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Kapitel 6

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Die Best Beauty Wahl für Mecklenburg-Vorpommern stand am Freitagabend auf dem Redaktionsplan. Vielversprechender Austragungsort der Veranstaltung: die Großraumdiskothek Galaxy in Warnemünde. Warnemünde wäre im Sommer großartig gewesen; jetzt, im kalten, von eisigen Ostwinden heimgesuchten Februar, konnte sich Moritz verlockendere Ausflugsziele vorstellen — zumal das Budget des Senders für das Drehteam keine Hotelübernachtung vorsah. Der Katzensprung nach Hause konnte ihnen ohne Frage zugemutet werden, darauf hatten sich Lehndorff und Stopske verständigt, um das Budget nicht unnötig zu strapazieren. Dass sie damit die Nerven des Teams über Gebühr strapazieren, war zu vernachlässigen.

Für Warnemünde hatte Stopske Moritz, Petra und Lukas, einen weiteren Praktikanten bei United Media, eingeteilt. Seit auch in den Medien gespart werden musste, existierten beim Privatfernsehen sogenannte Ein-Mann-Teams, die, nach einer Kurzeinweisung und mit leichter Digitalkamera im Gepäck, die inhaltliche als auch technische Aufnahme zu schultern hatten. Die lange zurückliegende Ausbildung als Fotograf half Moritz bei dieser Aufgabe; ohne jedoch seine Abneigung gegen diese drastische Vermischung zweier völlig unterschiedlicher Berufsgruppen zu schmälern.

Bereits am frühen Nachmittag machten sich die drei auf den Weg von Berlin nach Warnemünde. Moritz hockte denkbar schlecht gelaunt in einem dicken Norweger-Pullover hinter dem Steuer des Passats, den mindestens 12-stündigen Arbeitstag wie einen steinigen Berg vor sich. Das eigentliche Material für die Folge würden sie in den Stunden vor und nach der Wahl sammeln. Der offizielle Teil des Schaulaufens warf eher Füllmaterial für schöne Bilder zwischen den oft sehr hässlichen und damit ergiebigen Szenen hinter der Bühne ab.

Während der Fahrt plapperte Petra ununterbrochen, obwohl ihr niemand zuhörte. Bislang hatte sie weder Lukas noch Moritz direkt angesprochen, sodass Ignorieren leicht fiel. „Moritz, was ist jetzt mit Judith und Melanie? Soll ich da was fallen lassen in Richtung Ex-Freund, der was Schlüpfriges über eine von den beiden in Umlauf gebracht hat?“

Moritz Interesse, die beiden Mädchen gegeneinander aufzuwiegeln, ging gegen null. „Überlass’ das bitte mir. Wir warten ab und entscheiden situationsabhängig, in Ordnung?“ Schon aus reiner Überzeugung kam diese Art der redaktionellen Aufbereitung nicht infrage.

Praktikant 2 schlief auf der Rückbank und bekam von dem Austausch nichts mit. Petra verstummte und Moritz konnte sein Gehör wieder ausschließlich dem mindestens für eine Fahrt nach Schweden ausreichenden Vorrat an CDs widmen. Wenn es gar nicht anders ging, beschloss Moritz mit offenen Karten zu spielen und Judith und Melanie ins Vertrauen zu ziehen: Tatsachen auf den Tisch und die Absichten des Senders offenbaren.

Nach kurzer Funkstille meldete sich Petra zurück. „Darf ich diesmal beim Schnitt dabei sein?“

Nachdem sie die Frage ein zweites Mal wiederholte, quetschte Moritz eine ausweichende Antwort heraus: „Mal sehen.“

„Ich fände es superspannend, diesen Prozess zu verfolgen … “

Geräuschvoll kämpfte die altersschwache Lüftung des Passats gegen das Beschlagen der Scheiben. Moritz drehte den Lüftungsregler weiter auf und erhöhte die Lautstärke des Radios dementsprechend. Michael Jacksons Rock with you vom Album Of the Wall ließ Petra innehalten, um mitzusummen. Verwundert schickte Moritz einen Seitenblick auf den Beifahrersitz. Dann fiel es ihm wieder ein: Seit der King of Pop tot war, kannten selbst die 12-jährigen plötzlich seine frühen Songs.

Am würfelartigen Gebäudekomplex der Disko, etwas abseits der Warnemünder Strandpromenade, warb ein Banner mit der Aufschrift Best Beauty Wahl Meckpommheute im Galaxy um die Gunst der Jugend im Einzugsgebiet. Auf dem riesenhaften Parkplatz standen verstreut einige wenige Fahrzeuge, die komplett eingeschneit unter einer knuffig-weißen Haube steckten. Moritz parkte seinen Wagen so dicht wie möglich am Hintereingang des Galaxy. Als er den Zündschlüssel abzog, kam ihnen der Betreiber des Tanzpalastes händereibend, mit einem zufriedenen Grinsen zwischen den Ohren, entgegen. Die beiden Praktikanten hatten sich schon aus dem Auto geschält und standen nun frierend daneben. Aus der Fahrertür entstiegen und von kalten Windstößen begrüßt, hängte sich Moritz rasch den Dufflecoat über die Schultern. Eilig versuchte er, wenigstens die obersten beiden ovalen Hornknöpfe des Mantels durch die Schlitze zu schieben.

„Moin, Moin. Ich bin der Herr Reizling, wir haben telefoniert. Der Laden wird gerammelt voll. War ein guter Deal, Jungs, das spür ich!“

Wie der Mann das kurz vor 18 Uhr bereits spüren konnte, blieb Moritz ein Rätsel. „Freut mich, Herr Reizling. Moritz Montag.“

Während alle, die die letzten Stunden im warmen Auto verbracht hatten, vor Kälte schlotterten, stand Reizling unbeeindruckt von den Minusgraden lediglich in Stoffhose und T-Shirt vor ihnen.

Petra konnte es nicht abwarten und stellte sich alleine vor: „Ich bin die Petra und das ist unser Praktikant Lukas.“ Charmant lächelnd bot sie Reizling ihre Hand nebst Wange zur Begrüßung dar.

Der fackelte nicht lange, nahm die Hand und zog Petra an sich heran, um ihr das in Aussicht gestellte Begrüßungsküsschen auf die Wange zu schmatzen. „Kannst übrigens Stephen zu mir sagen. Können wir nachher mit einem Sektchen begießen.“

Praktikant Lukas und Moritz schauten sich an und beschlossen in stillem Übereinkommen, Petra nicht auszubremsen. Stattdessen luden sie die Kamera, den Lichtkoffer, die Tonangel und die vollgestopften Tüten mit Werbepräsenten des Senders aus dem Kofferraum und trugen das Material ins Galaxy.

Zeit für Moritz, über den Verlauf des weiteren Abends zu spekulieren: Wenn es gut lief, lenkte Mister Galaxy, wie Moritz den Betreiber der Diskothek kurzerhand taufte, Petra in ihrem Eifer ab, Zwietracht zwischen Melanie und Judith zu säen.

Im hellen Neonlicht, und ohne vergnügungssüchtige Gäste, wirkte der Saal der Diskothek recht trostlos; eine Handvoll Angestellter räumte noch Tische beiseite, leerte die Papierkörbe und dekorierte die Räumlichkeiten mit Glittergirlanden und anderem Firlefanz. An der langen Bar hockten drei einsame Menschen wie gemietete Pappfiguren, die ihnen als lokale Prominenz vorgestellt wurden. Den Namen des Radiomoderators hatte Moritz schon gehört.

„Gib doch mal drei Sekt für die Leute vom Fernsehen rüber“, forderte Reizling den Barkeeper auf, „dann kann ich mit der jungen Dame auch aufs du anstoßen.“ Es folgte ein Augenzwinkern in Richtung Petra.

Moritz überlegte kurz, ob er sich schon zu so früher Stunde als Spielverderber zu erkennen geben wollte, beantwortete dies für sich mit einem Ja und korrigierte die Sekt-Bestellung in eine Flasche Pepsi für sich. Moritz liebte den feinen Zimtgeschmack, den er bislang bei keiner anderen Colasorte gefunden hatte.

Optimistisch dreinblickend stieß jeder mit jedem an. Stephen Reizling und Petra gaben sich Küsschen, diesmal auf beide Wangen. Lukas und Moritz guckten mit großen Augen amüsiert zu. Na, bitte — die plumpen Avancen von Mister Galaxy fruchteten, frohlockte Moritz noch einmal und fand den Hoffnungsschimmer, der ihn beim Reintragen ihrer Ausrüstung ereilt hatte, bestätigt. So kam die kecke Petra nicht auf andere dumme Gedanken und schadete höchstens sich selbst.

Nach einem Rundgang durch die Diskothek, Reizling hatte keine Mühe gescheut und eine Art Podest aufgetrieben, auf dem in etlichen Stunden eine Best Beauty für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern stehen würde, wagte sich Moritz, das Begrüßungszeremoniell zu unterbrechen: „Hm, sehr schön, wirklich alles wunderbar vorbereitet. Wir bräuchten bloß noch ein, zwei Stunden mit den Kandidatinnen, bevor der Rummel losgeht. Sind schon alle vollständig in der Garderobe versammelt?“

Das brachte Stephen Reizling kurzzeitig aus dem Konzept, aber er fing sich rasch: „Was immer ihr Wunsch ist, Meister. Ich führe euch sofort hin. Auf dem Weg zeige ich dann gleich den Hintereingang raus zum Hof, falls einer später raus an die Luft muss, zum Kotzen oder so.“

Petra klopfte zweimal kurz mit den Fingerknöcheln an die Tür der Umkleide und vergewisserte sich mit einem Blick, ob die Heranwachsenden angezogen waren: „Hi, Beautys! Wir wollen euch ein wenig über die Schulter schauen.“

Sie waren es, wenn auch notdürftig, aber das brachte der Anlass schließlich mit sich. Moritz trat nach Petra in den Raum, der normalerweise eine Art Materiallager beherbergte, und nun als Garderobe herhalten musste. Papierhandtücher und Toilettenpapierrollen türmten sich eilig zusammengeschoben in den Ecken des Raumes neben Stapeln von Kopierpapier. Leere Kartons verschiedenster Ausmaße drängten sich an halb gefüllte Getränkekisten. In Moritz’ Windschatten folgte Praktikant Lukas so dicht, dass Moritz jeden Moment einen Tritt in den Hacken erwartete und sich ängstlich umschaute. Was er sah, erheiterte ihn und vertrieb schlagartig die unberechtigte Sorge. Wie bei einem der Teletubbies ragte die Tonangel mit dem Mikro an der Spitze weit über Lukas Kopf hinaus, während der Praktikant auf der Stelle trat, um Moritz nicht in die Fersen zu treten.

Die Stimmung in der Umkleide pendelte zwischen aufgekratzt und hysterisch, und es roch, als wären bei Douglas sämtliche Flakons ausgelaufen. Moritz fürchtete um seinen Geruchssinn und das Aroma der bereitstehenden belegten Brötchen.

An diesem Abend starteten acht mutige Mädchen im Galaxy. Kim, die bereits diverse Male erfolglos angetreten war, versuchte dieses Mal, mit knusprig gebräunter Haut und roten Hairextensions im schulterlangen hellbraunen Haar zu punkten, was sie Moritz ohne Aufforderung bereitwillig vor laufender Kamera verriet. Für ihre 18 Jahre setzte sie ihren Körper erstaunlich offensiv und gern in Szene. Aufs Neue entpuppte sich Kim als unkompliziert, etwas vorlaut mit typischer Berliner Schnauze, und dennoch voller warmherziger Energie. Während Kim ohne Punkt und Komma drauflos plapperte, tuschelten im Hintergrund Judith und Melanie, die vom Sender auserkorenen Erzrivalinnen, und hielten dabei Händchen. Moritz machte eine Nahaufnahme von den zwei ineinandergelegten Mädchenhänden. Dabei mischte sich in die Schadenfreude über die Vereitelung der redaktionellen Pläne die unangenehme Vorahnung auf Aussprachen, wenn Stopske das Material auf den Tisch bekam.

Ein Zischen und Spritzen, und kurz darauf ein Aufschrei, rissen Moritz aus seinen Gedanken. Ein dünnes Mädchen mit dunklen Locken vergrub ihren Kopf heulend im Schoß. Sie saß gleich neben der Tür vor einem der provisorisch an die Wand gelehnten Spiegel. Die bloßen eckigen Schultern wurden von Weinkrämpfen geschüttelt. Bevor Moritz überhaupt wusste was los war, hockte Petra vor dem Häufchen Elend auf dem Boden und sprach sie teilnahmsvoll an. Der Blick und die energische Handbewegung, mit der Petra Moritz nebst Kamera heranwinkte, entlarvte sie als alles andere, als eine mitfühlende Betreuerin.

Die Tragödie stellte ein Fleck auf dem gelben Abendkleid des Mädchens aus Rostock dar, den eine andere Teilnehmerin beim Öffnen einer Dose Redbull angeblich absichtlich platziert hatte. Die Rostockerin hörte nicht auf zu schluchzen, während sie sich unablässig über die großen, dunklen Augen wischte und die damit aufgetragene Wimperntusche restlos verschmierte. Gegen die entstandene Bescherung im Gesicht der Kandidatin wirkte der Redbull-Fleck harmlos. Wiederholt von Heulkrämpfen unterbrochen, kamen die Sätze stockend wie bei einem Stotterer aus ihrem Mund:

„So … geh ich … hundertprozentig … nicht auf die Bühne. Ich sehe aus … wie eine verdammte Schlampe. Das sieht doch jeder. Das ist echt fies.“

Die Lampe in der einen, die Tongabel in der anderen Hand, trat Praktikant Lukas von einem Bein aufs andere. Er versuchte sein Bestes, die Situation zu entspannen. „Aus der Entfernung, vom Publikum aus, sieht den Fleck doch kein Schwein.“

Langsam hob das Mädchen ihren Kopf und der Tränenstrom versiegte: „Meinst du?“ Skeptisch betrachtete sie das Kleid.

Petra versetzte Lukas einen Schubs und drängte ihn damit näher an die Rostockerin, sodass das Mikro jetzt direkt über dem Kopf des Mädchens hing, bereit, den leisesten Schluchzer einzufangen. Geistesgegenwärtig ergriff Petra die Gunst der Stunde, Öl ins Feuer zu gießen: „Tja, aber wie drehen ja in erster Linie fürs Fernsehen und nicht für die paar Leute hier in der Disse, schon vergessen?“

Die Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Wie ein Häufchen Elend sackte das Rehauge wieder in sich zusammen und die Tränen liefen erneut.

Die anderen Kandidatinnen ließen sich von dem Zwischenfall nicht stören. Eine lackierte ihre Fingernägel, die nächste zog sich den Lidstrich nach, Kim zog vorsichtig hautfarbene Strumpfhosen an den langen Beinen hoch und Judith und Melanie gingen die simplen Schrittkombinationen laut vor sich hin sprechend noch einmal durch.

„Haben wir doch schon was Feines im Kasten.“ Tatsächlich erwartete Petra noch ein Lob von Moritz. Selbstzufrieden über ihren Biss stand sie Beifall heischend vor ihm, sodass Moritz die Galle hochkam.

Um den bitteren Geschmack nicht runterzuschlucken, musste er ausspeien: „Ja, Petra, du bist die größte Journalistin, die die Welt je gesehen hat. Man könnte glatt meinen, du hast den Pressekodex erfunden.“

Einen immensen Aufwand betrieben alle Teilnehmerinnen beim Frisurenbau. Allein Porzellangesicht Judith, lediglich mit dunkelgrünem Slip und BH bekleidet, begnügte sich mit einer profanen Bürste, die sie durch den glatten Bob strich. „Ihr filmt doch aber nicht, oder?“ Mit einem skeptischen Seitenblick schaute sie in Richtung Kamera und hielt sich dabei schützend die Arme gekreuzt vor das Dekolleté.

Moritz hob sich die Kamera von der Schulter und stellte das Gerät neben sich auf den Boden. „Keine Angst, das kommt raus oder wir nehmen eine Großaufnahme nur bis zu den Schultern.“

Judith nickte beruhigt und verrieb einen Klecks Haar Gloss in den Handflächen. Dann schaute sie noch einmal prüfend in den Spiegel. Ihr exakt geschnittener Pagenschnitt, mit einem glänzenden, bis knapp über die Augenbrauen fallenden Pony, umrahmte ihre blassen, zarten Gesichtszüge.

Gegen 21 Uhr begann der erste Durchgang für die Teilnehmerinnen zur Wahl der Best Beauty Meck-Pomm in Abendmode. Zu Justin Timberlakes Song Señorita stelzten die Teenager auf absurd hohen Absätzen über die Bühne. Der hässliche Fleck auf dem gelben Kleid der rehäugigen Rostockerin tarnte sich unauffällig hinter einer blutroten Ansteckblume. Moritz hatte keine Ahnung, wo sie die altmodisch anmutende Filzblume noch aufgetrieben hatte, aber sie erfüllte ihren Zweck. Für eine Sekunde stellte er sich seine Tochter Valentina zwischen den Mädchen vor und schüttelte hastig den Kopf, um das Bild wieder zu verscheuchen. Kim trug ein rotes, knapp unter dem Po endendes Kleid, welches sich mit dem Rot-Ton der Haarverlängerungen gehörig biss.

Stephen Reizling moderierte die einzelnen Runden launig an. In Durchgang Nummer zwei durften die acht Beautys tanzen, singen, ein Gedicht rezitieren oder andere schlummernde Talente offenlegen. Das Ganze erinnerte Moritz an die vielen Schulaufführungen, die er als Vater schon erlebt hatte — mit dem feinen Unterschied, dass im Galaxy das geneigte Publikum nicht aus alles großartig findenden Eltern bestand. Erste anzügliche Zwischenrufe von betrunkenen Kerlen störten den Ablauf der Inszenierung. Kim turnte in ihrem engen Kleid über die provisorisch errichtete Bühne, und als sie plötzlich in die Hocke ging, dachte Moritz, der Kniefall sei Teil einer ausgefeilten Choreografie. Ein Irrtum, wie sich schnell zeigte. Mit tastenden Händen kroch Kim auf allen Vieren über den Boden und rief dabei verzweifelt Stephen Reizling zu, er und alle anderen mögen stehen bleiben und bloß keine weiteren Mädchen auf die Bühne lassen.

„Männo! Die Dinger war’n schweineteuer. Wehe, einer latscht mir uff meine Linsen!“

Profimäßig reagierte der Moderator auf die unerwartete Situation, indem er den DJ um eine Überbrückung in Form einer Tanzrunde bat.

Beim Durchgang drei, der Königsdisziplin, wie Reizling mit erhobener Stimme verkündete, wurde ersichtlich, dass die im Vorfeld entflammte Diskussion zwischen roten und gelben Badeanzügen diplomatisch beigelegt worden war. Die Mädchen steckten in schwarzen Badeanzügen, versehen mit einem güldenen Logo, aus dem Schriftzug Best Beauty und den Konturen eines geschwungenen, leicht geöffneten Kussmundes. Gold auf Schwarz ... eine Entscheidung des Senders, von der sich der verantwortliche Redakteur Lehndorff Eleganz versprach — wenn nicht gar einen Hauch Glamour.

Die langen weißen Gliedmaßen von Judith leuchteten gespenstisch im grell aufblitzenden Scheinwerferlicht. Das Schwarz der Badekleidung stand fast allen Mädchen nicht gut zu Gesicht. Auf Kims Pupillen schwammen wieder beide Kontaktlinsen, durch die sie schelmische Blicke in die Runde warf.

Zu fortgeschrittener Stunde glich die aufgeheizte Stimmung in Warnemündes Galaxy einem Bierzelt-Besäufnis. Mit der Kamera vor dem Auge schwenkte Moritz betroffen von der johlenden Menge auf die Bühne mit den acht Mädchen und von den Mädchen wieder auf die johlende Menge. Verbittert pochte der Kopfschmerz gegen seine Schläfen. Das linke Augenlid zuckte rhythmisch im Takt der wummernden Bässe und der Tinnitus pfiff sich sein eigenes Liedchen dazu. Dermaßen strapaziert hob Moritz die Kamera vorsichtig von seiner Schulter und stellte sie seitlich neben der Bühne ab, wo ein abgetrennter schmaler Streifen für die Jury und das Drehteam zur Verfügung stand.

Er brauchte dringend eine Verschnaufpause. Mit einem Glas Wasser in der Hand, in dem er vorher ein Kopfschmerzmittel aufgelöst hatte, suchte sich Moritz eine möglichst weit von der Bühne entfernte, ruhige Ecke. Langsam zerfiel die Tablette in ihre Bestandteile und färbte das Wasser milchig, was Moritz immer ein wenig unappetitlich fand. Da die gewöhnliche Aspirin-Dosis nicht mehr anschlug, war Moritz auf Thomapyrin umgestiegen. Mit Abstand betrachtete er aus der Nische heraus das Spektakel. Währenddessen trank er langsam, Schluck für Schluck, den lauwarmen Medizincocktail. Die Einsicht traf ihn wie ein präzise gesetzter Nadelstich, fein und scharf und punktuell: Das war nicht mehr der Beruf, den er einst mit Freude ausgeübt hatte. Nicht nur die Best Beautys prostituierten sich — auch er. Anders konnte man das hier nicht mehr bezeichnen.

Eine schwache Wohltat an diesem Abend verschaffte ihm die Entscheidung der Jury und des Publikums: Seine heimliche Favoritin Judith stand am Ende der Vergnügung strahlend auf dem Siegertreppchen und wischte sich eine Träne aus dem Auge, als Stephen Reizling ihr die Schärpe der Best Beauty Mecklenburg-Vorpommern umlegte. Eine ätherische Schönheit mit einem Madonnengesicht, die sich aus dem Reigen der Mädchen nicht nur rein optisch abhob. Judith stand kurz vor dem Abitur, womit sich ihre Gedanken nicht ausschließlich um das eigene Aussehen drehen konnten. Moritz mochte ihre ruhige, vernünftige Art. Von der Natur gesegnet mit der Erscheinung eines Porzellanpüppchens, traute man Judith weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick das Durchsetzungsvermögen zu, welches in ihr schlummerte.

Sofort nach der Siegerehrung eilte Petra zu Melanie. Da Moritz nicht aus seiner Deckung auftauchte, hievte sich Praktikant 2, Lukas, die Kamera auf die Schulter. Im Austausch schnappte sich Petra Lampe und Tonangel, um festzuhalten, was Melanie zum Sieg ihrer Konkurrentin von sich geben mochte. Melanies Gesicht zeugte von herber Enttäuschung, aber sie wollte sich nicht die Blöße geben und setzte ein gezwungenes Lächeln auf, als sich die beiden näherten.

Von Ferne sah Moritz Lukas nervös an den Knöpfen und Rädchen der Kamera hantieren. Daneben stand Petra und redete auf ihn ein, statt die Tongabel ordentlich über den Kopf von Melanie zu halten. Gehetzt schaute sie durch den Saal, bis ihre Augen an Moritz hängen blieben.

Als Petra ein „Schnell, mach schon!“, durch den Saal brüllte, zeigte Moritz mit dem Zeigefinger fragend auf seine Brust und musste unvermittelt hysterisch lachen, weil ihm der Anfeuerungsruf aus Kindertagen Schneller, Propeller, schneller, Propeller in den Sinn kam. Auf Petras Stirn bildete sich eine steile Zornesfalte. „Ja, du Spaßvogel“, formten ihre Lippen zurück — das könnte aber auch Spastvogel geheißen haben.

Die Rückfahrt nach Berlin verlief noch ruhiger als die Anreise, was zur Gänze auf die erlahmte Redelust von Petra zu dieser unchristlichen Uhrzeit zurückzuführen war. So rauschten Musik und Gebläse ungestört einträchtig vor sich hin.

Kurz vor Neustrelitz musste Moritz das Lenkrad an Petra übergeben, da er knapp davor stand wegzunicken. An einer Autobahnraststätte hielt Moritz an und sie spielten Bäumchen, wechsel dich. Bibbernd lief er mit Petra in der kalten Nachtluft die wenigen Schritte um die vordere Autohälfte herum zur jeweils anderen Seite. Lukas, von dem eisigen Luftzug erwacht, schaute verschlafen aus der Vorderscheibe auf ihr nächtliches Ringelreihen und schloss verständnislos sofort wieder die Augen, als hätte er im Traum eine Erscheinung gehabt, die ihm nicht gefiel.

Kaum schmiegte sich Moritz in den Beifahrersitz, lullten auch ihn die Wärme und die gleichmäßige Geschwindigkeit auf der Autobahn zuverlässig in den Schlaf, wie eine Mutter ihr Baby in der Wiege. Unsanftes Klopfen auf dem Oberschenkel weckte Moritz, als sie über die Ausfahrt Berlin-Mitte die Autobahn verließen. „Aufwachen. Wir sind gleich da.“

Ohne Abendtoilette kroch Moritz gegen vier Uhr in sein Bett. Dabei stieß er sich den großen Zeh an dem Wäscheständer, den er am Vormittag noch eilig bestückt im Wohnzimmer stehen gelassen hatte. Fluchend zog er den lädierten Fuß hinter sich her. Jede Faser seines Körpers lechzte nach Schlaf. Dennoch lag er beinahe noch eine Stunde hellwach unter der viel zu warmen Decke und lauschte dem pochenden Zeh nach, bis die Müdigkeit ihn gnädig wegdämmern ließ.

Slopentied

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