Читать книгу Tigermädchen - Delia Muñoz - Страница 7

2 BEGABUNGEN

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Melanie verkniff sich ein Lachen. „Tut mir leid, Daniel, es gibt kein Land der Nacht.“

Daniel grinste auch. „Natürlich. Du weißt nur nichts davon.“

Sie hob die Augenbrauen. „Ich höre?“

Er runzelte verwirrt die Stirn. Dann schien er zu begreifen, was sie meinte. „Sieh mal: Du hast pinke Augen, oder?“

Melanie schaute ihn perplex an. So hatte das noch niemand zur Sprache gebracht. „Ja ... Aber das sind keine Kontaktlinsen.“ Sie bestand darauf, dass sie nicht absichtlich mit ihrer pinken Augenfarbe herumlief.

Daniels Mundwinkel hoben sich, was die Grübchen auf seinen Wangen sichtbar werden ließ. „Eben. Und vorhin bist du mit die Schatten hier verschmolzen. Ich denke, das ist etwas ungewöhnlich.“

Melanie erstarrte wütend. „Also ist das Land der Nacht ein anderer

Name für die Klapsmühle?“

Daniel war nun total verwirrt. „Äh, Klapsmühle?“

„Ähm, ich meine Irrenanstalt.“

„Ach so!“ Daniel lachte leicht nervös. „Nein, das ist keine Irrenanstalt. Es ist eine Ort, wo viele Nachkommen der Cataara hingehen.“

Melanie erstarrte zum zweiten Mal während ihrer Unterhaltung. Cartara war ihr zweiter Vorname, doch das hatte sie noch nie jemandem gesagt, geschweige denn diesem Daniel.

„Nachkommen der Cartara?“, fragte sie alarmiert nach.

„Cataara, ja.“ Er legte den Kopf schief. „Schon mal was davon gehört?“, hakte er nach.

„Nein“, log Melanie. „Ist bloß ein komischer Name.“

Er blickte wieder zu ihrer Wunde. „Kann ich dich nicht erst dorthin bringen, verarzten und auf dem Weg erklären, was das ist?“

„Okay.“ Melanie zuckte die Schultern und stöhnte, als ihre Wunde erneut zu bluten begann. Das wäre vielleicht echt eine gute Idee.

Daniel überbrückte die Distanz zwischen ihnen mit zwei großen Schritten, nahm sie behutsam am Arm und führte sie die Gasse entlang. Tatsächlich war sie etwas wackelig auf den Beinen, was sie darauf schob, dass sie außer einem Kaffee noch nichts zu sich genommen hatte.

Melanies Blick blieb, als sie Daniel genauer mustern wollte, bereits an seinen muskulösen Oberarmen hängen. Auf seiner Haut waren Narben zu sehen, teilweise verheilt, manche noch frisch. Jetzt stellte sie fest, dass er fast einen Kopf größer war als sie. Daniel ging einen guten Schritt von Melanie entfernt die Gasse entlang und sie musste zugeben, dass er damit einen angemessenen Sicherheitsabstand wahrte, was viele der anderen Jungs, die sie kannte, nicht konnten.

„Hier rein.“ Daniel führte sie ausgerechnet in das heruntergekommene Haus, in welches sie vorhin kurz reingeschaut hatte. Obwohl Melanie eigentlich skeptisch sein, oder besser noch, schreiend davonlaufen sollte, siegte die Neugier, da Daniel außer seinem Gerede über ein Land der Nacht ziemlich normal auf sie wirkte. Er brachte sie durch die fast vollständig zerfallene Ruine des Hauses in ein heruntergekommenes Zimmer und öffnete das tief liegende Fenster, durch das das Sonnenlicht ins Zimmer flutete. Er kletterte hinaus und hielt ihr die Hand hin, um ihr zu helfen.

Ein richtiger Gentleman.

Durch einen zugewucherten Garten hinter dem Haus führte er sie in einen Wald hinein und steuerte auf einen Kiesweg zu.

„Wohin bringst du mich jetzt?“ War das etwa der Weg zu einem Land, das nicht einmal existierte?

Langsam begann Daniel zu erzählen. „Cataara war eine Mädchen, das in die Mittelalter gelebt hat. Sie ist elternlos aufgewachsen und hatte aus einem unerklärlichen Grund eine Gabe. Sie konnte mit Tieren sprechen und bei Vollmond eine Tiergestalt annehmen und der Nacht sagen, wann sie kommen und gehen sollte. Sie empfand das als normal, weil niemand ihr sagte, dass das ungewöhnlich war. Also hat sie ihre Fähigkeiten immer weiter verbessert, bis sie einmal einen Tiger kennenlernte, in den sie sich verliebte.“ Melanie prustete los.

Daniel warf ihr einen Blick zu. „Was ist?“

„Sie hat sich in einen Tiger verliebt?“, fragte sie lachend. Das war zu absurd.

„Ja, sie konnte mit dem Tiger sprechen.“

Melanie biss die Zähne aufeinander, um mit dem Lachen aufzuhören. Als sie nun über seine letzten Sätze nachdachte, fiel ihr auf, dass Daniel manche Artikel- oder Fallfehler machte.

„Okay, erzähl weiter.“ Jetzt waren sie am Rand des Waldes angekommen, hier erstreckte sich eine Stadt. Verwundert zog Melanie die Augenbrauen zusammen und nahm sich vor, nach Daniels Erklärung zu fragen, wo hier eine Stadt herkam. Doch zuerst wollte sie diese seltsame Geschichte zu Ende hören, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie ihm das Ganze abkaufte.

„Als das die Menschen in die Dorf, in dem sie wohnte, erfuhren, wollten sie alles unternehmen, damit sie sich in jemand anderen verliebte. Doch das funktionierte nicht. Da wurde sie von einem Typen vergewaltigt, von dem sie ein Kind bekam. Doch um dem Dorf zu zeigen, dass sie sich nicht von ihnen unterkriegen ließ, zeugte sie in Tigergestalt ebenfalls ein Kind mit dem Tiger. Dieses Kind nannte man Tigermädchen. Denn es konnte sich in einen Tiger verwandeln. Das andere Kind hatte ebenfalls Gaben, so wie alle Nachkommen der beiden. Das Mädchen hat beide Kinder in einem heiligen Wasserfall gebadet, deshalb nennt man sie jetzt Cataara, weil Katara Wasserfall bedeutet. Die erste Kind war übrigens ein Junge, das Tigermädchen eine Mädchen. Und die haben sich, wie alle Menschen, fortgepflanzt. Diejenigen, die von Cataara abstammen, nennt man Naimet. Und das Land der Nacht wiederum ist eben ein Ort, wo viele Naimet hingehen. Genaugenommen ist es bloß ein große Stadt, aber Stadt der Nacht klingt ja wohl bescheuert.“

Melanie nickte. „Und wieso Nacht?“

„Weil sich Cataara bloß in die Nacht ihrer Kräfte bedienen konnte.“

Melanie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Und wie findet ihr diese Naimet?“

„Meistens finden sie uns, weil es viele Eingänge gibt. Automatisch fühlen sie sich bei Vollmond zu diesen Orte hingezogen und dann geht einer von uns schauen, ob wer gekommen ist.“

„Aber Vollmond ist erst in zwei Tagen“, wandte Melanie ein. Automatisch nahm sie an, dass sie auch eine Naimet war – sofern sie Daniel Glauben schenken konnte.

Erstaunt schaute Daniel sie an. „Stimmt, ich ging auch nicht deshalb schauen. Ehrlich gesagt, war es rein intuitiv.“

„Ach so.“ Melanie spielte an ihrer Jacke herum, die sie sich über den Arm gelegt hatte. Bevor sie sich überlegen konnte, was sie noch sagen sollte, ergriff Daniel wieder das Wort.

„Cataara hat übrigens eine Regel erschaffen, die ziemlich wichtig ist“, begann er und betrachtete Melanie aufmerksam. „Man darf niemanden ungestraft töten, wenn es nicht absolut nötig ist.“

Melanie lachte verhalten. „Das ist auch hier eine Regel“, bemerkte sie trocken. Sogar strenger – auch wenn es ‚nötig‘ war, durfte man niemanden umbringen!

Daniel grinste. „Yo sé. Aber hier kommst du ins Gefängnis. Wenn man im Land der Nacht einfach so zum Spaß jemanden tötet, ohne dass man beispielsweise selbst in Gefahr schwebt, dann kriegt man so eine Mal irgendwo an die Körper, wie eine Art magische Tätowierung. Na ja, und das ist so verpönt, dass das keiner möchte. Man hat keine solchen Tätowierungen, das ist einfach so. Außerdem, wenn das ein Polizist sieht, kommt man nicht ganz so einfach weg – und da ist Gefängnis noch viel besser.“ Daniel zuckte mit den Schultern.

Melanie verstand zwar nicht so genau, wie sich dieses System so sehr von den Gesetzen in jedem anderen normalen Land unterschied, aber sie vermutete, dass so eine Mördermarkierung tatsächlich sehr schlecht ankam, wenn Cataara höchstpersönlich diese Regelung eingeführt hatte. Melanie kniff die Augen zusammen und vertrieb den Gedanken an Morde und unrealistische Sagen. Stattdessen sah sie sich interessiert um.

Sie waren mitten in der Stadt angekommen, wo im Moment wenige Leute unterwegs waren. Außer, dass nur selten mal ein Auto in eine Straße einbog und die Leute eine ungewöhnliche Ausstrahlung hatten, schien sich das Land der Nacht kaum von anderen Städten zu unterscheiden. Neugierig sah sie zu Daniel hinauf.

„Wohin gehen wir?“

Daniel deutete nach links auf ein weißes, längliches Haus. Daneben standen noch andere Häuser, alle groß und schlicht gehalten. Es sah aus, als ob sie alle zueinander gehörten, und vereinzelt sah man Teenager und Jugendliche, die aus den Gebäuden spazierten. „Hier rein, erst mal.“ „Okay ... Und nachher?“ Passiv rieb sie sich die schmerzende Schulter.

„Dann kannst du entscheiden, ob du hierbleiben willst oder wieder nach Hause gehst, als sei nichts geschehen.“

Melanie holte tief Luft. Das war ihr eindeutig zu viel auf einmal. Sie war noch nie gut darin gewesen, große Entscheidungen zu treffen. Zum Glück nahm Daniel sie wieder vorsichtig am Arm und führte sie in das längliche Haus hinein, dessen Tür offen war. Nun standen sie in einem Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Daniel öffnete die letzte Tür zu ihrer Rechten und führte sie in eine Art Krankenstation. Mehrere Erste-HilfeKästen standen herum und der Raum war mit Liegen und Stühlen möbliert. „Setz dich doch“, ertönte Daniels tiefe Stimme neben ihr.

Etwas unsicher ließ sie sich auf einem Stuhl nieder und nahm die Jacke auf den Schoß. Der Vorteil an schwarzen Jacken war, dass Melanie sie mithilfe ihrer Schattenkraft reparieren konnte. Sie legte sie in den Schatten und ließ den Stoff zusammenwachsen. In dem Moment kam Daniel zurück, der einen der Erste-Hilfe-Kästen dabei hatte. Stirnrunzelnd zeigte er auf ihre Jacke.

„Hast du das gerade geflickt?“

„Ja, mit schwarzen Dingen kann ich das“, antwortete Melanie und hoffte, dass er sich das mit dieser Cataara-Kraft erklärte. Er schien nicht allzu verwundert zu sein.

„Cool.“ Er öffnete den Koffer, holte eine längliche Flasche heraus und meinte: „Könnte ein bisschen brennen.“

„Nicht so schlimm.“

Er träufelte die durchsichtige Flüssigkeit auf ihren Oberarm, vom Geruch her tippte Melanie auf ein Desinfektionsmittel. Sobald die Tropfen sich mit dem Blut vermischten, begann es zu brennen und Melanie biss die Zähne zusammen, damit ihr kein Laut über die Lippen kam. Sie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als Daniel mit einem braunen, watteartigen Lappen das Blut der Wunde wegwischte. Doch er schien zu wissen, was er tat, und seine Bewegungen waren kontrolliert und sanft. Er holte Verbandszeug hervor und umwickelte die Verletzung vorsichtig. Dabei kam es Melanie so vor, als ob er ein wenig länger als nötig ihre Haut berührte.

„Danke“, sagte sie schließlich. Das ging tatsächlich schneller in dieser mysteriösen Stadt, als wenn sie erst noch nach Hause gegangen wäre, um sich zu versorgen. Schon jetzt ließ der Schmerz ein wenig nach.

„Kein Problem.“ Während er die Sachen verstaute, fügte er hinzu: „Möchtest du jetzt hierbleiben oder nicht?“

Melanie wusste nicht recht, was sie antworten sollte. „Was meinst du mit hier? Einfach hier in der Stadt ...?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, hier bist du nicht irgendwo, sondern in einer Art ... Internat. Wir nennen es Camp Cataara. Es ist wie eine normale Schule, nur, dass man als Schwerpunktfach Kämpfen und Hexerei erlernt. Man könnte auch wieder aus dem Camp ausziehen, aber das hat bisher kaum jemand gemacht.“ Kämpfen ... Sehr verlockend.

„Es ist zwar cool, aber wieso kämpft ihr?“

Daniel lächelte. „Es gibt mehrere solche Camps, manchmal haben wir Meinungsverschiedenheiten. Zum Beispiel wollten die Blacks schon immer das Tigermädchen. Nur leider haben wir gar keine.“

Melanie nickte. „Verstehe ...“, schwindelte sie und dachte nach. Sie könnte einfach hier zur Schule gehen, ihren Eltern das Ganze erklären und müsste nie wieder diese blöden Kids aus ihrer Stadt sehen. Sie würde ihre Eltern besuchen können, ganz bestimmt. Sie würde das Kämpfen lernen, vielleicht endlich erfahren, wieso sie diese seltsamen Gaben besaß, und würde an einem Ort aufgehoben sein, an dem es nicht total gestört war, wenn man nachts sehen konnte.

Sie lächelte Daniel an. „Naja, wieso eigentlich nicht?“, meinte sie. „Aber wie kann man das dem Staat erklären …?“

Daniel blickte sie halb erstaunt, halb erfreut an. Wahrscheinlich hatte er nicht gedacht, dass sie so schnell zusagen würde. „Du kannst sagen, du seist im Süden der Insel in eine Privatinternat aufgenommen worden. Das sagen viele, die hier einziehen. Der Staat weiß im Übrigen so in etwa darüber Bescheid.“

„Okay. Apropos einziehen: Ich müsste meine Sachen noch holen, oder?“ Wenn sie schon einzog, wollte sie das gleich erledigen. Sie hatte den Sommer über sowieso nichts Besseres zu tun.

Daniel lachte. „Ja, ich kann dir helfen, wenn du willst. Aber Schrank und Bett sind inbegriffen.“

„Gut, da bin ich aber erfreut“, antwortete Melanie ironisch. „Wie viele seid ihr denn?“

Daniel überlegte. „Wir haben fünf Gebäude mit je maximal zehn

Leuten und das zehn Mal. Ich komme auf 500, oder?“

Melanie rechnete nach. „Ja, glaub auch.“

„Also, dann wäre da noch ein Bett frei bei Emma im Zimmer. Sie hat bestimmt nichts dagegen.“

In dem Moment ging die Tür auf und ein hübsches Mädchen kam herein. Melanie nahm an, dass sie eine Schülerin hier war und musterte sie neugierig. Sie hatte einen goldblonden, dicken Zopf, der über ihre rechte Schulter fiel, und schöne, graue Augen. Sie war etwa in Melanies Alter und ein bisschen kleiner. Als sie Daniel sah, lächelte sie ihm freundlich zu, dann blieb ihr Blick am Neuankömmling hängen.

Sofort wurde Melanie nervös und fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar.

„Ähm, sorry, ich wollte bloß so einen Koffer holen.“ Das Mädchen musterte Melanie neugierig, machte jedoch keine Anstalten, einen Koffer zu nehmen. Melanie fiel auf, dass es sich ausgesprochen leise bewegte.

„Äh, das ist Melanie“, stellte Daniel die beiden vor. „Und das Emma.“

Besagte Emma kam zu ihnen herüber. „Hi. Bist du neu? Ich hab dich noch nie gesehen.“

„Ja, also … Ich bin erst gerade jetzt hierhergekommen“, stotterte sie herum, nicht sicher, was sie antworten sollte.

„Sie hat gerade beschlossen, dass sie hierbleiben will. Ich dachte, dass bei dir noch ein Bett frei ist ...?“

Emma lächelte erfreut, ihre Augen leuchteten. „Klar, du kannst zu mir kommen!“

Erleichtert, dass sie so schnell ein Zimmer bekommen hatte, erwiderte Melanie das Lächeln und stand auf. „Dann ... hol ich meine Sachen und komme wieder.“ Es fühlte sich komisch an, eine so große Entscheidung in ihrem Leben zu treffen, aber plötzlich freute sich Melanie darüber.

Daniel erhob sich. „Ich komme mit.“

Emma machte Anstalten, aus der Krankenstation zu verschwinden. „Ich geh mal John benachrichtigen.“ Dabei vergaß sie den Erste-HilfeKoffer und eilte schon aus der Tür.

Melanie wollte ihr hinterherrufen, doch bevor sie den Mund öffnete, hatte Daniel einen Koffer gepackt und joggte ihr hinterher. „Emma! Du hast den Koffer vergessen, mi amor.“ Er blieb direkt hinter ihr stehen.

„Oh.“ Emma drehte sich um und schlug sich gegen die Stirn. „Wie blöd, danke.“ Sie nahm ihm den Koffer ab, murmelte Daniel etwas zu und war dann gänzlich verschwunden.

Mi amor?

Melanie verdrängte das Eifersuchtsgefühl, das sie verspürte, als sie daraus schloss, dass Emma Daniels Freundin war. Es musste ja nicht gleich jeder Junge in ihrem Umfeld single sein!

„Was soll ich denn eigentlich mitnehmen?“, fragte Melanie Daniel, als sie gemeinsam durch den Wald zurückgingen.

„Ein paar Kleider, wichtige Dinge, aber keine Schulbücher oder so.“ Daniel grinste.

„Okay.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und wagte die Frage. „Wieso ist denn bei deiner Freundin ein Bett frei?“

Daniel schaute sie zutiefst irritiert an. „Welche Freundin?“ „Emma“, antwortete Melanie verunsichert. Daniel lachte. „Emma ist doch nicht meine Freundin!“ Melanie runzelte die Stirn.

„Wie kommst du denn darauf?“, wollte Daniel belustigt wissen.

„Äh ...“ Sie fuhr sich nervös durchs Haar. „Du hast sie mi amor genannt ...“

Daniel begann schon wieder zu lachen. „Oh, nein! Dann hätte ich aber viele Freundinnen.“ Verlegen rieb er sich die Stirn. „Auf Spanisch sagt man das viel offener, das darfst du nicht wörtlich nehmen. Ist sowas wie ein Kosename.“

„Ach so.“ Jetzt musste Melanie auch lachen. Aus irgendeinem Grund freute es sie, dass Emma und Daniel nicht zusammen waren, obwohl sie nicht auf der Suche nach einem Freund war.

Der Verband an ihrem Arm drückte beim Gehen leicht, aber erleichtert stellte Melanie nun fest, dass die Wunde kaum noch wehtat. Eine Weile lang schwiegen sie.

„Hier links“, sagte Daniel plötzlich.

Erst jetzt fiel Melanie auf, dass sie bereits den Wald durchquert hatten und auf das kaputte Haus zugingen, durch das sie vorhin ins Land der Nacht gekommen waren. Zum Glück war Daniel mitgekommen, denn Melanie hätte den Weg nie und nimmer alleine gefunden.

„Ist das so ‘ne Art Tarnung?“, fragte Melanie, die hinter Daniel auf das zerbrochene Fenster zusteuerte.

Daniel nickte. „Für normale Menschen sieht es hier so abscheulich aus, dass sie gar nicht reinkommen wollen. Spätestens beim Garten jedoch kehren die Mutigsten um, weil sie den Wald gar nicht sehen.“

„Cool“, murmelte Melanie. Es würden bestimmt noch viele Überraschungen im Land der Nacht auf sie warten.

Wieder half ihr Daniel durch das Fenster, obwohl sie protestieren wollte. Aber er hielt sie trotzdem fest und schlussendlich war sie dennoch dankbar, da ihre verletzte Schulter ihr Gewicht nicht tragen wollte. Als sie in der zwielichtigen Gasse standen, übernahm Melanie die Führung. Sie spazierten ohne große Eile die Gasse entlang bis zur Querstraße, wo sie rechts abbogen.

„Bist du oft in dieser Gegend?“, fragte Daniel und nickte zu der Gasse, die sie gerade verlassen hatten.

Melanie zögerte. „Manchmal“, wich sie aus. Sie mochte keine privaten Fragen.

„Und warum kannst du so gut kämpfen?“, wollte er wissen.

Die Frage war Melanie nun doch etwas zu persönlich. Sie spielte mit ihrer pinken Haarsträhne herum. „Nachdem ich ...“ Sie brach ab. Auf keinen Fall würde sie ihm jetzt erklären, dass sie nach einem bestimmten Ereignis im Alter von dreizehn Jahren mit dem Kämpfen angefangen hatte. „Nachdem ich dreizehn wurde, habe ich mich bei Selbstverteidigungskursen angemeldet. Und wenn irgendwo eine Prügelei losgeht, was hier nicht selten vorkommt, mische ich mich eben ein. Ich seh‘ nicht gern zu, wie andere verprügelt werden“, meinte sie und fügte rasch hinzu: „Mit einmischen meine ich, dass ich sie davon abhalte, sich die Köpfe einzuschlagen. Nicht, dass ich mich ins Getümmel werfe.“

„Cool, das machen nicht alle.“ Daniel blickte sie von der Seite her an.

Melanie errötete. „Hier entlang.“ Sie zog ihn nach rechts in eine

Seitengasse, um von sich abzulenken. „Wie alt warst du, als du ins Land der Nacht gegangen bist?“, fragte sie Daniel und drehte somit den Spieß um.

Er überlegte. „13 Jahre, ungefähr.“

Melanie versuchte, sich Daniel als 13-Jährigen vorzustellen – erfolglos, dazu war er zu groß.

Bevor sie ihn zu einer Antwort bewegen konnte, die mehr als zwei Wörter umfasste, sprach er von alleine weiter. „Meine Gabe habe ich entdeckt, als ich quasi in eine See ertrunken bin, bis ich gemerkt habe, dass ich unter Wasser atmen kann. Beim nächsten Vollmond hat mich Emma in die Nähe eines Eingangs gefunden und mit ins Land der Nacht genommen. Meinen … Eltern hab ich das Ganze ein wenig abgewandelt erzählt. Sie stehen nicht so auf das Mystische.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Seitdem sind Emma und ich Freunde. Aber so wie Geschwister“, fügte er nachdrücklich hinzu und Melanie lachte verlegen.

„Schon kapiert. Du kannst unter Wasser atmen?“

„Ja, ziemlich cool im Meer.“ Er grinste sie schräg an.

„Glaub ich dir.“ Sie zog es vor, nicht zu erwähnen, dass sie so gut schwimmen konnte wie eine Hauskatze. „Ihr habt einen Strand?“ „Ja, ich kann ihn dir mal zeigen“, antwortete Daniel.

Oh nein, der Schuss ging total hinten los.

„Wir müssen abbiegen. Hier rechts. Dauert nicht mehr lange“, sagte sie, anstatt eine Antwort auf sein Angebot zu geben, und wich seinem Blick aus. „Woher kommst du denn? Also, wo hast du zuvor gelebt?“ Sie war sich bewusst, dass dies zwei verschiedene Fragen waren, aber aus Erfahrung wusste sie ebenfalls, dass nicht alle Menschen erstere beantworten wollten.

Tatsächlich wich er der Frage aus. „Ich komme aus Miami.“ Mit einer Hand fuhr er sich durch seine Locken und sein Blick glitt über die Straße, weg von Melanie.

„Miami?“, fragte Melanie ungläubig nach und hob die Augenbrauen. Er sah nicht wie ein Typ aus Miami aus …

„Ich habe in Amerika gelebt“, betonte er und warf ihr kurz einen Blick zu. „Aber ich wuchs in einem spanischsprechenden Viertel auf.“ Nervös spielte er mit seinem Shirt. „Ursprünglich komme ich aber aus Jamaika“, beantwortete er die eigentliche Frage doch noch hastig.

Also stimmte das Latino.

„Ach so.“ Plötzlich war ihr ihre Frage peinlich, vor allem, da sie sah, dass er nicht darüber sprechen wollte. „Ich komme nur von hier.“ Sie machte grinsend eine ausholende Bewegung auf die Straße. „Da müssen wir übrigens rein.“ Melanie zeigte auf das klassische Haus direkt vor ihnen, froh, das Thema auf etwas anderes lenken zu können. Das würde vielleicht das letzte Mal für eine lange Zeit sein, dass sie ihr Haus sah.

„Gut, hast du eine Schlüssel?“ Daniel sah das Haus neugierig an.

„Ja.“ Melanie nahm den Karabinerhaken von ihrer Gürtelschlaufe, ging bis vors Haus und öffnete die Tür. Daniel folgte ihr hinein und sah sich vorsichtig um. Bevor sie ihren schwarzen Koffer holte, zeigte Melanie ihm noch die Küche und das Wohnzimmer und führte ihn anschließend in ihr Zimmer. Dann begann sie, sämtliche Kleider einzupacken, die sie in ihrem Schrank fand. Da Daniel ihr zur Hilfe kam, ging das Ganze ziemlich schnell und er arbeitete effizient mit.

Als sie die Kosmetiksachen wegpackte, schaute er mit großem Interesse ihren Stundenplan an, der immer noch an der Wand hing. Melanie beobachtete ihn ein paar Sekunden lang schweigend. „Es stört mich ja nicht, aber wieso bist du eigentlich mitgekommen?“, wollte sie dann unvermittelt wissen, in der Hand die Abschminktücher.

„Du hättest den Weg nicht alleine gefunden.“

Das stimmte. Melanie wusste keine Antwort darauf, stattdessen sagte sie: „Ich glaube, ich habe alles.“

„Wolltest du nicht noch deine Eltern benachrichtigen?“ Er hatte sich wieder zu ihr umgedreht.

Das hätte sie fast vergessen. „Stimmt. Ich, äh, schreib ihnen einfach eine E-Mail.“

„Du hast den Laptop schon eingepackt“, wandte Daniel mit einem trockenen Unterton ein.

Melanie stöhnte. „Ich nehme einfach ihren.“ Mit dem Koffer in der Hand bewegte sie sich auf die Zimmertür zu.

Daniel hielt ihr die Tür auf, woraufhin sie errötete, und trat nach ihr in den Gang. Bevor Melanie in das Arbeitszimmer ihrer Eltern ging, erklärte sie Daniel: „Meine Eltern arbeiten auch oft zu Hause, deshalb stehen hier Drucker und so herum.“ Sonst würde er vielleicht etwas schockiert sein über die Unordnung.

Zum Beweis stieß sie die Tür auf und machte eine ausholende Geste in den Raum hinein. Das Zimmer wäre geräumig gewesen, wenn er ordentlicher wäre. Aber mit all den Papieren, Notizen, dem Drucker und dem Computer sah es sehr chaotisch aus und wirkte nicht besonders groß – dennoch fühlte sich Melanie wohl in dem Büro, da sie schon viel Zeit darin verbracht hatte. Sie trat ein und setzte sich an den Schreibtisch, räumte Zeitungen von der Tastatur weg und startete den Computer. Erst dann bemerkte sie, dass Daniel verwirrt im Türrahmen stehengeblieben war.

„Willst du nicht reinkommen?“, fragte sie ihn verwundert.

Er fuhr sich mit der Hand durch die Locken. Offenbar tat er das, wenn er nervös war. „Äh, wie kannst du was sehen? Gibt es hier keine Licht?“

Melanie schaute für einen Moment verwirrt drein, dann sah sie nach oben – tatsächlich, sie hatte vergessen, das Licht anzuschalten. Für Daniel musste es stockfinster sein, da die Vorhänge zugezogen waren.

„Ups, sorry, hab ganz vergessen, dass ihr das immer macht.“ Sie errötete leicht, stand auf und knipste das Licht an.

Daniel sah sich neugierig um und setzte sich dann neben Melanie auf einen Stuhl.

„Wie meinst du das?“ Er war noch immer irritiert.

„Ich kann im Dunkeln sehen. Ich vergesse oft, dass es komisch ist, wenn man das Licht nicht anmacht, oder dass man dann normalerweise nichts sieht. Tut mir leid.“

„Kein Problem. Eine ziemlich coole Gabe, finde ich“, erwiderte Daniel. „Wie ist das denn? Siehst du alles einfach so, als wäre es hell? Passwort.“

„Hä? Was für ein Passwort?“

Daniel zeigte lachend auf den Computer. „Du musst das Passwort eingeben, mi cielo.“

Melanie lachte. „Ach so.“ Sie tippte es ein und antwortete gleichzeitig auf seine Frage. „Es ist schon dunkler, aber ich sehe einfach die Farben genauso gut und die Luft wirkt nicht ... schwarz.“ Es war schwer zu beschreiben, da sie ja nichts anderes kannte.

Daniel hob die Augenbrauen. „Und wissen das deine Eltern?“

„Ja, aber ich denke, sie glauben es nicht so ganz.“ Melanie loggte sich auf in ihrem E-Mail-Account ein und begann, die E-Mail zu schreiben.

„Das ist immer eine Gefahr.“ Während sie schrieb, glitt sein Blick über die vielen Unterlagen, die auf dem Schreibtisch verteilt herumlagen. Er zeigte auf ein von Hand beschriebenes Blatt Papier.

„Das kannst du auch.“

„Was?“ Erschrocken blickte sie ihn an. Was hatte er da entdeckt?

„Deine Eltern schreiben da eine Entwurf.“ Er hielt ihr das Blatt unter die Nase und beugte sich zu ihr herüber. „Aber in der Nacht sehen kannst du ja auch.“

Der Titel des Entwurfes lautete: Das Mädchen in Schwarz – wer und was ist sie? Darunter waren Eigenschaften aufgelistet und bestimmte Ereignisse, in die sie verwickelt gewesen war. Dafür hatten ihre Eltern Gemeinsamkeiten ihres Kampfstils mit diversen Kursen gesucht und versuchten gerade herauszufinden, in was für ein Tier sie sich verwandelte. Bisher waren sie bei einem Puma angekommen. Ziemlich oben stand: Kann wahrscheinlich in der Nacht sehen.

„Ach so. Ja, stimmt.“ Melanie runzelte die Stirn. Ihre Eltern hatten diese Liste noch nie erwähnt.

„Wir denken schon lange, dass sie eine Naimet ist, vielleicht sogar ein Tigermädchen.“

„Echt? Wieso?“ Melanie tippte weiter.

„Wegen dem Tier der Nacht. Es ist immer bei Vollmond.“ „Dann haltet mal nach Asiaten Ausschau.“ Daniel sah sie fragend an.

„Gestern wurde sie gesichtet. Ein Opfer konnte ihr Gesicht beschreiben: Dunkle Haut, asiatische, dunkle Augen und schwarzes Haar.“

Daniel war überaus erstaunt, abrupt drehte er sich zu ihr um. „Komisch. Drei Jahre lang kann sie ihr Gesicht verbergen und plötzlich sieht sie jemand?“

Melanie neigte den Kopf zur Seite und sendete die E-Mail ab, nachdem sie sie nochmals überflogen hatte. „Stimmt. Man vermutet, dass sie abgelenkt war.“ Sie blickte auf das Blatt, auf dem oben das Logo der TierWoche zu sehen war. „Die dunkle Retterin ist der einzige Mensch, über den sie berichten. Sonst schreiben meine Eltern bloß über Tiere.“

Daniel legte das Blatt zurück. „Finde ich eine gute Idee.“ Dann sah er sie plötzlich neugierig an und legte fragend den Kopf schief, als wüsste er nicht recht, wie er die Frage formulieren sollte. „Wie geht das eigentlich mit die Schatten? Das Zeug, das du mit ihnen anstellst?“ Seine Augen leuchteten und erst dann fiel Melanie wieder ein, dass er ja schon auf der Straße gesehen hatte, wie sie ihre Kräfte anwendete. Danach war er Zeuge bei der Reparatur ihrer Jacke geworden. Es war komisch, darüber zu sprechen, als sei es etwas Normales. Aber jetzt wusste sie, dass es in der Tat normal war – normal für Naimet jedenfalls. Und diese Gewissheit war bereits eine riesige Erleichterung für sie, denn von nun an würde sie an einem Ort sein, an dem sie nicht mehr abnormal war.

Sie lächelte ihn an. „Soll ich‘s dir zeigen?“ Sein Lächeln als Zustimmung deutend, brachte Melanie ein paar Schritte Abstand zwischen sie. Dann konzentrierte sie sich auf die Lampe an der Decke und sah Daniel aus dem Augenwinkel, der sie aufmerksam beobachtete.

„Achtung, es könnte dunkel werden“, warnte sie ihn ironisch vor. Sie spreizte die Finger und der Schatten, den Melanie warf, verschwand vor ihren Füßen und legte sich dann über die Glühbirne, sodass es im Zimmer langsam dunkler wurde. Der Schatten hatte sich über die Lampe bewegt wie Rauch, wie etwas Greifbares. Nun konnte Daniel wahrscheinlich nicht viel mehr sehen als Melanies Umrisse, auch wenn es für sie selbst keinen Unterschied machte.

Daniel grinste breit. „Das ist echt genial, mi amor.“

Melanie errötete und ließ es abrupt wieder hell werden. „Ich bewege einfach die Schatten im Raum oder lasse sie dunkler werden.“ Sie deutete auf den Schatten, den der Computer warf. „Ich stelle mir vor, wie der Schatten dunkler wird, sich meinem Willen gemäß verformt und dann passiert das.“ Während sie sprach, wurde der Schatten des Computers immer dunkler und nahm eine dreieckige Form an. Melanie lachte vergnügt und Daniel stimmte mit ein.

Dann befahl sie dem Schatten mit einem scharfen Blick, wieder die gewohnte Form anzunehmen.

John war ihr aus einem unergründlichen Grund sympathisch. Er war eher klein, glatzköpfig und muskulös, aber er gab einem gleich das Gefühl, zu Hause zu sein.

Daniel und Melanie waren ins Land der Nacht zurückgekehrt und Melanie lernte nun den Leiter des Gebäudes 3.1 kennen. Dort würde sie einziehen, hatte ihr Daniel auf dem Rückweg erklärt. Das Camp Cataara hatte 10 Areale, welche wiederum je fünf Hütten hatten. John war laut Daniel der Leiter des Gebäudes 3.1.

„Würdest du bitte die Waffen ablegen?“, bat John, als sie eintraten.

Daniel, der hinter ihr stand, blickte sie total irritiert an. Er ließ seinen Blick erfolglos auf der Suche nach einer Waffe über ihren Körper gleiten, doch auch beim zweiten Durchgang wurde er nicht fündig.

Melanie jedoch schaute leicht verdutzt und bückte sich verlegen. Sie griff in ihren Stiefel, wo sie ein Messer versteckt hatte, und reichte es John. Dann legte sie die Hand an ihre Hüfte und dort manifestierte sich aus ihrer schwarzen Jacke ein rabenschwarzes Wurfmesser, welches sie ebenfalls John gab. Sie hörte, wie Daniel hinter ihr verwundert die Luft ausstieß und wurde noch röter.

„D-das ist bloß Gewohnheit“, verteidigte sie sich.

John nickte beschwichtigend. „Hier laufen viele mit Waffen herum. Bitte setz dich. Daniel, du darfst den anderen Bescheid geben, dass wir jemand Neues bei uns haben.“

Daniel nickte, verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Nervös setzte sich Melanie John gegenüber auf einen Stuhl, zwischen ihnen stand ein schwerer Schreibtisch. Ohne Daniel an ihrer Seite fühlte sie sich unwohl, so fremd in einem Zimmer mit einem unbekannten Mann, auch wenn er noch so sympathisch wirkte.

Doch John erwies sich als ausgesprochen charmant und freundlich. Sie musste ihm erzählen, was sie im Zeugnis für Noten hatte, welche Fächer sie besucht hatte und welche sie besuchen wollte.

Bei Spanisch war das ein wenig kompliziert, denn sie hatte nur ein halbes Jahr Spanisch gehabt; ihre Spanischlehrerin war schwanger geworden und das Jahr darauf hatte sie das Fach durch Selbstverteidigung ersetzt. Jedoch würde sie kein Französisch mehr haben, worüber sie nicht traurig war.

„Du kannst dennoch in denselben Kurs wie die anderen in deinem Alter gehen, Emma und Daniel werden dir bestimmt helfen. Falls es trotzdem Probleme geben sollte, kannst du jedoch ungeniert zu mir kommen“, erklärte John.

In den anderen Fächern konnte sie zum Glück gut mithalten. John gab ihr Unmengen von Schulbüchern und während sie die Bücher stapelte, verkniff Melanie sich die Frage, weshalb nicht alle Schulen längst Online-Lernmaterial hatten.

John warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits nach fünf.

„Nun ist der Unterricht schon vorbei, ich bringe dich am besten in den

Gemeinschaftsraum, wo gewöhnlich die Hausaufgaben gemacht machen.“

Der Gemeinschaftsraum war ein gemütlicher, großer Raum im Parterre des Gebäudes 3.1. Anders als erwartet war er stilvoll eingerichtet: Mehrere beigefarbene Sessel, Sofas und Tische standen herum und hier und da hingen Lampen von der Decke. Durch ein großes Fenster flutete Sonnenlicht in den Raum und ersetzte das Lampenlicht. Die meisten Sofas waren von Schülern besetzt, nur ein paar Sessel und Stühle standen frei herum. Überall wurden Hausaufgaben gemacht oder für Tests gelernt, nur wenige lasen ein Buch oder unterhielten sich mit dem Nachbarn über belangloses Zeug. Melanie ließ ihren Blick suchend über die Schüler gleiten, sie schätzte sie zwischen 13 und 20 Jahren ein. Endlich fand sie Daniel auf einem Sofa mit ein paar Kumpels sitzend.

John deutete in seine Richtung und senkte die Stimme. „Dort ist ein Stuhl frei, am besten wendest du dich dann an deine Mitschüler, damit sie dir das Nötigste erklären können.“

Melanie nickte nervös. „Okay.“ Sie bahnte sich möglichst unauffällig einen Weg durch die Schüler und setzte sich auf den freien Platz. Etwa gleichzeitig schloss John die Tür wieder und war verschwunden. Obwohl es mitnichten still war im Raum, hallte ihr das Geräusch der zufallenden Tür in den Ohren wieder.

Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Was, wenn das hier doch nur eine Anstalt für Verrückte war? Wieso hatte sie sich bloß an einer Schule angemeldet, in einem Land, das es nicht mal geben sollte? Mit Schülern, die unter Wasser atmen konnten und kämpfen lernten? Sie kannte Daniel erst seit knapp einer Stunde und vielleicht waren er und alle anderen hier nur Verrückte, die sich gut verstellen konnten! Melanie kniff die Augen zusammen. Sie durfte sich jetzt nicht zu viele Gedanken darüber machen. Vielleicht war das Ganze ja auch nur ein sehr fantasievoller Traum.

Zum Glück drehte sich in dem Moment Daniel zu ihr um und lächelte freundlich.

„Hey, auch schon hier?“

Melanie schrak aus ihren Gedanken auf und erwiderte sein Lächeln. „Ja, hab schon Bücher bekommen.“ Sie verzog gespielt leidend das Gesicht.

Daniel lachte, dann wandte er sich an seine Freunde. „Jungs, das ist Melanie, sie wohnt jetzt auch hier.“ Vier Köpfe drehten sich zu ihr um und sie fuhr sich nervös durch die Haare.

„Hey.“ Derjenige, der Daniel am nächsten saß, hob grüßend die Hand. „Ich bin Emanuel.“

Ein braunhaariger Junge mit gleichfarbigen Augen stellte sich als Ramón vor und einer, der eher am Rand des Sofas saß, hieß Jack. Er hatte dunkle, nach hinten gegelte Haare, schwarze Augen und sah ziemlich gut aus, fand Melanie.

„Kennst du zufälligerweise den Aufbau der Körperzelle einer Ratte?“, fragte Jack und hob kurz sein Heft hoch.

„Ähm, nein ...“ Melanie hob amüsiert die Augenbrauen. „Sind das Hausaufgaben?“

Jack nickte. „Kein Mensch weiß das. Und Ratten sind hier nicht zugelassen.“

Melanie lachte. „Irgendwer hier weiß das bestimmt.“

Daniel nickte grinsend. „Ja, ganz bestimmt sogar.“

Melanie runzelte verwirrt die Stirn. „Und wieso fragt ihr sie oder ihn dann nicht?“

Die Jungs schauten sich an. Emanuel schüttelte heftig den Kopf, jetzt sah Melanie, dass er zu den dunklen Haaren blaue Augen hatte. „Vergesst es“, sagte er bestimmt.

Melanie verkniff sich ein Lachen. Sie konnte sich vorstellen, was sich hier abspielte. „Wer ist es denn?“

„Die mit den Augen dort drüben“, antwortete Emanuel und nickte irgendwo in den Raum hinein.

Alle brachen in Lachen aus.

„Ach was, hat sie Augen?“, witzelte Melanie mit gespielt erstaunter Stimme.

„Ich schwör‘s, sie hat welche!“, bestätigte Emanuel.

„Er meint Emma“, erklärte ihr Daniel.

„Ach so.“ Emma hatte wirklich schöne Augen, musste Melanie zugeben. „Dann frag ich sie eben. Wo ist sie denn?“ „An dem großen Tisch ganz vorne“, meinte Jack.

Melanie folgte seinem Blick und entdeckte sie ganz in der Nähe, wo sie Hausaufgaben machte. Sie selbst hatte grundsätzlich keine Schwierigkeiten dabei, direkte Fragen zu stellen. Sie war sowieso eine Person, die Sachen einfach mal sagte, ohne groß zu überlegen – außer es war etwas Verletzendes. Sie wusste, was ihre Stärken und Schwächen waren; zurückhaltend zu sein war also bestimmt nicht ihre Stärke, obwohl sie darauf achtete, ihr Gegenüber nicht zu kränken. Ihrer Meinung nach lebte man viel einfacher, wenn man die Dinge realistisch sah und sich nichts vormachte. So verstand sie nicht, wie man bei solchen Sachen Mühe hatte, schließlich kannten nicht alle den Aufbau der Körperzelle einer Ratte und das war auch nicht überlebenswichtig. Dennoch konnte ihre praktisch veranlagte und auch häufig sarkastische Art manchmal falsch rüberkommen, dessen war sie sich bewusst. Aber hier im Land der Nacht wollte sie sich nicht länger ducken, das nahm sie sich fest vor: Es war besser, wenn man einen klaren Charakter hatte. Sie hatte es satt, sich ständig verändern zu müssen.

Melanie drehte sich mit einem abschätzenden Blick zu den Jungs um. „Wenn sich keiner von euch traut, geh ich sie fragen ...“, wiederholte sie und wartete, ob jemand protestierte. Als niemand dergleichen tat, stand sie auf und ging auf Emma zu.

Sie setzte sich leicht nervös neben sie und zupfte an ihren Kleidern herum. „Du heißt Emma, nicht wahr?“, vergewisserte sie sich zaghaft.

Emma drehte sich zu ihr um und musterte sie. „Ja, so heiße ich.“ Sie lächelte. „Warst du nun schon bei John?“

Melanie nickte und lächelte ebenfalls. Sie hatte das Gefühl, dass sie in der letzten Stunde mehr gelächelt hatte, als das ganze Jahr zuvor.

Schon mal positiv.

„Äh ... Die Jungs da drüben haben eine Frage bezüglich der Hausaufgaben, aber keiner traut sich, dich zu fragen“, sagte Melanie.

Emma runzelte belustigt die Stirn. „Du meinst Emanuel und seine Freunde?“

Melanie nickte und Emma musste lachen. „Wenn du wüsstest, dass ich Feuer spucke, würdest du dich vielleicht auch nicht trauen ...“ Sie senkte geheimnistuerisch die Stimme.

Melanie lachte, auch wenn ihr für einen Moment der Gedanke kam, dass das vielleicht gar nicht so abwegig war. „Na klar. Was kannst du denn Besonderes?“

Emmas Gesicht verdunkelte sich. „Nichts Besonderes. Einfach das

Übliche.“

„Das Übliche?“

„Alle hier können Magie erlernen. Das unterscheidet uns von den gewöhnlichen Menschen.“ Emma stand auf und die beiden Mädchen bahnten sich einen Weg zu den Jungs. „Und jetzt muss ich den Jungs wohl die Hausaufgaben erklären.“ Magie?

Melanie warf einen Blick zu Emanuel. „Emanuel gefallen deine Augen.“

Emma hätte beinahe ihre Tasche fallen lassen. „Ach ja?“ Sie wollte desinteressiert klingen, doch das gelang ihr ziemlich schlecht – ihre Stimme zitterte.

„Mhmm“, schmunzelte Melanie.

Emma setzte sich auf die Sofalehne und sie nahm wieder ihren Stuhl in Beschlag. Die Jungs hatten sich kaum bewegt.

„Keine Angst, ich beiße nicht“, sagte Emma ironisch zu Daniel, Emanuel, Ramón und Jack. Dann nahm sie Emanuel die Hausaufgaben aus der Hand und begann zu erklären.

Melanie hörte gar nicht zu, sie beobachtete bloß Emmas Bewegungen und fragte sich nicht zum ersten Mal, was an ihnen seltsam war. Sie bewegte sich sehr geschmeidig, aber gleichzeitig unsicher. Melanie wurde einfach nicht schlau daraus. Nur am Rande nahm sie wahr, dass die Jungs offenbar begriffen hatten, wie der Aufbau einer Rattenzelle aussah. Eilig schrieben sie es in ihre Hefte.

Bis um sechs Uhr blieb Melanie im Gemeinschaftsraum, ließ sich von Emma so einiges über den Unterricht erklären und begann, den Spanischstoff nachzuholen. Es stellte sich heraus, dass Emma in so ziemlich allen Fächern spitze war, denn sie wurde noch oft bei diesem und jenem um Hilfe gefragt.

Nun wandte sich Emma wieder Melanie zu. „Ich könnte dir mal das Zimmer zeigen, dann kannst du deine Sachen dort deponieren. Um sieben gibt es sowieso Essen.“

Nebeneinander gingen sie ein paar Treppen hoch in ein Zimmer, das wohl nun das ihre war. Es handelte sich um einen großen Raum, den man durch eine Schiebewand in zwei kleinere Bereiche abtrennen konnte. Das wurde aber kaum gemacht, erklärte Emma. Im linken und rechten Teil des Zimmers waren je ein Bett, ein Schrank und eine Kommode, ein Schreibtisch und ein bequemer Stuhl zu sehen. Neben dem Kopfende von Emmas Bett – man erkannte es an den Büchern, die darauf lagen, und dem Bettbezug – war ein Fenster, wie auch an der linken Wand, durch das man auf den Innenhof des dritten Areals sehen konnte. Melanie packte möglichst schnell ihre Sachen aus und verstaute sie in dem geräumigen Holzschrank.

„Wohnen alle, die im Gemeinschaftsraum waren, hier?“

„Nein, nur acht von ihnen. Emanuel, Daniel, Ramón und Jack und mit mir noch vier Mädchen. Aber eine von ihnen, Laura, ist gerade woanders in einem Extrakurs für Nähen.“

„Also sind wir ...“ Melanie überlegte. „Mit mir zehn Leute hier?“ Emma nickte.

„Und wo schlafen die Leiter?“ Wenn sie nun beschloss, dass sie sich nicht in einem verrückten Traum befand, wollte sie alles genau wissen.

„Die haben ein separates Gebäude. Du hast bisher erst John kennengelernt, aber es gibt über den zehn Leitern noch einen Chef, Anthony.“

Melanie hob ihre Jeans aus dem Koffer. „Ne, den kenne ich noch nicht.“

„Macht nichts.“

Melanie hob die Augenbrauen. „Ist er nicht nett?“

„Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst“, wich Emma aus.

Melanie hatte fertig ausgepackt und schob den Koffer unter ihr Bett. „Aha.“

Das klingt ja erfreulich ...

„Was ist denn mit dem Gebäude, in dem Daniel mich verarztet hat und wo Johns Büro war?“

„Das ist quasi das „Krankenhausgebäude“. Dort haben auch die Leiter ihre Büros. Die meisten Leiter sind auch im medizinischen Bereich geschult und helfen dort oft aus. Wir haben aber auch professionelle Krankenschwestern.“

Melanie schloss die laut quietschende Schranktür und speicherte die Information gedanklich ab. „Wieso sind eigentlich so viele im Gemeinschaftsraum, wenn sie gar nicht hier wohnen?“, überlegte sie laut.

Emma zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich war es gerade näher für sie, in unseren Gemeinschaftsraum zu kommen, als in ihren eigenen zu gehen. Das ist aber nicht immer so.“

„Verstehe.“ Melanie musste sich immer noch an all das Neue gewöhnen. Es gab wahrlich sehr viele Dinge, die man hier tun konnte, wie sie bereits gemerkt und gesehen hatte. Ob es auch eine Möglichkeit zum Klettern gab? Sie liebte das Klettern, seit sie mit acht Jahren in einen Kletterpark gegangen war, und sie würde das Hobby gerne fortführen … Sie merkte, dass sie gar nicht mehr in Erwähnung zog, nicht hierzubleiben, auch wenn sie dieses seltsame Land erst seit einem halben Tag kannte.

„Was denkst du?“, fragte Emma und schaute sie von der Seite her an.

„Hm“, machte Melanie. „Ob man hier klettern kann.“

Emma riss erstaunt die Augen auf. „Du kletterst?“

Melanie lächelte. „Ja, also, als Hobby.“

Emma war nahe daran, vor Freude auf der Stelle zu hüpfen. „Ich auch! Du bist die Erste hier, die auch außerhalb des Unterrichts klettert!“

Melanie konnte kaum fassen, dass Emma tatsächlich auch kletterte. Sie schaffte es nicht, das Strahlen zu verbergen, das sich auf ihr Gesicht drängte. „Dann kann man hier klettern?“, wollte sie wissen.

Emma nickte heftig. „Im Wald darfst du auf jeden Baum, solange du gesichert bist. Und es wurde eine Art Kletterpark ausgebaut, auch für den Kampfunterricht.“

Melanies Augen wurden groß. „Wir müssen unbedingt mal zusammen dahin!“

Da war Emma mehr als einverstanden, auch wenn sie nichts sagte. Denn jetzt fiel Melanie auf, was sie noch erwähnt hatte. „Du hast was vom Kampfunterricht gesagt …?“

„Ja, im Unterricht kämpfen wir sehr selten auch auf den Bäumen. Training für das Gleichgewicht und so.“ Sie grinste.

„Wow.“ Melanie dachte unwillkürlich an die vielen Kampffilme, die sie gesehen hatte. „Klingt aber ganz schön gefährlich …“ Eine schrille Glocke unterbrach ihre Unterhaltung.

Melanie zuckte zusammen. „Was war das?“

„Es gibt Essen. Komm mit.“

Emma nahm sie an der Hand und zog sie die vier Treppen zum Erdgeschoss in den Essensraum hinunter.

Tigermädchen

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