Читать книгу Tigermädchen - Delia Muñoz - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеSie hatte viele Namen. Das Mädchen in Schwarz, die dunkle Retterin oder das Tier der Nacht.
Ein schwarzer Wagen fuhr um die Ecke in eine dunkle Gasse. Lautlos glitt er immer weiter hinein und niemand bemerkte das kleine, gefesselte Mädchen, das hinten auf dem Rücksitz lag. Die Straßenlaternen waren kaputt oder spendeten nur noch spärlich Licht.
Doch jetzt spähte eine dunkle Gestalt um die Ecke. Sie war vollkommen schwarz gekleidet und hatte dunkles Haar. Dass es stockfinster war, behinderte das Mädchen in Schwarz nicht im Geringsten. Sie erkannte das Auto auf Anhieb und bog zielstrebig in die Gasse ein. Während sie die Straße hinuntereilte, griff sie in ihre schwarzen Stiefel und hielt im nächsten Moment ein Messer in der Hand. Sie blieb stehen. Mit leicht zusammengekniffenen Augen zielte sie mit dem Messer auf die Reifen des Autos, warf es mit aller Kraft und die Klinge schnitt die Reifen entzwei. Offenbar hatte er nicht gerade die neuesten Reifen, dachte das Mädchen in Schwarz erfreut, denn es dauerte nicht lange und die Luft entwich, sodass das Auto zwangsläufig anhalten musste. Die dunkle Retterin eilte auf das Fahrzeug zu, ließ die schwarze, vordere Autotür mit ihren Fähigkeiten dichter werden und öffnete gleichzeitig die hintere. Ein junges Mädchen mit blasser Haut und ebenso dunklem Haar wie ihrem eigenen starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Das Mädchen in Schwarz nahm sie fest bei der Hand und zog sie aus dem Auto. Mit dem Messer schnitt sie die Fesseln auf und stieß das Mädchen in die nächste Ecke, eine Sekunde, bevor die vordere Autotür aufging und ein vor Zorn rauchender Mann ausstieg.
Das junge Mädchen in der Ecke wimmerte. Die dunkle Retterin sah den Mann verächtlich an. Automatisch wurden die Schatten um sie herum dichter, was es dem Mann erschwerte, sie in der Dunkelheit zu sehen. Doch das Mädchen in Schwarz konnte in der Nacht so gut sehen wie eine Eule, eine Gabe, deren Grund sie bis heute noch nicht erfasst hatte. Der Mann verzog wutschnaubend das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse und holte mit der Faust aus. Dafür, dass er nichts sah, zielte er überraschend gut, doch die dunkle Retterin wich ihm geschickt aus, verlagerte ihr Gewicht auf den linken Fuß und kickte ihm mit dem rechten effizient in den Magen. Er krümmte sich, was ihn jedoch nicht davon abhielt, nach ihr zu greifen, sie mit unerwarteter Kraft zu packen und gegen das Auto zu stoßen. Das Mädchen in Schwarz stieß sich vom Auto ab, drehte sich halb um die eigene Achse und nutzte den Schwung, um dem Typen in das behaarte Gesicht zu schlagen. Er stolperte ein paar Schritte nach hinten in das Licht einer altersschwachen Laterne. Die dunkle Retterin knurrte wütend, stellte sich in den Schatten des Baumes daneben und verschmolz mit der Dunkelheit. Der Mann schaute eine Weile lang verdutzt vor sich hin und kniff seine Schweinsäuglein zusammen. Dann trat er einen Schritt nach vorne, aus dem Lichtkegel der Straßenlaterne heraus - direkt in die Knie des Mädchens in Schwarz. Sie packte ihn am Kragen, schleuderte ihn herum und er krachte in sein Auto.
„Miststück!“
„Freut mich, hast du auch einen Nachnamen?“, antwortete die dunkle Retterin gekonnt.
„Wer bist du? Wie heißt du?“, wollte er wissen. Sein Atem stank nach Alkohol.
Das Mädchen in Schwarz grinste. „Du kannst mich „deinen Untergang“ nennen, wenn du willst.“ Sie überlegte kurz. „Oder so, wie es die Zeitung tut.“ Sie hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
Der Mann knurrte. „Und wie heißt du wirklich?“
Das Mädchen zuckte die Schultern. Passiv registrierte sie, wie seine Hand zu seinem Gürtel glitt und er sie, um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck bemüht, direkt anstarrte. Sie kickte ihm gegen das Kinn und er sackte ohnmächtig zusammen.
„Dummheit“, murmelte die dunkle Retterin fast schon amüsiert. Da kam ihr das junge Mädchen wieder in den Sinn. Rasch eilte sie zu der Ecke zwischen den zwei Häusern, wo sich das Mädchen versteckt hielt. Es zitterte am ganzen Körper und hatte die Arme um sich geschlungen. Mitfühlend lächelte das Mädchen in Schwarz die Kleine an und streckte ihr die Hand entgegen. Vorsichtig umfasste die Kleine die angebotene Hand und die dunkle Retterin zog sie hoch.
„Kommst du allein nach Hause?“, fragte das Mädchen in Schwarz.
Die Kleine nickte benommen und die dunkle Retterin bemerkte, wie sie sich die Handgelenke rieb; dort, wo die Fesseln gesessen hatten, waren rote Abdrücke zu sehen.
„D-danke“, stotterte das Mädchen, ehe es sich umdrehte und davonrannte.
Die dunkle Retterin blickte ihm nach und musste sich zusammenreißen, um ihm nicht hinterherzurennen und es in den Arm zu nehmen. Denn sie wusste genau, wie es war, vergewaltigt zu werden. Und dieses Mädchen erinnerte sie mehr als jedes andere an sich selbst. Stattdessen trat sie in den nächsten Schatten, verschmolz mit ihm und war verschwunden.
„Ein Miststück!“
„Blödes Gör!“
„Bloß ein Mädchen!“
„Pah! Ein fieses Stück!“
Ein Mann stellte die Bierflasche nachdrücklich auf den Tisch vor sich und rülpste. „Sie sieht aus wie ein junges, hübsches Mädchen. Doch das täuscht gewaltig! Sie haut dich so klein!“ Er drückte Daumen und Zeigefinger aufeinander und hielt den anderen die Hand vor die Nase.
Ein paar nickten zustimmend, doch einer schüttelte den Kopf. „Quatsch, sie kann doch nicht überall sein!“
Sein Nachbar lachte betrunken. „Ha! Dieses Weib ist schwarz wie die Nacht! Keine Ahnung, ob sie überhaupt ein Mensch ist.“
„Hast du sie noch nie getroffen?“, fragte der andere Nachbar des Zweifelnden.
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
Sein Sitznachbar lachte humorlos. „Na, dann sei mal froh, Junge, und bete.“
Der Mann gegenüber lehnte sich geheimnistuerisch nach vorne und den anderen schlug seine Bierfahne entgegen. „Bei Vollmond, da verwandelt sie sich in ein rabenschwarzes Tier!“, raunte er. Und keiner der Anwesenden lachte.
Auch die Zeitung hatte immer etwas zu berichten. Doch wer sie wirklich war, das wusste niemand. Man nannte sie bloß das Mädchen in Schwarz, die dunkle Retterin oder das Tier in der Nacht.