit sie so offensichtlich an Farbe und Menge verloren, länger als je zuvor, sodass seine Haarpracht stets etwas wirr um seine Gesichtszüge hing. Zudem zeigten sich bei seinem Vorgesetzten, besonders im Gesicht und an den Fingernägeln, unleugbar die Spuren der Jahrzehnte lang gefrönten Laster Alkohol und Nikotin. Ein imposanter, schwammiger Körper rundete die Gesamterscheinung ab.
Einzelne Brocken aus dem Mund von Stopske konnte Moritz hin und wieder auffangen: Wir müssen ganz dicht dranbleiben an den Girls oder Emotionen sind das A und O bei der Geschichte.
Moritz steckte sich seinen linken Ringfinger ins Ohr und hielt sich mit der rechten Hand gleichzeitig die Nase zu, um so einen Druckausgleich herbeizuführen, wie es ihm für gewöhnlich im Flugzeug beim Starten und Landen half. Mit gesenktem Kopf, damit niemand die geschlossenen Augen bemerkte, zählte er langsam in Gedanken bis zehn und noch einmal rückwärts von zehn bis eins — tatsächlich wurde das hohe Pfeifen etwas leiser und er vernahm die Stimme von Erik Stopske wieder deutlicher. Als Moritz aufschaute, blieb sein Blick auf dem Schriftzug des Warhol-Drucks The World Fascinates Me haften, was er mit einem leisen Anflug von Ironie registrierte.
„Moritz“, Stopske sprach ihn keinen Moment zu früh an, „du hängst dich an die Gruppe aus Berlin und Brandenburg, also um Melanie, Judith, Kim und Konsorten. Gut wär’s, wenn sich der angedeutete Konflikt zwischen Mel und Judith etwas zuspitzen lässt. Darauf liegt der Fokus in der nächsten Folge. Der Sender will, dass wir wieder mehr anziehen mit den Emotionen. Friede, Freude, Eierkuchen ist passé … “
Äußerlich scheinbar entspannt, innerlich indes nervlich bereits angeschlagen, lehnte sich Moritz in dem schwarzen Freischwinger zurück, dessen Lehne mit einem leichten Knarzen nachgab. Durch bewusst demonstrierte Lockerheit sei man in der Lage, den tatsächlichen Gemütszustand entsprechend positiv zu beeinflussen, glaubte Moritz irgendwo gelesen zu haben. Mit locker gespreizten Fingern legte er beide Hände, die Handrücken nach oben gedreht, vor sich auf das dicke, aufgeschlagene Notizbuch, in dem er im Laufe der Besprechung ein ganzes Heer von Strichmännchen zu Papier gebracht hatte. Um sich vor den anderen, durch die Bank weg willigen Redakteuren und Praktikanten, keine Blöße zu geben, versuchte er den Einspruch, der ihm auf der Zunge lag, als Alternativvorschlag zu verkaufen:
„Judith und Melanie haben sich doch wieder versöhnt, soweit ich weiß. Das Hauptaugenmerk könnte stattdessen auf Kim liegen, die ja bereits das dritte oder vierte Mal ohne Erfolg am Start ist und partout nicht aufgibt?“ Man merkte Moritz’ brüchig klingender Stimme die Anspannung an.
Einige in der Runde schüttelten ablehnend die Köpfe, andere schauten einfach regungslos in die Luft.
Moritz fühlte sich auf verlorenem Posten und probierte es mit Galgenhumor. „Bei Kim stellt sich die Frage: Sind alle guten Dinge nun drei, vier oder gar fünf? Wenn darin keine Dramatik liegt, weiß ich auch nicht.“ Ein, zwei gemurmelte Zustimmungen meinte Moritz zu vernehmen. Eventuell spielte ihm sein Gehör auch einen Streich.
Erik Stopske jedenfalls tat seinen Einwurf kurzerhand ab: „Dann bricht der Konflikt halt wieder auf. Lass’ dir was einfallen, Moritz! Und viermal zur Wahl anzutreten, ohne jemals auch nur in die Nähe des Titels gekommen zu sein, ist einfach nur lächerlich. Was wir brauchen, sind starke Emotionen. Ich hoffe, wir verstehen uns?“ Den Mund zusammengepresst schaute Stopske verkniffen in die Gesichter der Kollegen und verteilte weiter die Aufgaben: „Petra, du supportest Moritz beim Dreh in Warnemünde und betreust die Ladys, okay?“
Petra, nunmehr an die sechs Monate Praktikantin bei United Media, nickte beflissen und schaute begeistert zu Moritz rüber. Moritz tat sie in ihrem Eifer ein wenig leid, weshalb er sie mit einem abgerungenen Lächeln bedachte.
Am späten Nachmittag, während Moritz sich eine nährstoffarme, jedoch gerade durch diesen Umstand ungemein sättigende Fertigsuppe in der verchromten Küchenzeile aufwärmte, sprach ihn Petra noch einmal an, um Einzelheiten zum Projekt, wie hier alles aufwertend genannt wurde, zu besprechen. In ihrem Heimatort war Petra sicher ein vernünftiges, aufgewecktes Mädchen gewesen; hier in Berlin war sie jedoch zu ehrgeizig, zu beeinflussbar und zu naiv, und nach anderthalb Jahren Praktikum vermutlich auch zu verzweifelt, um einen angenehmen Charakter zu behalten. Rein äußerlich betrachtet stand Moritz eine attraktive junge Frau mit einem schmalen, offenen Gesicht gegenüber, deren Miene jedoch meist durch skeptisch hochgezogene Augenbrauen leicht überheblich wirkte. Bei genauerem Hinschauen erahnte man Petras ausgezeichnete Figur, die sie jedoch fabelhaft unter kittelartigen Kleidern, ausschließlich mit eng sitzenden Hosen darunter kombiniert, versteckte. An sich lag es jedoch mehr an ihrem Auftreten, dass sie burschikos erschien. Eine von den Frauen, die nie männliche Hilfe brauchen oder sich schwach dabei fühlen, welche anzunehmen. Seines Wissens lebte Petra allein, ohne festen Freund, der sie geistig und emotional — das Schlagwort des heutigen Tages, wie Moritz zynisch feststellte — in andere Richtungen lenken konnte. Schade eigentlich. Manchmal wirkte es Wunder, sich in die Arme nehmen zu lassen, und dabei seinen Blickwinkel auf anregende Weise zu verschieben.
Verschwörerisch beugte sich Petra zu ihm hinüber, während er mit dem Umrühren der heißen Suppe beschäftigt war. „Falls die beiden sich nicht von alleine zanken, habe ich schon eine Idee, wie wir ein wenig nachhelfen können. Es gibt doch da diesen David, mit dem sowohl Melanie als auch Judith mal was am laufen hatten … “
In solchen Situationen überfiel Moritz eine panische Angst, seine eigene Tochter Valentina könne irgendwann, unter ungünstigen Umständen, derart unangenehme menschliche Züge entwickeln. Er tat sein Bestes, damit dies nicht passierte. Vermutlich hatten Petras Eltern es auch getan und waren dennoch gescheitert, wie Moritz kurzerhand befand.
„Ich rede morgen noch mal mit Stopske über den Aufhänger der nächsten Folge. Die Quoten sind doch in Ordnung, auch ohne künstlich provozierte Auseinandersetzungen. Ich denke, unter vier Augen sieht er das sicher ähnlich.“
Petra schlaumeierte mit fremden Worten: „Das glaub' ich weniger. Einmal gute Quote heißt nicht zwangsläufig immer gute Quote. Es braucht halt eine Steigerung, damit der Zuschauer dranbleibt.“
Von der Seite betrachtete Moritz den kläglichen Zopf-Versuch in Petras Nacken. Es fielen mehr Strähnen an den Seiten raus, als das schlichte Gummiband zusammenhielt. Die Haare waren einfach zu kurz — das Zopf-Ende stach wie die Borsten seines Rasierpinsels bockig in die Luft. Seltsam, dass die Praktikantin diese Tatsache bei der Wahl ihrer Frisur einfach ausblendete. Von den Genen mit einem dünnen, hellen Haarschopf bedacht, versuchte Moritz doch auch nicht, einen Afro-Bob zu tragen.
Sich im Klaren darüber, dass Petra nur eine Floskel von Erik Stopske, dem Produzenten der unsäglichen Doku-Soap Best Beauty, wiederkäute, erachtete Moritz eine Vertiefung der angebrochenen Diskussion zwischen ihnen für sinnlos. Einen großen Löffel des breiigen Kartoffel-Lauch-Topfes in seinen Mund schiebend, kehrte Moritz Petra den Rücken zu und beendete somit mittels deutlicher Körpersprache das unergiebige Küchengespräch.
Eine gute Stunde später machte sich Moritz auf den Heimweg, obwohl noch genügend Arbeit auf ihn wartete. Die Kollegen im Großraumbüro musterten ihn scheel aus den Augenwinkeln, während er sich bereits kurz nach 17 Uhr seinen Mantel überwarf und ohne viel Aufheben grußlos Richtung Ausgang marschierte. Nur Petra winkte ihm fröhlich hinterher, in dem sie affektiert zweimal langsam die Handfläche auf- und zuklappte. Immerhin … nachtragend zu sein, gehörte demnach nicht zu Petras Eigenschaften.
Während der Fahrt in der U-Bahn versuchte Moritz an etwas anderes, als an Best Beauty und United Media zu denken, sich abzulenken und nicht gedanklich einzurasten, was ihm beim Durchdenken von Problemen immer häufiger passierte. Zu den einzelnen Gesichtern der bunt zusammengewürfelten Fahrgäste der Linie 5 dachte er sich abenteuerliche Lebensläufe aus.
Aber als Moritz sich am Bahnhof Frankfurter Tor von seinem Platz erhob und ausstieg, schlüpfte die vertrackte Situation wie auf Knopfdruck wieder in den Vordergrund der moritzschen Hirnwindungen. Er watete durch den Schneematsch, der braun und unappetitlich unter seinen Schuhsohlen hervorschmatzte, die Hände tief in den Taschen seines Dufflecoat vergraben, die Petersburger Straße entlang und achtete nicht auf die eilig vorbeiziehenden Passanten. Die Leuchtbuchstaben von Le Discount drohten mit grellen Neonfarben ALLES BILLIG. Daneben warb ein Solarium mit einer Flatrate von 50 Cent pro Tag.
All das nahm Moritz, hunderte Male gesehen, nicht mehr wahr. Der Ton seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Es war einer dieser vorinstallierten Jingles — zu einer raffinierteren Einstellung hatte sich Moritz bislang noch nicht aufraffen können. Mit klammen Fingern holte er das Telefon aus seiner Manteltasche und nahm das Gespräch an.
„Hi, Moritz! Du warst vorhin so schnell weg. Simst du mir noch rasch die Kontakte der Kandidatinnen?“
Gerne. Pass’ mal auf, dass ich dir nicht gleich eine simse — war die Antwort, die Moritz spontan auf der Zunge lag. Stattdessen reagierte er vernünftig, wie es sich für sein Alter gehörte: „Du kannst dir die Namen und Kontaktdaten der Mädchen morgen im Büro bei mir abholen, Petra. Schönen Feierabend.“
Zuhause angekommen ließ sich Moritz eine Wanne ein, in der Hoffnung, mit einem ausgedehnten Bad seinen aufgewühlten Gemütszustand ein wenig zur Ruhe zu bringen. Der schwache Strahl mit heißem Wasser plätscherte gemächlich in die halb volle Wanne. Nach Durchsicht der Badezusätze fand sich Moritz vor die Wahl zwischen Latschenkiefer und Muskellockerungssalz gestellt. Er entschied sich für Letzteres und streute das weiße Pulver verschwenderisch in die Wanne.
Er stieg ein und ein wohliger Seufzer entfuhr ihm, als seine kalten Gliedmaßen in Berührung mit dem warmen, feuchten Element kamen. Das weiter einlaufende heißere Wasser verteilte er mit den Händen in ausladenden Schaufelbewegungen rund um den Körper. Der Macht der Gewohnheit folgend, hatte er das Licht im Bad ausgelassen. Die spießigen gelblichen Rollos an den schmalen Fenstern waren zur Attrappe degradiert; Moritz benutzte den Sichtschutz so gut wie nie. Im heruntergelassenen Zustand fühlte er sich grundlos von ihnen bedrängt, beinahe eingesperrt. Wie er bereits im wohlig warmen Wasser sitzend erkannte, verhinderte das beschlagene Badezimmer-Fenster ohnehin die Sicht hinaus auf die Straße und damit auch in umgekehrte Richtung. Auch gut, lag er also grundlos im Dunkeln in der Nasszelle seiner Parterrewohnung.
Während das Wasser weiter dampfend in die Wanne floss, versuchte er seine wie Raketen durch den Kopf schießenden Gedanken zu sammeln. War er zu gefühlsduselig oder gar einfach dumm, wenn er mit Erik Stopske morgen noch einmal sprach und die Meinungsverschiedenheit nicht einfach auf sich beruhen ließ? Immerhin wurde er gut dafür bezahlt und mit Querulanten arbeitete niemand gerne. Wieso war er überhaupt der Einzige, der sich als Moralapostel aufspielte? Besaß er als Vater von Valentina einen anderen Bezug zu den Mädchen?
Wie er es auch drehte und wendete, von oben und unten betrachtete, seine tief im grundanständigen Charakter verankerte Rechtschaffenheit konnte das abgebrühte Vorgehen nicht gutheißen. Vielleicht hätte er als passiv Beteiligter sein Gewissen halbwegs mit Ausreden beruhigen können, aber so zerflossen die Versuche, sich irgendetwas schönzureden, wie Butter in der heißen Sonne. Zu gerne hatte er sich jetzt mit jemandem ausgetauscht und beraten. Mit jemandem, der ihn gut kannte und seine Denkweise verstand, mit jemandem wie Anita.
Trotz der hochgezogenen Rollos stieg er eine halbe Stunde später mit einem Gefühl von Beklemmung, untermalt von galoppartigem Herzklopfen, aus dem mittlerweile abgekühlten lauwarmen Wasser. Langsam und gründlich begann er sich abzutrocknen, sparte auch die für Fußpilz anfälligen Zwischenräume zwischen den Zehen nicht aus und entschied dabei, nicht noch einmal in die bereits kalt auf dem Boden liegenden Klamotten zu schlüpfen, sondern den Abend im Bademantel zu verbringen. Der Bademantel umhüllte ihn beschützend wie ein dickes Fell, welches er nicht mehr besaß. Morgen würde er, auch mit Aussicht auf unangenehme Konsequenzen, noch einmal mit Stopske reden.