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Kapitel 2

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Die Schulklingel zum Unterrichtsbeginn hatte bereits geläutet, aber die riesige Menge an Schülern gelangte einfach nicht schnell genug durch die kleine Tür ins Schulgebäude. Von außen durch die hohen Fenster gut einsehbar, standen im Korridor der ersten Etage streng blickende Lehrer mit Rohrstöcken in den Händen. Wie Tiere, die auf der Lauer liegen, schaute das Lehrpersonal durch die Scheiben zu ihnen herunter, ohne sich zu regen. Schlagartig wurde Moritz klar, was ein Zuspätkommen bedeutete. Schnell versuchte er sich in der Schlange, die sich auf dem Schulhof gebildet hatte und wie im Zeitraffer von Sekunde zu Sekunde in Länge und Breite anschwoll, nach vorne zu drängeln. Bei dem Versuch sich von der Seite vorzumogeln, stellte ihm ein dicker Junge hinterhältig ein Bein. Moritz stürzte unglücklich und landete mit dem Gesicht auf dem dreckigen Boden. Zuerst spürte er das Brennen am aufgeschlagenen Kinn, dann nahm er den dreckigen, sauren Geschmack von Erde und Blut im Mund wahr. Von allen Seiten prasselten Kinder wie reife Äpfel von einem Baum auf ihn nieder. Bei dem fieberhaften Versuch sich wieder aufzurappeln, stieß ihn von hinten ein Mädchen mit artig geflochtenen Zöpfen brutal den spitzen Ellenbogen, der in einer züchtigen Strickjacke steckte, in den Rücken, sodass er nach Luft japsend wieder in der Woge aus Kindern, die mehr und mehr das Aussehen von Teenagern annahmen, unterging. Hinter den Scheiben prüften die Lehrer die Rohrstöcke, indem sie die Gerten pfeifend durch die Luft surren ließen. Obwohl die Fenster geschlossenen waren, konnte er das Geräusch genau hören: ffft, ffft, ffft. Aufsteigende Panik schnürte Moritz die Kehle zu. Bald wären seine Kräfte aufgebraucht. Die Decke aus Körpern über ihm drückte bleischwer durch sein Rückgrat auf die Lunge, sodass er kaum noch atmen konnte. Die Klingel dröhnte immer schriller und fordernder …

Verschreckt setzte sich Moritz im Bett auf und tastete desorientiert mit der Hand nach dem Handy, um den Weckalarm abzustellen. Er brauchte unglaublich lange, ehe er die richtige Tastenkombination fand, die Faith No More und ihr Easy like Sunday Morning zum Schweigen brachte.

Benommen stieg er aus dem warmen Bett und schlurfte steifbeinig Richtung Toilette. Nach einem Frühstück mit schwarzem Tee, Spiegelei und Marmeladentoast war Moritz wieder leidlich hergestellt.

Über Nacht war der Schneematsch vom Vortrag wieder gefroren und stellte nun, trotz der Streusalze auf den Bürgersteigen, eine rutschige Angelegenheit dar. Auf dem Weg die Petersburger Straße hinunter zum U-Bahnhof Frankfurter Tor türmten sich festgefrorene Schneeberge wie bizarre Skulpturen an den Seiten des Gehwegs auf. Eilige Passanten, die nicht vorschriftsmäßig an einer Ampel oder einem Fußgänger-Überweg die Straße überqueren wollten, mussten durch die grauweißen Berge stapfen, in denen sie bis zu den Kniekehlen versanken. Besonders Sportliche versuchten, die beachtlichen Schnee-Aufschüttungen mit einem Sprung zu überwinden, was nicht jedem auf Anhieb glückte.

Moritz hatte für dieses morgendliche Spektakel kein Auge übrig. In Gedanken ging er die möglichen Dialoge mit Erik Stopske durch, wobei er des Öfteren ins Schlittern kam.

Ein Herr mit randloser Brille auf der Nase und einer Baskenmütze auf dem Kopf lief ein Stück des Weges mit Moritz auf gleicher Höhe, bevor er neugierig herüberschaute. Unangenehm von dem fragenden Blick berührt, bemerkte Moritz sein lautes Gemurmel und stellte diese Schrulle sofort mit schiefem Lächeln im Gesicht ein.

Zielstrebig steuerte er den U-Bahn-Eingang an und achtete in der Bahn peinlich darauf, die Sätze, die er baute und niederriss, wirklich nur im Geiste zu formulieren.

Beim Betreten des Firmenhofes erkannte Moritz auf einem der von United Media gemieteten Parkplätze den schwarzen Audi TT von Stopske. Der Wagen glänzte wie ein polierter Speckstein. Eine wesentliche Aufgabe der Praktikanten war es, mittels Fahrt zur und durch die Waschanlage an der Jannowitzbrücke genau dafür zu sorgen. Dicke Schneeflocken tanzten in der Morgenluft. Einige der Flocken landeten auf der noch warmen Motorhaube des Audis und verwandelten sich im Handumdrehen in kleine Wasserkleckse. Moritz suchte nach einem triftigen Grund, die fällige Aussprache aufzuschieben, fand jedoch keinen. Stattdessen spürte er einen lästigen Druck im Magen, der in Richtung Darmausgang marschierte. Gut, ein Besuch der Toilette dürfte als Grund für eine kaum ins Gewicht fallende Verzögerung gelten.

Um nicht ganz und gar die Kondition zu verlieren, zählte es zu Moritz’ selbst auferlegten Regeln, die Stockwerke bis zur vierten Etage, in der United Media logierte, über das Treppenhaus zu erklimmen. Heute verzichtete er darauf, um nicht völlig atemlos im Büro anzukommen. Die Puste musste für den sprichwörtlichen langen Atem gespart werden.

Mit leichtem Fingerdruck auf die Sensortaste rief er den Aufzug. Der gläserne Fahrstuhl ließ nicht lange auf sich warten und öffnete, nahezu lautlos, einladend die Tür. Moritz stieg ein, wählte die vierte Etage und die Aufzugstüren glitten just zusammen, als Petra um die Ecke lief. Das süße Gefühl der Schadenfreude überschattete für ein paar Sekunden sein mulmiges Bauchgrummeln.

Nachdem Moritz Mantel und Tasche abgeworfen hatte, verschwand er, den gelockerten Schal noch um den Hals, im von einem namenhaften Designer entworfenen Sanitärtrakt. Der Versuchung, auf dem Rückweg erstmal einen Stopp an seinem Schreibtisch einzulegen, widerstand er und ging schnurstracks weiter zum Büro des Produzenten, welches gleich am Eingang der Etage lag.

Fragend steckte Moritz seinen Kopf durch die stets halb offen stehende Tür. Ein Zugeständnis an das neue Gebaren, das sich Stopske bei den häufigen Terminen im Sender abgeschaut hatte. Sich hinter geschlossenen Türen einzuigeln, galt als unmodern und war auf den Chefetagen verpönt.

Auf und ablaufend, das Telefon am Ohr, gab Erik Stopske Moritz mit der freien Hand ein Zeichen Platz zu nehmen und die Tür hinter sich zu schließen. Sein Chef wirkte fahrig und in Moritz kam erneut der Verdacht auf, der ehemalige Aufnahmeleiter beschränke nach dem Karriereaufstieg seinen Alkoholkonsum nicht mehr nur auf die Zeit außerhalb des Dienstes. Das teigige, aufgedunsene Gesicht und die roten, geplatzten Äderchen rund um die Nase sprachen Bände.

Während Moritz sich setzte, hörte er zweimal ein Nein, so geht das nicht von Stopske, das der barsch in den Hörer blaffte. Vielleicht ist dieser Morgen doch nicht der ideale Zeitpunkt zum Aufbegehren, schlich sich ein dünnes Stimmchen in Moritz’ Gedanken und erhöhte den Druck im Magen um einige Pascal.

Mit seinen maßgeschneiderten Einbauregalen und dem angefertigten Schreibtisch machte das Zimmer einen fast ehrbaren Eindruck. Von den Decken warfen zur Lichtinstallation zweckentfremdete Stahlträger helles, dennoch weiches Licht auf den geölten Parkettboden. An der Wand rechts vom teuren Schreibtisch hing eine überdimensionale Magnetwand, auf der Stopske nach einem nur ihm vertrauten Prinzip Zeitpläne für die jeweiligen Drehteams sowie die Inhalte der einzelnen Folgen überwachte. Ein kümmerliches Dasein fristeten die Pflanzen im Büro des Produzenten — niemand nahm sich die eine Minute, ihnen ein- oder zweimal die Woche Wasser zu geben. Selbst die tägliche Putzkolonne erbarmte sich ihrer offensichtlich nicht. Da sein Chef immer noch telefonierte, nahm Moritz die halb volle Flasche Mineralwasser von der Fensterbank und verteilte sie gewissenhaft auf die drei Töpfe. Zweimal Grünlilie, einmal Efeutute, ordnete er mühelos zu. Kurz nach der Wende hatte er vorübergehend als freier Fotograf für das Gartenmagazin Grüne Wiese gearbeitet und war dabei der Pflanzenwelt näher gekommen. Leider hatte sich das Heft nicht lange am Markt gehalten, und Moritz musste sich beruflich wieder anderen Themen zuwenden.

Als Erik Stopske das Gespräch endlich beendete — er hatte den Hörer noch in der Hand — klingelte es erneut. Der Anrufer wurde flott abgewimmelt: „Ich rufe zurück“, versprach Stopske und stellte die Rufumleitung zum Empfang ein.

Moritz kam gleich zur Sache: „Es geht mir noch mal um die nächste Folge.“

„Ich höre, mein Bester, schieß los!“ Stopske zeigte sich jovial und unterstrich dies mit einer einladenden Geste.

Moritz räusperte sich und runzelte die Stirn. Jetzt hätte er gerne einen Schluck von dem Wasser getrunken, welches er mildtätig den Pflanzen gespendet hatte. Zu spät. Vorbei ist vorbei. Mit Sicherheit war das Wasser schal und abgestanden und somit ungenießbar, tröstete sich Moritz über den Fehler hinweg. „Ja, also, es geht um die Sache mit Judith und Melanie beziehungsweise um den Aufbau der nächsten Folge. Das Ganze ist ja ein Schönheitswettbewerb. Wir zeigen den Alltag der einzelnen Teilnehmerinnen, ihre Beweggründe, ihre Wünsche, Sorgen, Ängste und so weiter … “

„Soweit bekannt“, kommentierte Stopske gelangweilt.

Moritz ignorierte den Einwurf und fuhr fort: „Brisanz ergibt sich doch ohnehin dadurch, dass sie alle das eine Ziel verfolgen: Jede will den Titel Best Beauty holen. Ich fühle mich wie das letzte Arschloch, wenn ich künstlich Feuer lege und damit schön am Ego der Mädels kratze, welches ja ohnehin bei allen nicht das Beste ist.“

Eine Pause entstand, in der es nicht so wirkte, als wolle Erik Stopske in absehbarer Zeit reagieren.

Eine Spur trotziger setzte Moritz nach: „Und ich versteh’ auch nicht, warum das notwendig sein soll, einen Zickenkrieg anzuzetteln!“

Stopske sprach wie ein geduldiger Lehrer zu seinem begriffsstutzigen Schüler und löste dabei seinen Blick endlich vom Computer-Bildschirm: „Deine humanitären Ansichten in allen Ehren, lieber Moritz, aber das bringt uns nicht voran. Wenn wir nicht die Kamera draufhalten, macht es jemand anderes, und zwar ganz fix. Dann sind wir raus aus dem Geschäft. Ich muss mich auch an die Vorgaben des Senders halten, verstehste?“

Indem er sich als Handlanger anderer hinstellte und alles als von Gott gegeben hinnahm, machte Stopske es sich wieder einfach. Moritz wurmte diese bequeme Einstellung. Um nicht länger still auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch sitzen zu bleiben, in eine Position der optischen Unterwürfigkeit gepresst, erhob sich Moritz geräuschvoll und nahm einen weiteren Anlauf, an Stopskes journalistische Ehre zu appellieren — wenn auch ohne große Hoffnung, dass sein Gegenüber einen Rest davon besaß: „Kann man da nicht einen Kompromiss finden? Die Zuschauer bleiben mit Sicherheit auch dran, ohne dass Judith und Melanie wie die Furien aufeinander losgehen. Mensch, das sind doch noch halbe Kinder! Die meisten noch keine 18. Die wissen doch gar nicht, wie sie hier vorgeführt werden. Und die Eltern fühlen sich noch wer weiß wie wichtig, weil die Tochter im Fernsehen zu sehen ist. Früher durften wir die Wahrheit oft nicht zeigen und jetzt wieder Manipulation des Zuschauers! Ich find’ das ehrlich gesagt zum Kotzen!“

Stopskes massiger Körper füllte den Sessel komplett aus. Selbstgefällig im Chefsessel lümmelnd, steckte sich sein Chef eine Zigarre hinter das fleischige Ohr. Das Ohr gehörte zu der Sorte mit angewachsenem Ohrläppchen, wie Moritz in diesem Moment zum ersten Mal feststellte — ein Zeichen für Schlitzohren, ein Hinweis auf kriminelle Energie. Früher in der Schule hatte Moritz nie etwas auf solche kindischen Katalogisierungen gegeben — eben kam ihm diese Einordnung gar nicht mehr so falsch vor. Ihr Disput schien den Menschen Stopske nicht sonderlich zu beeindrucken und der Produzent Stopske nahm seine Bedenken noch weniger ernst. Moritz ging im Büro unruhig einige Schritte auf und ab und mustere dabei die handbeschriebenen Rücken der Kassetten- und DVD-Hüllen, die in den vollgestopften Regalen, neben Papierbergen von nicht verkaufbaren Konzepten, darauf warteten, jemals wieder in die Hand genommen zu werden.

Im Tonfall eindringlicher werdend, erhob sich jetzt auch Stopske und beugte sich über den Tisch, die breiten Hände mit den gelbbraunen Fingernägeln auf die Tischplatte gestützt. „Ja, und jetzt zählen Quoten und Werbekunden. So ist das beim Privatfernsehen! Judith und Mel werden sich fetzen. Punkt. Was meinst du, wie viele von denen da draußen Schlange stehen, um meinen oder deinen Job zu übernehmen? Wir sitzen doch allesamt im selben Boot. So schnell kannst du gar nicht gucken und du bist weg vom Fenster. Und wir sind hier auch nicht beim Wunschkonzert. Also kneif den Hintern zusammen und mach einfach deinen Job! Ende der Durchsage.“

Mit zusammengebissenen Zähnen zischte Moritz zurück: „Kinder manipulieren und vorzuführen gehört nicht zu meinem Job. Genau das ist das Problem!“

Er begriff, dass er im Augenblick bei Stopske keinen Schritt weiterkam. Ihre unterschiedliche Sichtweise machte eine Einigung schier unmöglich. Irgendwie musste er einen anderen Weg finden. Verärgert und aufgebracht verließ er das Büro, sonst würde die Situation womöglich noch eskalieren. Die Tür ließ Moritz sperrangelweit offen stehen.

Stopske, ganz die Beherrschung in Person, begann bereits wieder zu telefonieren. Seine Telefonstimme bemühte sich um einen geschliffenen Einstiegssatz mit einem Entscheider vom allmächtigen Sender in Sachen Best Beauty: „Herr Lehndorff, ich grüße Sie! Schön, dass ich Sie so schnell an die Strippe bekommen habe … “

Im Vorbeigehen griff sich Moritz hinter dem Empfang eine Flasche Orangensaft aus dem durchsichtigen Kühlschrank, der eigentlich nur zur Befeuchtung durstiger Gästekehlen regelmäßig bestückt wurde. Für die Angestellten befand sich ein voluminöser Wasserspender in der Mitte des Großraumbüros, der meistens gerade aufgefüllt werden musste. Gierig schüttete er den Saft in zwei Zügen hinunter. Er schmeckte süßlich, erfrischte seinen trockenen Gaumen und kühlte ein wenig sein erhitztes Gemüt ab. Die leere Glasflasche ließ er aus Hüfthöhe in den roten Plastik-Papierkorb für die zum Wasserspender gehörenden Pappbecher fallen. Der Aufprall erzeugte ein beachtliches Rumsen, was die Kollegen in der Loft-Etage an den Computern und Telefonen zum Aufschauen veranlasste. Schade, dass er keine Digitalkamera zur Hand hatte, um diesen genialen Schnappschuss der offen stehenden Münder und unkontrollierten Gesichtsausdrücke festzuhalten. Die Unterbrechung der Aufmerksamkeit währte kurz — Sekunden später hielten alle Medienfuzzis die Köpfe wieder gesenkt und die Finger hämmerten auf den Tastaturen, als gäbe es kein Morgen.

Auf Moritz’ Schreibtisch lagerte ein Stapel Kassetten und gleich daneben lagen Listen mit Timecodeangaben vom Drehmaterial. Die Timecode-Listen musste ihm am vergangenen Abend noch jemand hingelegt haben. Er nahm einen der eng beschriebenen Bögen in die Hand. Mit einem flüchtigen Blick erkannte er, dass die Auflistung zu unpräzise war, um damit in den Schnitt zu gehen. Ärgerlich warf Moritz sie wieder auf den Tisch. Die Situationen, in denen niemand Zeit zur Einarbeitung der jeweiligen Praktikanten investierte, häuften sich in den vergangenen Monaten. Die günstige Vorarbeit entpuppte sich wieder einmal als kostspielige Mehrarbeit. Resigniert nahm sich Moritz den Stapel Kassetten, ging an den Sichtplatz und schob das erste Band ein. Kaum lief die erste Kassette, klingelte sein schnurloses Telefon. Stopske verlangte von Moritz für das morgige Treffen mit Lehndorff binnen einer Stunde die Zusammenstellung verschiedener Unterlagen: „Quoten, einschließlich der Kurvenverläufe, das Manuskript für die nächste Folge und das Konzept für die Endwahl. Das wär’s erstmal.“ Genervt brach Moritz die begonnene Arbeit ab, ließ den Player das angefangene Band wieder ausspucken und ging zurück an seinen Schreibtisch, um in dem weitverzweigten Ordernetz des Servers zu wühlen, in dem ständig Dateien von einem Ort zum anderen wanderten oder gänzlich verschwanden.

Am Nachmittag schloss Moritz sich drei Kollegen, unter ihnen Praktikantin Petra, zum Essen an. In Berlins Mitte wimmelte es von Lokalen und Imbissen, deren Angebote sich auf hektisch gegessene Mittagsmenüs spezialisiert hatten. In allen war es zwischen 14 und 15 Uhr überfüllt, danach nur noch voll — es sei denn, man wählte den Fleischerimbiss in der Torstraße, in das Mittagsbrot noch wie in guten alten Zeiten zwischen 11:30 Uhr und 13 Uhr über die Theke ging. Diese Form der frühzeitigen, schweren Verköstigung war freilich für seine Kollegen undenkbar und das Zeitfenster hatte Moritz heute ohnehin verpasst.

Sie hatten Glück, als sie gegen halb drei einen Vierer-Tisch in einem puristisch eingerichteten vietnamesischen Restaurant in der Rosenthaler Straße ergatterten. Der Lautstärkepegel in dem Lokal glich mehr dem eines Clubs weit nach Mitternacht. Moritz war dieses laute Gebrumm wie in einem Bienenkorb nicht unlieb; so schaffte er es leichter, über einzelne Schlagwörter und ganze Sätze hinwegzuhören. Man lief durch die Enge der Tische leicht Gefahr, die nahezu austauschbaren, fraglos eloquent vorgetragenen Wortfetzen von den Nachbarplätzen aufzuschnappen. Die Gespräche drehten sich stets und ausschließlich um spannende Projekte und das an allen Tischen. Größtenteils agierten die Leute wie auf einer Bühne. Amüsieren konnte das Moritz schon lange nicht mehr. Auch Petra und die beiden Kollegen, die die Mädchen aus den Bundesländern Bremen und Niedersachsen mit der Kamera verfolgten, gaben ihren Senf zu den Teilnehmerinnen von Best Beauty lauthals und in rauen Mengen zum Besten. Wären sie im Fleischerimbiss eingekehrt, hätte ein ganzes Heer von Bauarbeitern ihre Bockwürste darin tunken können.

Moritz vertiefte sich in seine Tasse Jasmintee, den die Karte mit den Mittagsmenüs wahlweise zur Vorsuppe mit dem Hauptgericht anpries. Konzentriert bepustete er das Getränk von allen Seiten, um sich dann in kleinen Schlucken dem Inhalt der Tasse zu nähern. Das Material, dickwandiges Keramik, ließ den Tee kaum abkühlen. Eine gute Sache für seine kalte Wohnung; hier im Lokal eher hinderlich.

Zwischen zwei Löffeln Reisnudelsuppe lehnte sich Praktikantin Petra erneut mit ihrer Idee, Melanie und Judith durch den gemeinsamen Ex-Freund David gegeneinander auszuspielen, weit aus dem Fenster. Von den beiden Kollegen am Tisch erntete sie Applaus.

Der aalglatte, etwas dümmliche Jörg, der noch vor zwei Jahren als freiberuflicher Fahrer bei United Media angefangen hatte, sagte: „Man muss sie nur am richtigen Punkt erwischen. Dann sind alle manipulierbar und fallen aus der Rolle.“

Noch ein erwachsener Mann, der so dachte. Moritz verging der Appetit.

Grinsend stupste Jörg mit seinem Zeigefinger den Strohhalm zurück in die Bionade, deren Kohlensäure ihn postwendend wieder nach oben beförderte. „Warum ist deine Tochter nicht bei Best Beauty am Start, Moritz? Sitzt an der Quelle und wir casten eine Lusche nach der anderen. Das geht ja wohl nicht an … “

„Bin einfach kein Freund vom Vermischen von Privatleben und Arbeit.“ Hoffentlich hielt der Typ jetzt seinen dämlichen Mund.

Fliehend schweifte Moritz’ Blick durch das Restaurant. Selbst die Bedienung bestand aus Schauspielern, Regisseuren, Musikern, Sängerinnen oder Models — die allerdings noch auf eine Finanzierung ihrer Kunst und auf den damit verbundenen Durchbruch warteten. Sich dieser eingeschworenen Gruppe von Schaustellern nicht mal mit dem großen Zeh zugehörig fühlend, stach Moritz wortlos die Stäbchen in die duftende Schale. Das Essen schmeckte zweifellos hervorragend, nur das Gehabe der Mitesser hinterließ jedes Mal aufs Neue einen faden Nachgeschmack in seinem Mund.

Kapitel 3: Ende der 80er

Als Moritz an diesem Morgen aus dem Haus trat, umspielte ein feines Lächeln seinen Mund. Beim Gehen knöpfte er sich seinen aus grobem Salz- und Pfefferstoff gefertigten Kurzmantel zu, zog den Schal etwas enger und fuhr sich mit den schlanken Händen durch das noch von der ausgiebigen Nachtruhe abstehende Haar. Seine dunkelblonden Haare bildeten einen netten Kontrast zur Farbe des hochgestellten Mantelkragens. Zwar war es bereits Mitte März, doch um diese Uhrzeit noch recht frisch, sodass Moritz vorsichtshalber den Schal dieser Tage noch zu seiner Standard-Ausrüstung zählte. Obendrein war es ein recht schöner Schal, grau mit roten Punkten, aus einem leichten Baumwollgemisch, den einige seiner Kollegen aus der Redaktion aufgrund des Musters als zu modemutig für einen Mann Mitte 20 betrachteten. Genau der Punkt, der ihn für Moritz zum Lieblingsschal machte, was zugegebenermaßen eine sehr kleine Provokation war — aber immerhin.

Er überquerte die Straße und freute sich dabei über das glänzende Kopfsteinpflaster, welches durch den feinen Sprühregen, der seit den Morgenstunden unablässig vom Himmel fiel, wie frisch poliert wirkte. Er stolperte fast über die außergewöhnlich hohe Bordsteinkante, schlängelte sich durch zwei parkende Trabis und bog in den Park ab.

Sobald er einige Schritte in die Grünanlage gesetzt hatte, begann er bewusst tief ein- und auszuatmen, wobei er unterstützend die Arme im Atemrhythmus nach oben und unten schwingen ließ; je nach Tagesform fiel er zusätzlich in einen leichten Trab, so wie heute. Eine Horde beranzter Schulkinder überholte ihn. Kaum in sicherer Entfernung drehten sich drei von ihnen um und riefen im Chor: „Schneller, Propeller, schneller, Propeller.“

Auf den letzten Metern im Park erhörte Moritz den Ansporn der Kinder und beschleunigte das Tempo. Gut gelaunt schaute er nach dieser Ertüchtigung in den beginnenden, noch etwas nebligen Tag.

Beim Blick auf die Bahnhofsuhr, die er schon vom Ende des Parks sehen konnte, erkannte Moritz, dass er noch acht Minuten auf die S-Bahn nach Grünau warten musste, und verringerte sofort seinen Laufschritt in ein gemächliches Schlendern. In drei Minuten würde quietschend die Straßenbahn um die Ecke biegen, erstaunlich viele Leute ausspucken, wovon dann der Großteil Morgen für Morgen die Stufen hoch zur S-Bahn eilte. Warum jene Menschen diese Hektik an den Tag legten, leuchtete ihm nicht ein. Davon ausgehend, der Fahrplan sei allen berufstätigen Insassen bekannt, schüttelte er bei dem Anblick unwillkürlich seinen Kopf. Mehr als fünf Minuten auf einem zugigen Bahnsteig hielt Moritz schlicht für unzumutbar, weshalb er generell lieber trödelnd die Zeit vor dem Bahnhof verbrachte, als wartend am Gleis.

So blieb er vor dem großen Schaufenster des Modelleisenbahn-Ladens stehen, obwohl er mit Modelleisenbahnern nun rein gar nichts am Hut hatte. Der große Ernst und die Akribie, mit der selbst gestandene Männer diesem Hobby frönten, waren ihm suspekt. Es war und blieb schlicht und einfach Spielzeug. Jedoch bot das aufmerksame Studieren der unendlichen Details eine hervorragende Möglichkeit, die Zeit angenehmer, als auf dem Bahnsteig wartend, zu überbrücken. Mit dem Mittelfinger drückte Moritz auf die Play-Taste seines Walkmans, der für die ewig ausgebeulte linke Manteltasche verantwortlich war, bevor er sich ganz der Betrachtung zuwandte. Verschiedene Eisenbahnmodelle, die auf einer großen Platte über Brücken und Bahnübergänge durch Tunnel und Wälder fuhren, füllten das Schaufenster. Lebendig wurde die Szenerie durch Miniatur-Menschen, die auf Bänken saßen, tranken und aßen, Bauarbeitern, die ihre Lkws beluden, Frauen, die ihre Kinder in den Kindergarten brachten, alte Leutchen, die im Park Tauben fütterten oder eben Werktätige, die auf Bahnhöfen warteten. Dieses liebevolle Abbild banaler Geschehnisse gefiel ihm, und einige der Figürchen waren Moritz mittlerweile seltsam vertraut. Ein verwegenes Pärchen auf einem Motorroller, beide im Stile der 70er Jahre frisiert und gekleidet, erinnerten ihn an seine erste Freundin Mirijam und sich selbst. Damals war er 16, wohnte in Waren an der Müritz und wollte Mirijam heiraten. Heute wusste er nicht einmal, wo sie lebte, und es interessierte ihn auch nicht mehr im Geringsten. Von Anita bekam Moritz alles, was er zum Glücklichsein brauchte.

Aus den kleinen Kopfhörern des Walkmans sangen ihm die Elektropopper von Human League ihr Keep Feeling Fascination ins Ohr, während er summend seinen Weg fortsetzte.

Am Zeitungskiosk vor dem Bahnhof standen bereits eine Handvoll Leute, Moritz reihte sich ein.

„Jeht die Woche wieder los, wat. Schönen Arbeitstag dann mal für Sie“, wünschte der Mann aus dem Häuschen heraus, während er ihm die Berliner Zeitung in die Hand drückte. Dabei kam er fast mit dem ganzen Kopf aus der kleinen, rechteckigen Öffnung in der Scheibe des Kiosks herausgekrochen, sodass Moritz sich Sorgen machte, die hochgeschobene Glasscheibe möge bitte halten und dem Zeitungsverkäufer nicht wie das Beil einer Guillotine in den dünnen Nacken fallen. „Steht übrigens wieder nüscht Gescheites drin“, schob der Mann sorglos hinterher.

Moritz ließ sich ganz entgegen seiner Art zu einer Bemerkung hinreißen, die ihm, das imaginäre Fallbeil vor Augen, wirklich am Herzen lag: „Damit’s ein schöner Tag für Sie bleibt, den Kopf lieber drinnen, im Schutz des Häuschens lassen.“

Den Kommentar: „Na, der hat vielleicht Probleme“, den die Frau hinter ihm verwundert ausspuckte, hörte Moritz genauso wenig, wie das: „Der hat wohl een, zwee Schrauben locker“, des Zeitungsverkäufers, der ihm verblüfft mit noch längerem Hals aus dem Kioskfenster heraus hinterherschaute.

Erfreut stellte Moritz beim Betreten des Bahnsteiges fest, dass noch exakt zwei Minuten verblieben, bis die Bahn laut Fahrplan einfahren würde. Daraufhin holte er seine Fahrkarte aus der Hosentasche und steckte sie zum Lochen in den gierigen Automaten-Schlitz.

Das Fernsehgelände glich mit seinen beeindruckenden Ausmaßen einer kleinen Stadt. An die 5.000 Menschen arbeiteten hier am Programm 1 und 2 des DDR-Fernsehens. Nach seiner Lehrausbildung als Fotograf bei der Studiotechnik Fernsehen war Moritz auf das Gelände des Fernsehfunks in Johannisthal gewechselt, bevor er im Herzstück des Senders, in Adlershof landete. Neben den großen Studios, der Unmenge von Büroräumen, den Lagerhallen und Archiven, dem Kostüm- und Requisitenfundus, gab es beinahe alles, was man zum täglichen Leben brauchte und mehr: Eine hauseigene Druckerei und eine zentrale Poststelle, eine Fahrschule, die angeschlossene Poliklinik und sogar ein Friseur warteten auf Kunden. Es gab den kleinen Konsum, der vor allem dann rege besucht wurde, sobald sich das Eintreffen einer Lieferung Erdbeeren, Tomatenketchup oder anderer Begehrlichkeiten herumgesprochen hatte. Ferner luden drei Kantinen, wovon sich eine großspurig Casino nannte, zum Mittagstisch ein. Grund für diese exponierte Bezeichnung gegenüber den anderen Kantinen war die extra lange Öffnungszeit der Küche.

Moritz steuerte am Goldfischteich vorbei auf den dreistöckigen Neubau zu, in welchem die Nachrichtenredaktion untergebracht war. Ab und an zerbröselte Moritz für die dicken Fische nach der Mittagspause eine Scheibe Brot, die die Köche in den Kantinen zum Eintopf reichten. Nach den Ausmaßen der Teich-Bewohner zu urteilen, pflegte er dieses Brotentsorgungs-Ritual nicht alleine.

Dicht hinter ihm hupte plötzlich ein Barkas. Nach einem flotten Seitensprung auf den Gehweg erhaschte Moritz noch eine Aussicht auf den Fahrer, der, lässig aus dem heruntergekurbelten Seitenfenster grüßend, vorbeifuhr. Der Mann kam ihm gänzlich unbekannt vor. Den Gruß zu entgegnen verkniff er sich deshalb.

Das Gebäude R2 war hässlich, ohne jegliche Verzierungen oder architektonische Extras; lediglich nach praktischen Aspekten innerhalb weniger Wochen hochgezogen. Nachdem Moritz den vierstelligen Code in das Kästchen neben dem Eingang eingegeben und mit der Rautetaste bestätigt hatte, öffnete sich die Tür mit einem sanften Klicken. Die Büros reihten sich, jeweils rechts vom langen Flur, auf allen drei Stockwerken Tür an Tür in identischen Abständen aneinander. Ein kleines Studio und ein Abnahmeraum waren im Erdgeschoss linker Hand am Ende des Flurs untergebracht. Im zweiten Stock befanden sich drei Schnittplätze und die Paintbox.

In der Redaktion empfingen ihn ein müder Nachrichtenchef und eine munter dreinblickende Redaktionssekretärin. Beide hatten einen Becher Kaffee vor sich stehen, der, dem Dampf nach zu urteilen, noch heiß, damit frisch gebrüht und somit genießbar war. Schnell schenkte sich Moritz ebenfalls eine Tasse ein und stellte sie auf seinen Schreibtisch, der bis auf wenige Ausnahmen stets picobello aufgeräumt war. Er stellte erst danach seine Tasche ab und legte die Zeitung weg, die in der Tat keine spannenden Neuigkeiten zu bieten hatte — man konnte ja nie wissen, oft waren diese ersten morgendlichen Abläufe für den Erhalt des Heißgetränks entscheidend. Es gab Tage, da stolperten die Kollegen so fix hintereinander zur Kaffeemaschine, dass wenige Minuten später bereits die letzten Tropfen laut zischend auf der heißen Platte verdampften.

Seinen Mantel hängte Moritz auf einen der Holzbügel und verstaute ihn in dem dafür vorgesehenen Garderobenschrank. Zu guter Letzt legte er den fröhlich gepunkteten Schal, einmal ordentlich in der Mitte gefaltet, über die Bürostuhllehne, obwohl er wusste, von dort würde er im Laufe des Tages etliche Male auf den Boden fallen — in einigen Dingen zeigte sich Moritz Montag unbelehrbar.

„Schönes Wochenende gehabt?“ Ines rückte die mit blauen Blümchen verzierte Kaffeetasse ein wenig weiter nach rechts, von der elektrischen Schreibmaschine weg, und richtete die vorsortierten Papierbögen — ein farbiges Blatt, ein Kohleblatt, ein Durchschlagpapier und noch ein Kohleblatt nebst Durchschlagpapier, sauber Kante auf Kante aus. Wie gewohnt präsentierte sich das 19-jährige Redaktionsküken sorgfältig geschminkt und nach der neuesten Mode gekleidet, was heute die Kombination von eng anliegendem Samtbody, in undefinierbaren Farbtönen, zu hellblauer stonewashed Jeans bedeutete, die nur von Westverwandten oder aus dem Intershop stammen konnte. Die dünnen blonden, halblang geschnittenen Haare, bei deren Anblick Moritz jedes Mal an Spaghetti denken musste, konnten mit viel Haarspray aufwendig frisiert, in Hinblick auf die modische Garderobenauswahl mithalten. Spuren ihrer ausschweifenden Wochenenden, von denen alle aus Erzählungen en détail wussten, sah man Ines nie an, wie Moritz etwas neidisch feststellte. Durch Ines kannte er alle angesagten Diskotheken in und um Berlin, zumindest namentlich. Ein Privileg der Jugend, nachts um die Häuser zu ziehen, das sich bei Moritz, seit er Vater geworden war, verflüchtigte. Ausführlich berichtete Moritz von den neusten Sprachfortschritten seiner Tochter und dem Ausflug ins Puppentheater, gemeinsam mit den Schwiegereltern, die sich seit der Geburt von Valentina verdammt häufig bei ihnen sehen ließen.

Dann leitete er zu seinem persönlichen Arbeitsbeginn über: „Aber jetzt mal zur Sache, Kollegen. Was liegt denn an?“ Moritz schaute dabei bewusst von Ines weg und fokussierte Achim, den Nachrichtenchef. Achim stand kurz vor seinem 35-jährigen Betriebsjubiläum und war das, was man in der Branche einen alten Hasen nannte. Ihn brachte so schnell nichts aus der Ruhe. Wenn es hektisch wurde, bekam Achim, meist kurz vor der Sendung, einen roten Kopf — das war das einzige Anzeichen, welches bei ihm auf nervliche Anspannung schließen ließ. Ausbrüche in Form von Gebrüll oder Gängelei gegenüber seinen Mitarbeitern hatte Moritz bei ihm nie erlebt und fand dieses Verhalten außerordentlich souverän, dem Posten angemessen.

Mit einem Schwung kippte Achim den letzten Schluck Kaffee in den Mund, strich darauf mit der anderen Hand sein bereits tadellos sitzendes Hemd über der Brust glatt und nickte Moritz zu: „Zu den Meldungen auf dem Stapel hier, dazu gehört das Wetter, kannst du dir schon mal Gedanken machen. Sind mit großer Wahrscheinlichkeit die Meldungen — falls nicht noch was Spektakuläres passiert — die um 12 Uhr laufen. Keine große Weltpolitik, aber zwei, drei hübsche Sachen sind dabei. So einen Kracher wie den Olympia-Sieg von unserer Kati in Calgary kriegen wir wohl vorläufig nicht so schnell wieder.“

Die drei blickten sich versonnen an, als sie an das Hochgefühl vor einigen Wochen zurückdachten. Der Nachrichtenticker hatte Ende Februar nüchtern den Sieg der DDR-Eiskunstläuferin bei den Olympischen Winterspielen ausgedruckt und die komplette Redaktion hatte sich augenblicklich wie der Nabel der Welt gefühlt. Moritz hatte ein Bild von Katharina Witt im Carmen-Kostüm herausgesucht und sie dann von der Grafik auf ein Sieger-Treppchen setzen lassen Um den Hals hatten ihr die Kollegen von der Paintbox eine riesengroße Medaille mit dem Schriftzug: DDR und Eins gehängt. Alle in der Redaktion liebten diese Art von Nachrichten, die auch über die Grenzen der sozialistischen Republik hinaus einen echten Nachrichtenwert besaßen. Parteitage, inklusive der jeweiligen Parteiprogramme der SED, gehörten nicht dazu. An dem Kati-Nachmittag hatten sie die fast in Vergessenheit geratene Flasche Rotkäppchen-Sekt aus dem Kühlschrank geholt und auf die Sportlerin angestoßen. Ines und Moritz waren zur Kantine geflitzt, um belegte halbe Brötchen und Salzstangen zu holen und es war ein richtig netter Abend geworden.

Für die bildliche Umsetzung des Wetters geistere Moritz schon seit dem Morgen eine Vorstellung im Kopf herum. Eine Schafherde, die unter wolkenverhangenem, tief liegendem Himmel grast, eine Gruppe brauner oder schwarzer Fohlen im Frühnebel auf der Koppel oder etwas ähnlich Harmonisches, was Tier und Natur in Verbundenheit zeigt. Es passte zum Wetter, zu seiner Stimmung und die Zuschauer mochten Tiere ohnehin. Falls er sich nicht entscheiden konnte, würde er Ines aus drei Motiven auswählen lassen. Das Redaktionsküken mochte es, wenn Moritz sie nach ihrer Meinung fragte und ihr damit das Gefühl vermittelte, wichtig zu sein. Mit Bestimmtheit tippte Ines auf das jeweils favorisierte Foto und sagte dabei stets: „Auf jeden Fall das hier. Ganz klar, Moritz.“

Schmunzelnd nahm sich Moritz in Ruhe die Meldungen vor und versah eine nach der anderem mit Notizen für die Bebilderung. Ines spannte das Formular in die Schreibmaschine ein und ließ den Bügel auf das Blatt Papier zurückklappen. „Du grinst ja heute wie ein Honigkuchenpferd“, stellte sie dabei belustigt fest.

„Na wenn schon, was dagegen?“ Durch eine Verbindungstür schlüpfte Moritz ins Nachbarzimmer, ein wunderbar sortiertes Bildarchiv. Im Laufe der letzten Jahre hatten er und eine Kollegin akribisch hunderte Zeitschriften und Magazine durchforstet, immer auf der Suche nach Motiven, die man einmal gebrauchen könnte. So sammelten sich in den Ablagekästen und Schüben eine Unzahl von Autobildern und Staus, Fotos von Menschenansammlungen und Demonstranten, Porträts sämtlicher Regierungsoberhäupter, Wahrzeichen von Städten, Tiere jeglicher Art und Rasse, symbolträchtige Aufnahmen wie Kreuze, Banknoten, Engel, Ketten oder Friedenstauben. Dafür durften sie auch West-Illustrierte plündern, was für das Wachsen des Bildarchivs eine Unabdingbarkeit darstellte. Allein mit Eulenspiegel, Sibylle, dem Magazin und der Melodie & Rhythmus kamen sie nicht weit. Die Mehrzahl der Printerzeugnisse im eigenen Land war einfach von zu schlechter Papierqualität für eine Verwendung im Fernsehen.

Moritz bereitete es Freude, ein nicht sofort naheliegendes Motiv oder eine Fotomontage für das Bild zu einer Meldung zu suchen und zu finden. Oft musste ihn Achim dann bremsen, weil er meinte, dem Zuschauer bliebe viel zu wenig Zeit, um über die Bedeutung des Fotos im Hintergrund des Sprechers zu grübeln und damit hatte er wohl recht. So wurde es dann letzten Endes doch oft plakativ, statt raffiniert.

Ödipus von Loriot feiert gleichzeitig Premiere in Ost- und Westberlin. Nicht undankbar die Nachricht fand Moritz, dafür könnte man eine nette Bildcollage von den Grafikern in der Paintbox bauen lassen. Alle von Achim vorsortierten Nachrichten mit Vorschlägen für die bildliche Umsetzung versehen, ging Moritz vom Archiv durch die Verbindungstür ins Nebenzimmer zurück, zum Nachrichtenchef. Moritz legte den Schwung Papier ab, goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und suchte im Kühlschrank nach einem Rest H-Milch.

„Mensch, das war ja klar! Es ist immer derselbe Mist. Und ich probiere es dennoch immer wieder aufs Neue, ich Blödkopf“, ärgerte sich Achim neben ihm, wobei er seinen Kugelschreiber bei jedem Wort in seine linke Handfläche klopfte.

Selbst aus einigen Metern Abstand erkannte Moritz das Malheur. „Mach die Kulimine wenigstens vorher rein, Achim.“

„Was?“ Aus dem Konzept gebracht, unterbrach der Nachrichtenchef die Attacke auf seinen Handteller.

„Drück die Mine rein, hab ich gesagt. Muss eine Meldung runter? Welche? Warte, lass mich raten!“ Moritz schaute rasch die verbleibenden Tickerausdrucke auf Achims Schreibtisch durch und wurde umgehend fündig. Entstehung der ersten nicht kommunistischen Partei in der UdSSR bahnt sich an. Dass sie diese Schlagzeile nicht durchbekamen, fand er wenig verwunderlich. Aber egal, die Leute schauten schließlich nicht nur die Aktuelle Kamera, sondern informierten sich klugerweise auch auf anderen Fernseh- und Radiokanälen. Mittlerweile war es für einen Großteil der Ostdeutschen, wenn sie denn zu den Glücklichen gehörten, die Westmedien empfangen konnten, eine Art spannendes Spiel geworden, nach der heute-Sendung um 19 Uhr die Aktuelle Kamera zu schauen. Oder erst die Hauptausgabe der Aktuellen Kamera um 19:30 Uhr und im Anschluss die Tagesschau. Welche Meldung fiel komplett unter den Tisch, welche wurde den Bürgern des Landes in abgewandelter Form überbracht, welche ging nahezu 1:1 über den Sender? Das Ganze hatte was von Fußball-Toto.

Er hielt Achim die Nachricht unter die Nase und wie nicht anders erwartet, bestätigte der mit einem Nicken und zog Moritz den Ausdruck aus der Hand. Der Nachrichtenchef hörte nicht auf, den Bogen in der Mitte durchzureißen, bis die Meldung, auf Briefmarken große Schnipsel geschrumpft, im Papierkorb landete.

„Nun is’ gut, oder willste Konfetti machen?“ Aus den Tiefen ihres Schreibtisches kramte Ines eine angefangene Tafel Schokolade, die sie Achim vor die Nase hielt.

Kurz nach halb 12 hatten sie dann alles für die Mittagsausgabe komplett. Achim las noch einmal sämtliche Meldungen Korrektur und legte danach die Blätter nebst Durchschlägen feinsäuberlich aufeinander in das Fach am Eingang des Büros. Niemals waren die Blätter weiß. Beim Lesen im Studio unter dem gleißenden Scheinwerferlicht barg das reine Weiß das Risiko, den Sprecher beim Lesen zu blenden. Dieses Wagnis wollte niemand eingehen — die Meldungen ohne Versprecher und Verhaspler vorzutragen, war auch so Herausforderung genug. Also existierten die Bögen mit den abzulesenden Nachrichten in Zartgrün, Zartgelb und Zartblau; Zartrosa gab es aus unbekannten Gründen nicht. Eventuell zu unmännlich, mutmaßte Moritz nach dem Kommentar seiner Kollegen zu seinem gepunkteten Schal.

Gegen Viertel vor 12 trat der korpulente Aufnahmeleiter Erik Stopske schwungvoll und leicht außer Atem ins Zimmer, um sich die Nachrichten in dreifacher Ausfertigung abzuholen und zu verteilen. Obwohl er in seiner Position als Aufnahmeleiter mit Sicherheit die meisten Wege während des Arbeitstages zurücklegte, ließen sich der Speck in den Hüften und der Wohlstandsbauch nicht vertreiben. Seinen durchschnittlichen Zigarettenverbrauch von ein bis zwei Schachteln pro Tag sah man Stopske deutlich an — er wirkte immer leicht schmuddelig. Besonders unangenehm stießen Moritz neben dem Geruch nach kaltem Rauch, der Stopske wie ein Mantel umwehte, die gelblich-braunen Fingernägel auf. Obwohl Erik Stopske ein umgänglicher Kollege war, blieb Moritz lieber auf Abstand — sowohl körperlich als auch kommunikativ. Es kursierte das Gerücht, Stopske verpfeife gerne und regelmäßig nicht ganz linientreue Kollegen an die Kaderabteilung. Meist war an diesen Gerüchten etwas dran.

Auf ein anderes Gerücht war ganz sicher nicht viel zu geben, es hielt sich dennoch ebenso hartnäckig in den Redaktionsräumen: Nach einem Ungarnurlaub vor zwei Jahren sah man Stopske ausschließlich mit einer tiefsitzenden Gürteltasche um den Bauch durch die Räume und Flure wandeln. Sie schien mit ihm verwachsen; selbst von der Toilette kam er nicht ohne dieses modische Accessoire. Dieser Umstand hatte die schlüpfrige Fantasie entfacht, Stopske transportiere darin sein Gemächt. Eine weitere Vorstellung, die Moritz nicht sonderlich behagte. Die Kombination aus beiden Gerüchten brachte Erik Stopske den hämischen Namen IM Gemächtträger ein, der bis weit über die Flure der Nachrichtenredaktion reichte.

Ines provozierte Stopske gerne mit Honecker-Witzen, die harmlos genug waren, um keinen wirklichen Ärger zu riskieren. „Kennt ihr den? Eine alte Frau fragt einen Volkspolizisten: Guter Mann, können sie mir bitte den Weg zum Kaufhaus Prinzip verraten? Der Polizist wundert sich: So ein Kaufhaus gibt es gar nicht. Darauf erwidert die Frau: Doch, doch, das muss es geben. Unser Staatsratsvorsitzender Erich Honecker sagt doch immer, dass es im Prinzip alles zu kaufen gibt.“

Stopske verzog säuerlich die Miene. „Was vermisst du denn im Angebot des Centrum Warenhaus genau?“, erkundigte er sich agitationsbereit.

„Ach, du verstehst einfach keinen Spaß“, winkte Ines daraufhin ab. Absatzklappernd setzte sie sich in Bewegung und schaltete unbekümmert das Fernsehgerät ein, wobei ihr alle anwesenden Kollegen auf den runden Hintern glotzten.

Als die Originalblätter an den Sprecher, Kopien an den Regisseur und weitere Kopien an den Regieassistenten verteilt waren, setzte sich Stopske zu ihnen vor den Fernseher, um die Sendung zu verfolgen. Eine nahezu beschauliche erste Ruhe des Tages kehrte ein.

Slopentied

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