Читать книгу Tigermädchen - Delia Muñoz - Страница 8
3 NÄCHTLICHE KRIMINALFÄLLE
ОглавлениеDer Mond schien durch das Fenster in ihr Zimmer und warf sein gespenstisches Licht auf Melanies Bettdecke. Alle Lichter des Areals 3 waren ausgeschaltet, das Tor geschlossen. Melanie drehte sich unruhig in ihrem Bett hin und her, schaute aus dem Fenster und stellte sich vor, wie das Land der Nacht nachts wohl aussehen würde.
Sie blickte zu Emma hinüber. Diese lag friedlich in ihrem Bett und schlief, ihre goldblonden Haare breiteten sich über dem Kopfkissen aus. Doch nach vier Stunden Schlaf konnte Melanie beim besten Willen nicht mehr einschlafen. Zwar gelang es ihr ab und zu, etwa sechs Stunden zu schlafen, aber dafür musste sie schon sehr müde sein und die restlichen zwei Stunden waren dennoch überflüssig. Normalerweise machte sie um drei Uhr morgens Hausaufgaben, doch was sollte sie jetzt machen?
Seufzend schälte sich Melanie aus der dunklen Bettdecke und kramte in ihrer Schultasche herum, bis sie das Spanischbuch entdeckte. Emma hatte ihr gezeigt, bis zu welcher Stelle sie den Stoff nachholen musste. Also setzte sie sich aufs Bett und begann zu lesen.
Jemand stellte das Licht an.
Melanie sah verwundert auf. „Ist es schon morgen?“ Emma starrte sie verdattert an.
„Emma?“
Emma starrte sie immer noch an.
Melanie runzelte die Stirn, legte das Spanischbuch zur Seite und sah auf die Uhr auf dem Schreibtisch. 07:30 Uhr leuchtete ihr in roten Lettern entgegen.
Endlich sagte Emma etwas. „Hast du gerade ... gelesen?“
Melanie lachte. „Ja. Ich kann lesen, weißt du?“
Ihr Gegenüber blieb ernst. „Das Licht war aus.“
Melanie lachte noch mehr. „Ach so! Ich kann im Dunklen sehen.“
Lächelnd hob Emma eine Augenbraue.. Ihre Haare fielen ihr wild ins Gesicht, da sie nun offen waren und nicht wie gestern in einen Zopf gebunden. „Echt?! Cool! Daniel hat auch noch was über Schatten erzählt ...“
Melanie nickte, während sie sich bemühte, aus dem Bett zu steigen, ohne die Decke mitzureißen. „Ja, ich kann lustige Sachen mit den
Schatten anstellen.“
„Na los, zeig schon!“, drängte Emma neugierig. „Das ist ja total spannend.“
Melanie zuckte mit den Schultern. „Okay, ich geh mal in den Schatten da.“ Sie deutete auf die dunkle Fläche, die ihr Schrank an die Wand warf und stellte sich mitten hinein. Dann war da nur noch Schwarz zu sehen und man konnte Melanie nicht mehr vom Schatten unterscheiden – sie war förmlich mit ihm verschmolzen. Emma sog überrascht die Luft ein.
„Wow, du kannst das schon kannst, ohne es trainiert zu haben.“
Melanie zuckte leicht zusammen, doch zum Glück sah ihre Zimmergenossin das nicht. Statt einer Antwort trat sie wieder aus dem Schatten und strich sich verlegen die Haare aus dem Gesicht. „Wie ist das hier mit den Essenszeiten?“
„Am Morgen gibt es von halb acht an Frühstück bis um neun Uhr. Aber wenn Schule ist, muss man um halb neun in der Schule sein, also beenden wir das Essen meist vorher. Heute ist zwar Samstag, aber wir essen trotzdem früh, dann haben wir mehr vom Tag.“ Das war eine typische ausführliche Antwort von Emma, merkte Melanie belustigt. „Beginnt die Schule erst um halb neun?“, fragte sie erstaunt nach.
Emma nickte. „Cool, oder?“
„Ziemlich“, bestätigte Melanie. „Bei mir begann die Schule immer um halb acht.“
Emma verzog angewidert das Gesicht. „Kindesmisshandlung“, behauptete sie grinsend. „Aber wir sollten uns langsam anziehen, es ist schon Viertel vor acht.“
Melanies Kopf fuhr zum Wecker auf dem Schreibtisch. Tatsächlich! Sie hatten eine Viertelstunde geredet. Rasch nahm sie ihren Kulturbeutel und verschwand im Bad.
Im Esszimmer saßen bereits die Jungs, neben Ramón jedoch lugte ein braunäugiges, hübsches Mädchen mit blonden Haaren bis zur Hüfte hervor. Ramóns Arm lag um ihre Taille, wahrscheinlich waren sie ein Paar.
Als Emma und Melanie näher kamen und sich an den Tisch setzten, sahen die anderen auf und grüßten. Das blonde Mädchen betrachtete sie neugierig.
„Hey.“ Sie hielt ihr freundschaftlich die Hand hin. „Ich heiße Caroline, du bist Melanie, nicht wahr?“
„Ja.“ Melanie lächelte und reichte ihr die Hand. Als sie sie ergriff, zuckte Caroline plötzlich zusammen. Melanie runzelte die Stirn.
„Tut mir leid.“ Caroline errötete.
Die Leute hier sind echt komisch ...
Bevor Melanie etwas erwidern konnte, ging auch schon die Tür auf und zwei Mädchen betraten den Raum. Die eine hatte langes, wasserstoffblondes Haar und war auffällig gekleidet, das Gesicht des anderen Neuankömmlings wurde wiederum von kurzgeschnittenen, braunen Strähnen umrahmt. Sie sah sehr sportlich aus. Gemeinsam setzten sich neben Emma.
„Hallo, ich bin Zoé. Wie heißt du?“ Das sportliche Mädchen wandte sich an Melanie.
„Ich heiße Melanie.“ Melanie spielte nervös mit ihrem Haar. Die ganze Vorstellerei ging ihr langsam auf die Nerven.
Das hellblonde Mädchen warf sich die Haare in den Nacken. „Ich bin Sam.“ Sie schaute Melanie nicht einmal an, während sie sprach. Sie konnte die Blondine jetzt schon nicht ausstehen. Einen Moment lang herrschte peinliche Stille, bis Zoé Jack bat, ihr die Milch zu reichen, die vor den Jungs auf dem Tisch stand. Die Gespräche setzten wieder ein und Melanie hörte interessiert zu, bis sich alle an den Tisch setzten, um mit dem Frühstück zu beginnen.
Es war ein normaler Tag, das Wetter war durchschnittlich und Laura hatte nicht viel zu tun. Deshalb saß sie in ihrem Zimmer und nähte, wie sie es in letzter Zeit oft praktiziert hatte. Im Nähkurs hatte sie in den letzten Wochen schon einiges dazugelernt.
Laura fädelte den dunklen, rosaroten Faden durch das Nadelöhr und legte den Stoff darunter. Dann berührte sie mit ihrem rechten Zeigefinger die kühle Nadel. Lächelnd spürte sie, wie Magie einem leichten Stromstoß ähnlich durch ihre Finger fuhr und in die Nadel gelangte. Das war das Praktische daran, eine Naimet zu sein, dachte sie. Sie konnte kleine Dinge in ihren Bewegungen beschleunigen, beispielsweise eine Nadel oder einen Bleistift. Da sie diese Fähigkeit aber erst kürzlich zu ihrer anderen dazubekommen hatte, konnte sie die Funktion noch nicht vollkommen einschätzen und hatte sie am meisten beim Nähen angewendet. So wurde sie schneller fertig, was ihr sehr gelegen kam.
Sie kaufte gar nicht gern Kleider ein, sondern zog am liebsten die selbstgenähten an. Mit diesem Vorteil beim Nähen gelang es ihr seit kurzer Zeit, immer mit den eigenen Kleidern auszukommen.
Nachdem Laura noch die kleine Lampe hinten an der Nähmaschine angeschaltet hatte, begann sie zu nähen. Sachte drückte sie das Pedal mit dem Fuß nach unten und eine dunkle Naht entstand am Saum der Jeans. Das tuckernde Geräusch der Nähmaschine löste ein vertrautes Gefühl bei Laura aus und brachte auf eine beruhigende Weise ihre Gedanken zum Stillstand, die immer wieder um ihre Freunde kreisten, um all die Dinge, die sie trotz dem Nählager beschäftigten.
Die Nadel kam schnell voran, schneller als bei jedem normalen Menschen, war aber dennoch präzise. Bald kam sie unten am Hosenbein an und drehte geschickt die Jeans, sodass sie ein zweites Mal raufnähen konnte. Laura beugte sich dicht über die Maschine, ihre Haare fielen ihr ins Gesicht. Genervt blies sie die goldbraune Strähne weg und kniff konzentriert die Augen zusammen. Die Jeans musste perfekt werden, denn sie war für eine bestimmte Person bestimmt. Sie hatte angeboten, sie ein bisschen zu verschönern, als die Trägerin mit der Länge nicht zufrieden gewesen war. Zum Kürzen brachte Laura nun noch eine andere Verzierung darauf an, da sie freie Hand bekommen hatte. Sie wollte die Jeans dann an ihrem Geburtstag fertig haben, aber so wie es aussah, würde sie früher fertig werden. Aber es sollte dennoch eine Überraschung werden.
Laura biss sich nachdenklich auf die Lippen und stellte sich vor, wie sie wohl auf die pinke Naht auf den Hosenbeinseiten reagieren würde. Hoffentlich gefiel es ihr. Es gab nichts Peinlicheres, als wenn man einen Auftrag noch verschlimmerte. Jetzt war sie wieder oben angekommen und vernähte von Hand den Faden, bevor sie ihn abschnitt und die Hose in die Hand nahm. Prüfend hielt sie sie hoch und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Bisher war sie perfekt. Die Jeans war schön, das war sie schon immer gewesen – bloß zu lang. Und zu einfarbig.
Das Licht, das durch das Fenster in die WG fiel, ließ die Jeans von hinten leuchten und erhellte das Zimmer in schönen Farben. Der Raum war ohnehin schön aufgeräumt und schon gut eingerichtet, obwohl Laura nicht allzu lange hier bleiben würde. Sie legte die Jeans mit neuem Elan auf die Nähmaschine und nahm sich das andere Hosenbein vor. Die Nadel stach ein und sie drückte auf das Pedal. Von einem leisen Surren begleitet, arbeitete sich die Nadel vorwärts und Laura schob geduldig die Hose nach, Stück für Stück, und achtete darauf, dass sie gerade blieb und nichts verrutschte. Um sie herum herrschte Stille, von draußen waren gedämpft Gespräche zu hören und irgendwo heulte ein Tier, wahrscheinlich ein Wolf. Das war nicht weiter seltsam hier im Land der Nacht, zumal sich Laura ebenfalls in ein beliebiges Säugetier verwandeln konnte. Das konnte sie täglich für eine Stunde, am liebsten nahm sie eine Wolfgestalt an. Aber vor Kurzem hatte sie zum Spaß auch einen Tiger ausprobiert, grundsätzlich mochte sie große Raubtiere. Was aber nicht immer gleich war, war die momentane Stille in der WG. Es war schon kurz nach Mittag und kaum Lärm zu hören. Häufig bekamen die anderen jedoch Besuch oder ließen laut Musik laufen, dies auch bis zum Abend. Besonders Ariana, eine ihrer Mitbewohnerinnen, hatte immer irgendjemanden dabei. Doch Laura störte das nicht besonders, sie mochte andere Leute und fand es okay, wenn manchmal Musik lief. Hauptsache, sie hatte ihre Ruhe beim Nähen.
Laura hob eilig den Fuß vom Pedal, als sie merkte, dass sie beinahe am Ende angekommen war. Langsamer steuerte sie auf das Hosenbeinende zu, dank ihres Zaubers war sie flink wieder oben angekommen und je näher sie dem Ende kam, desto glücklicher wurde sie. Ein Werk zu beenden war immer ein tolles Gefühl und wenn sie daran dachte, für wen es bestimmt war, freute es sie noch mehr.
Eine Sekunde, nachdem sie die fertige Jeans in Schrank packte und die Nähmaschine verstaute, klopfte es an ihrer Tür. Erstaunt und etwas erschrocken sah sie hoch und starrte das helle Holz eine Weile lang an. Sie hatte niemanden eingeladen und alle anderen Besucher wussten für gewöhnlich, wo sie hinmussten. Keiner klopfte einfach so an, denn die anderen Bewohner kamen ungefragt hinein. Kopfschüttelnd schloss Laura die Schublade, in der ihre Nähmaschine war. Bestimmt hatte sie sich verhört oder jemand hatte aus Versehen geklopft. Gerade als sich Laura wieder ihrem Schreibtisch zuwenden wollte, klopfte es erneut, nun drei Mal und kräftiger als zuvor. Laura zuckte zusammen. Mit klopfendem Herzen stand sie auf und ging langsam zur Tür.
Das ist doch bestimmt kein Massenmörder, schalt sie sich selbst in Gedanken. Wahrscheinlich kam sie bloß jemand besuchen. Dennoch zitterte ihre Hand, als sie die Tür öffnete.
Morgen hab ich Schule!
Melanie lag wach im Bett und starrte aufgeregt an die Decke. Das Wochenende war wie im Flug vergangen und sie hatte sich schon ein wenig an das Camp gewöhnt. Doch am Montag würde die Schule beginnen und Melanie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Das Wochenende über hatte sie brav Spanisch gebüffelt, aber sie wusste nicht, wie streng hier bewertet wurde. Am meisten spukte ihr der Kampfunterricht am nächsten Tag durch den Kopf. Sie freute sich einerseits darauf, andererseits wusste sie auch da nicht, ob sie den anderen total unterlegen war. Sie drehte sich unruhig auf die andere Seite. Schlafen konnte sie schon lange nicht mehr; es war bereits drei Uhr morgens. Doch plötzlich drehte sich Emma, die bisher friedlich in ihrem Bett geschlummert hatte, unruhig hin und her und gab ängstliche Laute von sich.
Melanie schlug mit gerunzelter Stirn die Decke zurück und tapste zu ihrem Bett hinüber. Emma hatte das Gesicht verzogen, als hätte sie vor irgendetwas Angst. Krampfhaft hielt sie ihre Decke in der Hand und stieß erneut ein wimmerndes Geräusch hervor. Ihr Atem ging viel zu schnell und Melanie meinte fast, ihre Augen unter ihren Lidern rotieren zu sehen.
„Emma!“ Melanie rüttelte sie vorsichtig an der Schulter. „Emma, aufwachen!“
Emma schreckte keuchend hoch. „Melanie?“ Sie schaute verwirrt drein und strich sich passiv die Haare in die Stirn. Ihre Decke war ihr bis zur Hüfte hinuntergerutscht, und ihre Haare waren ganz zerzaust und völlig schweißgebadet.
„Was hast du denn?“ Melanie setzte sich besorgt auf das Bett ihrer Freundin. Die Situation kam ihr aus eigener Erfahrung schmerzlich bekannt vor.
Emma zögerte. „Nichts. Wieso?“ Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und atmete viel zu hastig, als sei sie eine lange Strecke gerannt.
Lüg besser, ehrlich.
„Du hattest einen Albtraum, glaube ich“, erwiderte Melanie mit einem leicht fragenden Unterton.
„Nein ... Ich meine, kann sein ... Ich kann mich nicht mehr erinnern“, behauptete sie leichthin und spielte hektisch mit der Bettdecke.
„Wenn du meinst“, murmelte Melanie und stand zögerlich wieder auf. Sie wollte sie nicht drängen und Emma atmete schon wieder normal. Sie wirkte nicht mehr so verängstigt, bloß verwirrt und verschlafen.
„Habe ich dich geweckt?“, wollte Emma jetzt schuldbewusst wissen.
„Nein, ich war schon wach.“ Aus den Augenwinkeln sah sie Emma erleichtert nicken, dann schlüpfte Melanie unter ihre Decke und legte sich wieder hin. Doch statt zu schlafen, grübelte sie über Emma nach. Diese hatte sich auch wieder hingelegt und versuchte wohl, wieder einzuschlafen. Aus irgendeinem Grund glaubte Melanie ihr nicht, dass sie sich nicht mehr an den Traum erinnern konnte. Irgendetwas verbarg sie vor ihr. Und zwar ziemlich schlecht. Doch auch sie hatte Geheimnisse und so konnte sie nicht von Emma erwarten, dass sie ihr gleich alles erzählte. Mit der Zeit würden sie schon mehr Vertrauen aufbauen.
Irgendwann musste Melanie wohl doch noch eingeschlafen sein, denn plötzlich klingelte der Wecker und sie schreckte abrupt aus dem Schlaf hoch.
Sie setzte sich auf und stellte genervt den Wecker ab. Sonnenlicht flutete das Zimmer und ließ Staubkörner in der Luft sichtbar werden. Entfernt nahm Melanie das Rauschen des Meeres und die leisen Stimmen von Schülern, die sich etwas zuriefen, wahr. Sie musste unbedingt mal das Meer anschauen gehen. Nicht, um zu schwimmen und unterzugehen, sondern weil sie in ihrem Leben erst zwei Mal am Meer gewesen war.
Neben Melanie schlug Emma verschlafen die Decke zurück und rieb sich die Augen. „Schon Morgen?“
Melanie nickte. „Und Schule“, fiel es ihr schlagartig wieder ein und sie sprang aus dem Bett. Während sie hektisch ihren Kleiderschrank nach passenden Kleidern durchwühlte, stand Emma in aller Ruhe auf und schlenderte ins Bad. Doch Melanie war viel zu aufgeregt, um sich zu entspannen. Sie hatte Schulwechsel noch nie gemocht und war nun dementsprechend nervös. Ihre Hände zitterten so stark, als sie sich ihre Augen schwarz schminkte, dass sie daneben malte. Emma hielt ihr hilfsbereit ein Abschminktuch hin und Melanie nahm es leicht errötend an. Als auch Emma sich vor den Spiegel stellte und ihre Lippen in einem dezenten Rosa färbte, kam ihr eine Idee.
„Emma, schmink doch deine Augen auffällig, die gefallen ja Emanuel“, schlug sie vor.
Emma ließ vor Schreck beinahe ihren Lippenstift fallen. Das nächste Mal musste Melanie darauf achten, dass ihre Mitbewohnerin gerade nichts in der Hand hatte, wenn sie Emanuels Namen aussprach.
„Stimmt ... o-okay ... ähm, leihst du mir deine Wimperntusche?“, stotterte sie.
„Klar.“ Melanie grinste.
Im Essensraum herrschte große Aufregung: Die Zeitung war angekommen. Sie hatten die Zeitung Bei Tag und Nacht auf eine Adresse in der Nähe eines Portals abonniert, die jeweils einer der Leiter abholen ging. Heute machte wieder mal das Mädchen in Schwarz eine große Schlagzeile. Alle redeten wie wild durcheinander.
„Seit drei Nächten nicht mehr aktiv?“, las Caroline den Titel vor.
Melanie schloss die Tür hinter sich und stellte sich neben Caroline, um einen Blick auf die Zeitung werfen zu können, die diese in der Hand hielt.
„Vielleicht traut sie sich nicht mehr?“, mutmaßte Jack, der Caroline gegenüber stand.
„Was steht denn da?“, wollte Emma wissen.
Caroline las vor. „Das Mädchen in Schwarz wurde seit Donnerstagnacht nicht mehr gesehen. An Opfern jedoch fehlt es noch immer nicht.
Am Samstag gab es ein weiteres Vergewaltigungsopfer, das noch am selben Tag die Polizei verständigte. Journalisten spekulieren darüber, ob die dunkle Retterin nicht entlarvt werden möchten, und sich deswegen versteckt hält.“ Caroline überflog den Artikel. „Sonst steht nichts Wichtiges mehr drin.“
Ramón runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich hast du Recht, Jack. Aber ich hoffe, sie kommt wieder.“
„Da steht gar nicht, wie der Fall von Samstag ausgegangen ist“, warf Melanie nervös ein, ihr Magen hatte sich schmerzhaft zusammengezogen.
Caroline schnaubte. „Sie können ja nicht schreiben: Da wir zu blöd sind, die Attentäter zu stoppen, konnten wir auch diesen Täter nicht fassen.“
Melanie musste gegen ihren Willen lachen. „Eigentlich total lächerlich. Dass die auf so ein Mädchen angewiesen sind, meine ich.“ Ein paar Umstehende murmelten zustimmend.
Daniel wedelte mit einer anderen Zeitung herum. „Im TagesBild gibt es auch eine Artikel: Das Mädchen in Schwarz gibt auf? Seit drei Tagen ist das Mädchen in Schwarz nicht mehr auf der Bildfläche erschienen, obwohl es weiterhin Opfer gegeben hat. Gibt es dafür tiefgehende Gründe oder wird es der dunklen Retterin einfach zu viel? Die ...“
„Was?“, protestierte Zoé empört und schnitt Daniel somit das Wort ab. „Das klingt so, als sei sie eine Privatdetektivin, die ihren Job gekündigt hat!“
Wieder brach eine Diskussion aus und es wurden noch viele weitere Artikel vorgelesen, unter anderem auch aus der TierWoche. Melanie konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen: Sie hatten hier tatsächlich die TierWoche abonniert! Bis zum Ende des Frühstücks blieb das Thema dasselbe: Wo war das Mädchen in Schwarz? Weshalb macht sie nach drei Jahren ausgerechnet jetzt eine Pause? Wie hatte sie es so lange geschafft, nicht erkannt zu werden und ausgerechnet am Donnerstag sah man ihr Gesicht?
Niemand fand eine Antwort darauf.
Kurze Zeit später gingen Emma und Melanie nebeneinander auf die Turnhalle zu. In der ersten Stunde stand für sie Kampftraining auf dem Plan.
„Die Halle ist verzaubert“, erklärte ihr Emma gerade, die locker gleich zwei Doktorarbeiten über das Land der Nacht schreiben könnte. „Einer der ersten Nachkommen von Cataara hat einen starken Zauber entwickelt, der unendlich lange anhält. Dank ihm werden alle Verletzungen, die in dieser Turnhalle zugefügt werden, beim Hinaustreten wieder auf das Minimum geheilt. Mit einer Ausnahme: Wenn die Menschen bereits tot sind, kommen sie nicht zurück. Deshalb nehmen wir kaum Rücksicht aufeinander und können viel härter trainieren als andere Camps.“
Melanie zog verwundert die Augenbrauen zusammen. „Gibt es diese Turnhalle schon so lange?“ Das ovale Betongebäude mit den kleinen Fenstern und schmalen, unscheinbaren Türen sah nicht besonders alt aus.
„Nein“, widersprach Emma belustigt. „Aber früher stand hier eine Arena in dieser Form.“
„Ach so“, sagte Melanie etwas beschämt. War ja klar. Nun waren sie an einer der vielen Türen angekommen und Emma stieß sie auf. Vor ihnen erstreckte sich ein kleiner Vorraum, links waren Toiletten, rechts zwei Umkleidekabinen, eine für Mädchen und eine für Jungs ausgeschildert.
„Komm mit, in 15 Minuten müssen wir bereit sein.“ Emma nahm Melanie bei der Hand und führte sie in die Mädchenkabine.
Als Melanie den vertrauten Geruch von Schweiß wahrnahm, fühlte sie sich schon wohler. Früher hatte sie viel Zeit mit Sport verbracht und da gehörten Umkleidekabinen unweigerlich dazu. Emma zeigte ihr, was sie anziehen musste und in Windeseile waren die beiden umgezogen. In engen, schwarzen Stoffhosen und einem kurzärmligen T-Shirt desselben Stoffes gingen sie in den nächsten Raum. Dort hatten sich bereits Emanuel, Jack, Daniel, Caroline, Ramón und Zoé versammelt und riefen sich belanglose Dinge durch den Raum zu.
Emma erhob ebenfalls die Stimme. „Hier rüsten wir uns je nach angesagter Sportart aus und nehmen uns entsprechende Waffen.“ Sie deutete nach rechts, wo an der Wand entlang ein großes Regal mit Kampfkleidern in jeglicher Größe stand. Gegenüber der Tür, durch die Melanie hereingekommen war, hingen an der Wand mindestens hundert Waffen. Sie riss beeindruckt die Augen auf.
„Keine Angst, das sind nicht alle.“ Emma grinste sie an und zeigte nach rechts durch eine Tür, die in die eigentliche Turnhalle führte. „Dort gibt es noch mehr Regale mit Waffen.“
Melanie öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. In einer Kiste entdeckte sie Bandagen, die man fürs Boxen brauchte.
Emma lachte und zog sie mit zu den Kleiderregalen. „Komm, sonst sind wir zu spät.“ In der Tat waren schon ein paar Schüler in die Turnhalle gegangen.
Rasch reichte Emma ihr eine lederne Weste mit Reißverschluss, sowie Knie- und Wadenschoner. Dann gingen sie den anderen in die Turnhalle nach, wo sie in einer Gruppe standen und warteten, dass John den Unterricht begann. Sie gesellten sich dazu, als Emanuel sich gerade umdrehte und Emma ihre Chance ergriff und ihn anlächelte. Um ihr ihre Privatsphäre zu lassen, wandte sich Melanie leicht nach links und wurde sogleich von Jack angesprochen.
„Hey, freust du dich schon auf deinen Kampf mit John?“ Er grinste und fuhr sich unnachahmlich cool mit der Hand durch die Haare.
Melanie hob erstaunt die Augenbrauen. „Kampf mit John?“
Jack wirkte überrascht. „Wusstest du das nicht? So ziemlich jeder Neue muss gegen John kämpfen, damit er dich in eine Gruppe einteilen kann. Wenn du noch gar nicht kämpfen kannst, kannst du ihm das auch sagen und er steckt dich in die Anfängergruppe.“ Pff, bestimmt nicht!
„Und wenn ich einfach durchschnittlich bin?“
„Dann kommst du zu uns.“ Jack zwinkerte ihr zu.
Melanie legte den Kopf schief und fragte frech: „Und ihr schaut alle zu, wie ich John fertigmache?“
Jack lachte. „Nein, wir müssen was anderes machen.“
Erleichtert nickte Melanie. Bevor sie Zeit hatte, etwas zu erwidern, verstummten alle Gespräche und die Schüler drehten sich zur Tür um.
Als die Zeiger der Uhr auf 8:30 Uhr rückten, betrat John den Raum.
Er hatte tatsächlich Charisma, das musste Melanie zugeben. Obwohl er eher klein war, hatte er einen kräftigen Körperbau und war ebenso wie die Schüler in der schwarzen Ausrüstung gekleidet. Er stellte sich so hin, dass alle ihn sehen konnten, und begrüßte sie mit einem Lächeln. Aus einem unerklärlichen Grund wäre es Melanie nicht im Traum eingefallen, sich jetzt mit einem Schüler zu unterhalten, auch wenn das früher üblich gewesen war.
„Guten Morgen! Heute werden wir wieder an die Nahkampftechnik gehen. Ich möchte, dass ihr in Zweier- oder Dreiergruppen zusammengeht und das bisher Gelernte auffrischt.“ Sein Blick glitt über die Schüler und blieb schließlich an Melanie hängen. Melanie wurde nervös. Was will er jetzt sagen?
„Währenddessen werde ich schauen, auf welchem Stand Melanie ist.“ Er scheuchte die anderen fort, welche rasch seinen Aufforderungen nachgingen, und winkte gleichzeitig Melanie zu sich heran.
Melanie fuhr sich unruhig mit der Hand durch die Haare und trat etwas näher. John lächelte ihr freundlich zu und Melanie versuchte, die Geste zu erwidern. Die ersten Schultage waren noch nie ihre Stärke gewesen. Sie warf einen Blick durch den Raum, wo ausnahmslos alle Schüler mitten in Kämpfen gegeneinander steckten.
Noch ...
„Also“, begann John und Melanie sah ihn wieder an. „Vielleicht weißt du schon, dass ich jetzt ein bisschen mit dir kämpfen werde, um zu schauen, wie gut du bist. Gib einfach dein Bestes, das reicht. Okay?“
Melanie nickte. „Okay.“ Sie holte tief Luft. „Nahkampf?“, fragte sie nach und atmete wieder aus.
John überlegte kurz. „Wenn du etwas anderes besonders bevorzugst, geht das auch.“
Melanie lächelte. „Nein, ich mag den Nahkampf besonders gern.“
„Gut.“ John schaute auf die Uhr. „Du greifst an.“
Melanie stellte sich in Position. Sie scannte die Umgebung ab, rechnete aus, wie viel Platz sie hatte und ging zum Angriff über. Aber John war tausendmal besser als alle Männer, gegen die Melanie je gekämpft hatte. Bereits nach ihrem ersten Schritt wurde sie in die Defensive gedrängt und sie verwendete ihre ganze Energie darauf, Johns Schlägen auszuweichen. Er drängte sie zurück und hielt sie immer auf einer Armlänge Abstand von sich.
Melanie überlegte krampfhaft, wie sie ihn besiegen konnte, während John links antäuschte, mit der Faust von oben kam und sie nach rechts unten ausweichen musste. So würde sie noch zur Anfängergruppe komme! Jetzt schon geriet sie außer Atem und konnte nur knapp seinen Angriffen entkommen.
Da kam ihr eine Idee: John hatte ein gute Taktik, er ließ seinen Körper nie schutzlos, aber er erwartete nicht von Melanie, dass auch sie Taktik anwendete. Er rechnete mit einer Straßenkämpferin. Doch die war sie nicht. Nicht ausschließlich jedenfalls.
Melanie holte tief Luft und ging abrupt zum Angriff über. Sie täuschte von vorne an, John fiel darauf herein und sie sprang nach rechts. Kräftig griff sie ihm unter die Arme, stieß dagegen und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er vollführte eine halbe Drehung und holte aus. Melanie duckte sich unter seinem Schlag hinweg und John änderte seinen Plan. Er packte sie an der Hüfte und warf sie über seine Schulter. Keine Sekunde zu spät drehte sich Melanie in der Luft, rollte sich ab und kam in derselben Bewegung wieder auf die Beine. Sie näherte sich von hinten, holte Schwung und wollte ihn mit ihrem Stiefel am Hintern treffen. Er wich aus, aber Melanie bewegte sich leicht weiter, nutzte den Schwung, vollendete eine Drehung um die eigene Achse und rammte ihm die Faust gegen die Schulter. Doch er drehte sich zu ihr um, packte sie am Handgelenk und brachte sie somit aus dem Gleichgewicht – Melanie stolperte und wand sich aus seinem Griff.
Wieder stand er mit dem Rücken zu ihr. Sie wollte ihn in die Kniekehlen kicken, doch das schien er zu erwarten, er drehte sich weg und trat nach ihrem Bein. Sie sprang hoch und ging so seinem Tritt aus dem Weg. Dann schleuderte sie die Beine nach vorne und versuchte, John am Rücken zu treffen, doch er duckte sich darunter hinweg, obwohl er gar nicht gesehen haben dürfte, was sie da tat, da er ihr den Rücken zugewandt hatte. Sie landete unsanft auf dem Hintern und plötzlich spürte sie alle Blicke der Schüler auf sich ruhen.
Mist. Ich bin gerade vor der ganzen Klasse auf dem Hintern gelandet.
Sie wurde rot und sprang, auch wenn sie Schmerzen hatte, hoch. Dann stürmte sie auf John zu, überraschte ihn von rechts und verhakte seinen Körper in ihren Armen. John ließ sich nicht beirren, er richtete sich schnell auf und packte Melanie von hinten, doch diese stieß ihm den Ellbogen in den Bauch und er ließ sie los. Sie drehte sich blitzschnell um und stellte ein Bein quer über seines und hielt seinen linken Arm fest, um ihn zu blockieren. Leise fragte sie: „Wie konnten Sie mich von hinten sehen?“
John lächelte triumphierend. „Ich kann sehen, als hätte ich Augen am Hinterkopf.“
Melanie riss überrascht die Augen auf. „Echt?“
John machte eine bescheidene Handbewegung. „Ja“, lachte er.
„Das ist unfair, dann könnte ich auch meine Fähigkeiten anwenden“, meinte sie gespielt beleidigt.
„Niemand hat gesagt, dass du das nicht darfst“, behauptete John.
Melanie erstarrte. „Stimmt“, musste sie erstaunt zugeben. Sie kickte blitzschnell mit dem linken Fuß gegen seinen, stieß ihn mit der rechten Hand über ihr Bein und wollte ihn zu Fall bringen. Die Finte wäre beinahe aufgegangen, hätte nicht auch John etwas geplant. Er verlagerte schnell das Gewicht auf das rechte Bein, schleuderte Melanie an der Hüfte herum und machte es ihr mit seinem rechten Bein neben ihrem linken unmöglich, sich auszubalancieren. Melanie stürzte rückwärts und landete auf dem Rücken, ohne die Gelegenheit zu bekommen, die Schatten zu benutzen. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst und sie hustete. John beugte sich besorgt zu ihr herunter. Jetzt, da der Kampf vorbei war, reichte er ihr die Hand und half ihr hoch.
„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, doch Melanie winkte rasch ab. „Du warst echt gut“, fügte er hinzu.
„Danke.“ Melanie brachte, noch etwas außer Atem, ein Lächeln zustande.
„Ich schicke dich am besten zu den Gleichaltrigen in den Kurs, du hast etwa dasselbe Niveau.“ John nickte in den Saal.
Melanie atmete erleichtert aus, obwohl sie befürchtete, dass diese um einiges besser waren. „Okay.“
John wandte sich den kämpfenden Schülern zu und pfiff schrill in seine Pfeife, die er aus einer unscheinbaren Hosentasche gefischt hatte.
Augenblicklich hörten alle auf zu kämpfen und drehten sich zu John um.
Wenn unsere Klasse auch so gewesen wäre...
„Alle mal herhören!“, bat John unnötigerweise. „Melanie wird in eure Gruppe gehen.“
Ein Raunen ging durch die Gruppen und Melanie trat nervös von einem Bein aufs andere. Hier und da sah sie ein freundliches Lächeln.
John erhob die Stimme. „Jetzt ist die Stunde zu Ende, ihr könnt euch umziehen gehen. Ein paar von euch sehe ich heute beim Wahlfach wieder, die anderen morgen.“ John war wahrlich kein Mann vieler Worte. Nach dem Kampfunterricht kam ein weniger erfreuliches Fach: Mathe.
Als Emma und Melanie das Zimmer erreichten, waren die meisten Stühle schon besetzt und die beiden ergatterten nur noch einen Platz ganz vorne. Gleich zu Beginn musste sich Melanie mit Namen, Alter und Herkunft vorstellen, was aber außer dem Lehrer bereits alle wussten.
Doch dies hielt auch den Englischlehrer und den Chemielehrer nicht davon ab, dasselbe zu fragen. Den restlichen Unterricht hindurch versuchte sie, den jeweiligen Lehrern zu folgen, doch hin und wieder wurde sie von Emma abgelenkt. Diese zeichnete nämlich mit einem komischen Stift Spinnen und Spinnennetze auf ihre Arme, und obwohl sie dem Lehrer anscheinend nicht zuhörte, konnte sie jede Frage beantworten, die ihr oder Melanie gestellt wurde.
Am Nachmittag fand jedoch kein festgelegter Unterricht statt. Stattdessen musste man ein Wahlfach wählen, wie Emma ihr während des Mittagessens erklärte.
„Heute gibt es Reiten, Dolchkampf oder Individuelles“, meinte sie. „Und danach noch als festes Fach Schmieden, aber das ist kaum Unterricht der normalen Sorte.“
„Individuelles?“
„Da kommst du in die Arena und kannst etwas nach deiner Wahl üben, aber es ist immer ein Lehrer dabei – meistens John – der dir hilft oder einfach zuschaut.“ Sie überlegte kurz. „Aber Dolchkampf und Individuelles kannst du auch an anderen Tagen wählen, also ...“ Sie ließ die Worte in der Luft hängen, aber Melanie verstand dennoch, was sie sagen wollte.
„Dann ... nehme ich Reiten“, stammelte sie vorsichtig.
Emma lächelte. „Cool, dann bist du bei mir!“
Melanie atmete erleichtert auf. Sie kannte sich noch immer zu wenig mit der Schule und dem ganzen System aus, als dass sie es sich zugetraut hätte, ohne jemanden, den sie kannte, in ein unbekanntes Fach wie Dolchkampf zu gehen. Obwohl das gar nicht so schlecht klang...
Also erhoben sich Emma und Melanie schon bald, um rechtzeitig zum Reitunterricht zu erscheinen.
„Kannst du schon ein bisschen reiten?“, fragte Emma plötzlich, als sie gerade das Hauptgebäude verließen.
„Äh ... Ich war zwei Mal mit meinen Eltern auf einem Reiterhof und habe ein wenig reiten gelernt, aber nicht so richtig ...“, erklärte Melanie verwirrt und blickte Emma in die Augen. Die fand sie, ob mit oder ohne Wimperntusche, sehr interessant. Sie hatten, von den normalen Gefühlen in den Augen jedes Menschen mal abgesehen, irgendetwas, was Melanie nicht verstehen konnte. Etwas, das aussah wie eine tiefe Leere.
Emma wandte den Blick ab. „Gut“, meinte sie. „Dann wird es dir sicher leichtfallen, mitzukommen, wir haben erst seit einem halben Jahr Reiten.“
Danach wechselten sie das Thema und Melanie sprach zum ersten Mal seit Jahren mit einem Mädchen über Dinge, die man mit Mädchen eben besprach. Es tat ihr gut, sich mit Emma zu unterhalten. Sie war sehr klug und hatte etwas Ernstes an sich, aber gleichzeitig war sie humorvoll und mitfühlend. Und, das Wichtigste, sie war Melanies erste richtige Freundin seit Jahren.
„Bist du mit Emanuel zusammen?“, fragte Melanie, als sie vor einer umzäunten Wiese stehen geblieben waren, hinter der der Unterricht stattfinden würde.
Emma erstarrte kaum merklich und hatte zum Glück nichts in der Hand, das sie fallen lassen konnte. „Ähm ... nein?“
„Aber ihr seid ineinander verliebt.“
Emma warf ihr einen Blick zu. „Ich bin in ihn verliebt“, gab sie zu. „Das heißt aber noch nichts.“
„Da lässt sich doch was machen!“ Melanie stieß sie spielerisch an der Schulter an. „Er mag dich auf jeden Fall!“
Emma zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. „Ach ja, hast du ihn gefragt?“
Melanie lachte wieder einmal. „Nein, aber ... Ich vermute es einfach.“
Emmas Miene wechselte von skeptisch zu gespielt entrüstet. „Du machst mir einfach unbegründete Hoffnungen!“, warf sie ihr lachend vor.
„So bin ich eben“, stimmte Melanie mit ein. Am liebsten hätte sie sich nach diesem Satz die Zunge abgebissen. Musste sie denn schon in der ersten Woche so arrogant wirken? Doch Emma sagte nichts dergleichen, sondern deutete bloß auf das Metalltor, durch das man auf die
Wiese gelangte. „Es ist Zeit, wir müssen rein.“
Melanie folgte ihr in die Umkleidekabine und sie zogen sich reittauglich um. Dann stellten sie sich auf die große Wiese und warteten, bis die ganze Reitgruppe bereit war. Tatsächlich waren circa 15 Schüler auf der Wiese versammelt und ebenso viele Pferde, die friedlich grasten. Die Hindernisse in der Mitte der Arena deuteten jedoch auf einen weniger friedlichen Unterricht hin. Kurz darauf erschien ein hochgewachsener Lehrer und bat um Ruhe.
Der Unterricht begann. Obwohl Melanie schon das ein oder andere Mal auf einem Pferd geritten war, hatte sie ihre Schwierigkeiten mit den Hindernissen. Sie konnte knapp Trab und Galopp, an Kunststücke war also gar nicht zu denken. Das schien dem Lehrer aber völlig egal zu sein, als er erklärte, wie man das Pferd über ein circa ein Meter hohes Hindernis springen ließ. Melanie saß angespannt in ihrem Sattel, als Jack seinen Hengst neben Melanies Schimmel dirigierte. „Und? Schon mal geritten?“ Er grinste anzüglich.
Melanie warf ihm einen finsteren Blick zu und probierte, mit halbem Ohr dem Lehrer weiterhin zuzuhören. „Ja“, bekräftigte sie, ihre Angst verbergend. „Aber keine Hindernisse.“
„Pass einfach auf, dass du nicht hinfällst, das Pferd könnte sich verletzten“, erwiderte Jack trocken.
Melanies Blick wurde, wenn möglich, noch finsterer. „Vielen Dank für deine bekräftigenden Worte, auf die Idee wäre ich nie gekommen“, konterte sie nicht minder trocken und gab es auf, dem Lehrer zuhören zu wollen. „Du scheinst dich ja bestens auszukennen, Mister Witzig. Mach doch mal vor.“
Jacks Grinsen wich keine Sekunde von seinem Gesicht – er ließ sich nicht provozieren. „Wenn du es wünschst.“
Melanie unterdrückte den Drang, ihn vom Pferd zu stoßen und ließ ihn sich vordrängeln. Im Vorbeigehen flüsterte er ihr tatsächlich etwas Nützliches zu: „Fühle mit dem Pferd, nicht dagegen.“ Doch er sagte es so leise, dass sich Melanie nicht sicher war, ob sie sich verhört hatte. Sie starrte eine Weile auf seinen Hinterkopf und stellte überrascht fest, dass seine Haare nur eine Nuance heller waren als ihre eigenen. Plötzlich blickte sie in dunkle Augen, blinzelte und realisierte, dass Jack sich umgedreht hatte und sie direkt ansah.
„Daniel hat dich hergebracht, oder?“, fragte er unvermittelt.
Melanie runzelte fragend die Stirn. „Wohin?“
„Ins Land der Nacht.“
„Ja … wieso?“
Jack zuckte mit den Schultern. „Nur so.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Hat dir offenbar nicht erzählt, was an den ersten Tagen so drankommt, was?“
Melanies Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie mochte es nicht, wenn jemand über andere lästerte, ohne dass diese dabei waren, erst recht nicht, wenn sie die betreffenden Personen nett fand. Aber was beabsichtigte Jack mit dem leicht höhnischen Unterton? Wollte er Daniel etwa vorwerfen, dass er ihr nicht gleich das ganze Schulsystem erklärt hatte oder verstand Melanie die Botschaft bloß falsch? Sie biss die Zähne zusammen, bevor sie antwortete: „Wir haben uns über andere Dinge unterhalten.“
Jack hob die Augenbrauen und nickte. Sein Blick war immer noch auf sie gerichtet, als überlege er sich, ob er ihr ein Geheimnis verraten solle. Schließlich drehte er sich aber um, damit er einen Blick auf die Warteschlange erhaschen konnte, ohne nochmals etwas zu sagen.
Die Reihe vor ihnen lichtete sich allmählich und Melanies Nervosität wuchs mit jeder Sekunde. Emma, die vor Jack in der Reihe stand, nahm gerade die Zügel in die Hand und ritt elegant auf das Hindernis zu, drosselte das Tempo ein wenig und sprang in einer perfekten Bogen über den Balken. Dann galoppierte sie etwas weiter nach links, wo die Hälfte der Gruppe bereits wartete. Jack kam dran und tat es Emma gleich – Melanie konnte sein triumphierendes Grinsen bis hierhin spüren, obwohl sie sein Gesicht nicht sah. Jetzt war sie dran. Sie stieß ihrem Schimmel die Hacken in die Flanke und das Pferd trabte los. Der Wind brachte ihr pechschwarzes Haar in Bewegung, aber das immer näherkommende Hindernis verhinderte jedes Aufkommen von Glücksgefühlen. Wie Jack ihr geraten hatte, probierte sie zu fühlen wie ihr Pferd und beugte sich tiefer über dessen Hals. Dann grub sie die Erinnerungen an die Worte des Lehrers aus, die sie schon verdrängt hatte und, ehe sie es sich versah, sprang der Schimmel über das Hindernis und galoppierte wie von selbst zu seinen Artgenossen. Emma und Jack erwarteten sie grinsend.
„Gar nicht schlecht“, sagte Jack. Melanie wäre gerne mal nachts schauen gegangen, ob Jack auch im Schlaf dieses Grinsen auf dem Gesicht trug. Aber sie lachte nur und strich sich eine Haarsträhne hinter die Ohren, die ihr die Sicht verdeckt hatte.
Melanie stand neben Emma im Schmiedeunterricht und hörte John gebannt zu. Obwohl sie eigentlich Schmieden hatten, befanden sie sich in einem normalen Zimmer – die Schmiede war momentan besetzt, hatte Emma erklärt.
„Diesen Monat ist unser Gebäude wieder mal mit einem Waffenwettbewerb dran. Es wird zwei Gruppen geben, die jeweils eine Waffe schmieden und sie mir gegen Ende des Monats abgeben. Die Gruppe mit der besseren Waffe gewinnt“, sagte John. Aufgeregtes Murmeln ging durch die Reihen. „Der Gewinn wird eine gute Note in Schmieden sein.“ Kollektives Aufstöhnen. John erlaubte sich ein Lächeln. „Die Regeln lauten: Man darf die andere Gruppe nicht beeinflussen und sich nicht mit ihr absprechen. Und man darf nichts „erfinden“, was es schon gibt. Die Waffe wird nach Schönheit, Umgänglichkeit, Gefahrengrad und Nutzen bewertet. Bei Fragen wendet ihr euch ungeniert an mich.
Nun bildet die Gruppen!“
Melanie unterdrückte ein Lachen. John schien kein Mann langer Sätze zu sein – er sagte nie einen Satz, der mehr als ein Komma besaß. Doch nach seinen Worten brach Tumult aus, jeder wollte mit den Besten in der Gruppe sein, welche sich als Ramón und Daniel herausstellten. Nach langem Hin-und-her-Gerede standen die beiden Gruppen fest. Sam, Jack, Emma, Emanuel und Melanie waren in einer Gruppe, in der anderen waren Daniel, Caroline, Ramón und Zoé. Dort würde Laura noch hinzukommen, wenn sie zurückkam.
John musterte die Gruppen mit zusammengekniffenen Augen, er schien nicht ganz zufrieden zu sein. „Beim Schmieden darf man sich trotzdem Tipps holen gehen, sonst wären Ramón und Daniel zu sehr im Vorteil. Ich merke es aber, wenn ihr euch gegenseitig helft!“ Besagte Jungs grinsten sich an und es war deutlich, dass sie nicht im Traum daran dachten, der anderen Gruppe mehr als nötig zu helfen.
In der nächsten Stunde ging es an die Arbeit. Melanies Gruppe setzte sich zusammen und begann zu planen.
„Was für eine Sorte Waffe wollen wir machen? Was ist am nützlichsten?“, dachte Emma laut nach und kaute auf einem Bleistift herum.
„Vielleicht etwas nicht allzu großes, damit man es gut verstecken kann ...?“, meinte Melanie und dachte an ihre Messer, die in ihren beiden Stiefeln steckten.
Sam runzelte ihre sonnengebräunte Stirn. „Wenn du in den Kampf ziehst, brauchst du die Waffe doch nicht zu verstecken.“
Melanie sah erstaunt und gleichzeitig verärgert auf. „Es gibt auch andere Momente als nur den Krieg, in denen man eine Waffe brauchen kann. Und wenn du im Nahkampf gegen jemanden steckst, ist eine Joker-Waffe immer nützlich ...“, wandte sie möglichst diplomatisch ein und fügte stumm in Gedanken hinzu: Zum Beispiel, um dir deine gefärbten Haare abzuschneiden. Aber sie wollte nicht an ihrem ersten Schultag einen Streit vom Zaun brechen, deshalb behielt sie diesen Teil für sich.
„Oh, da scheint sich ja jemand auszukennen“, gab Sam höhnisch zurück und Melanie mochte sie mit jeder Sekunde weniger. Sie atmete tief ein und versuchte, die Selbstbeherrschung zu wahren, die ihr in der alten Schule das Leben gerettet hatte.
Jack machte mit einem Winken auf sich aufmerksam. „Mädels, hört auf zu streiten!“ Melanie blickte dankbar zu ihm. „Das solltet ihr erst machen, wenn die Waffe fertig ist.“
Jegliche Dankbarkeit verschwand wieder.
„Melanie hat Recht. Sie sollte möglichst schmal sein, damit man sie gut in den Kleidern verbergen kann“, mischte sich Emanuel ein und lenkte somit die Aufmerksamkeit wieder auf die eigentliche Sache.
„Okay“, nickte Emma und schrieb das Kriterium auf.
„Am besten ist es etwas, mit dem man schneiden kann und Schläge austeilen“, ergänzte Emanuel.
„Etwas Leichtes auch noch“, meinte Jack.
„Schön muss es auch sein!“, warf Sam ein und Melanie unterdrückte ein Stöhnen.
„Wie wär‘s mit einer Art Schwert, das auf der einen Seite scharf ist, auf der anderen hart und vorne spitz?“ Emma sah fragend in die Runde.
Melanie schaute sie gleichzeitig überrascht und begeistert an. „Das ist doch gut!“, rief sie aus. Wie schnell das hier vorwärts ging, war echt erstaunlich.
Auch den anderen gefiel die Idee und Emma schrieb das Ganze eifrig auf. „Okay“, meinte sie zum Schluss. „Jetzt müssen wir uns nur noch an die Ästhetik machen.“
Melanie, Emanuel und Jack, die bisher am Tisch gelehnt hatten, zogen sich nun einen Stuhl heran und gemeinsam begannen sie, eine Skizze anzufertigen.
Melanie ging gemächlich auf das Camp Cataara zu. Es war zwei Uhr und für jeden anderen Menschen stockfinster und tiefe Nacht. Aber da Melanie ihre vier benötigten Stunden schon geschlafen hatte, hatte sie keine Ruhe mehr gefunden und war aufgestanden. Jetzt lief sie zurück und spielte am Griff ihres Messers herum, das aus ihrem Gürtel hervorlugte.
Ein plötzliches Geräusch zu ihrer Rechten ließ Melanie in Alarmbereitschaft aufhorchen. Sie blickte in die Richtung und erkannte in einer schmalen Gasse mehrere Gestalten, die aufeinander losgingen. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass es sich um drei Jungs und ein Mädchen handelte. Ein Mädchen mit einem goldblonden Zopf und schiefergrauen Augen. Emma.
Melanie sog überrascht die Luft ein. Was suchte Emma um diese Zeit hier unten? Sie rannte los, auf ihre Freundin zu. Die drei Jungs hatten sie umzingelt und kamen immer näher. Einer hatte ein Messer in der Hand, aber da sie nicht direkt angriffen, nahm Melanie an, dass sie etwas von ihr wollten. Falsch gedacht. Der Junge ganz links griff mit seiner starken Hand nach Emma und drückte ihr den Hals zu. Emma riss die Augen auf und schnappte verzweifelt nach Luft.
„Lass sie los!“, schrie Melanie, zog ihr Messer aus dem Gürtel und warf es gezielt nach dem Jungen. Nicht töten, ermahnte sie sich. Es segelte mit beispielhafter Präzision auf den Jungen zu und drehte sich im Flug um die eigene Achse. Dann blieb es in seinem Ziel stecken: In seinem Arm. Der Junge heulte auf, ließ Emma los und beschimpfte Melanie wild, doch diese beachtete ihn längst nicht mehr. Das nächste Messer steckte im Bein desjenigen, der gerade in Begriff gewesen war, Emma hinterlistig einen Dolch in den Bauch zu stoßen. Der dritte Junge sah sie keuchend und voller Angst an.
„Spinnst du?“, kreischte er hysterisch. Melanie bückte sich, langte in ihren Stiefel und zog mit einer einzigen Bewegung ein Messer hinaus, bevor es auch schon in der Hand des Dritten steckte. Auch dieser hatte ein Messer hervorholen wollen, hatte sich jedoch ungeschickter angestellt. Jetzt jaulte er leidend auf und zog das Messer wütend wieder heraus. Er rannte auf Melanie zu, sie kam ihm entgegen. Zur selben Zeit, als Melanie zum Schlag ausholte, hatte der Junge ihr in den Bauch gekickt. Sie stöhnte und trat einen Schritt zurück. Dank ihrer Nachtsicht erkannte sie, wie der Angreifer ihr Messer auf sie zuwarf, das jedoch völlig schief daherkam.
Auch wenn ich blind wäre, würde mich das Messer nicht mal annähernd berühren.
Melanie fing es auf und steckte es in den Stiefel, dann holte sie aus und kickte dem Jungen gegen die Brust. Er flog nach hinten und landete auf dem Rücken. Melanie setzte ihm nach und beugte sich, rasend vor Wut, über ihn.
„Du rührst meine Freundin noch einmal an und mein Messer steckt in deiner Brust! Hast du mich verstanden?“, fauchte sie. Der Teenager nickte eifrig und robbte schnell aus ihrer Reichweite. Dann ging Melanie zu seinen Kumpels und nahm die Messer an sich.
„Die behalte ich gerne“, murmelte sie, als ihr plötzlich Emma wieder in den Sinn kam. Schlagartig drehte sie sich zu ihr um und ging langsam auf sie zu.
„Emma?“ Beschwichtigend streckte Melanie eine Hand nach ihr aus. Emma presste sich noch dichter an die Wand und zitterte unkontrolliert, sie war ganz bleich.
Sanft legte ihr Melanie die Hand auf die Schulter und schaute ihr in die Augen. „Emma, alles ist gut, ich tue dir nichts.“
Emma biss sich auf die Lippe und eine einzelne Träne rann ihr über die Wange.
Bestürzt wischte Melanie sie fort. „Haben sie dir wehgetan?“
Emma schüttelte den Kopf, sie schien in Panik zu sein. Sie zitterte noch immer, ihr Atem ging unregelmäßig und sie stützte sich ganz offensichtlich an der Wand ab. „D-danke“, brachte sie hervor. „Ich ... sie haben mich einfach überrascht, das ist alles. Ich ... ich bin ...“ Sie brach ab und wandte den Kopf ein wenig von Melanie ab. Ihre Unterlippe zitterte und ihr Blick huschte unruhig umher.
Melanie nahm sie behutsam bei der Hand und drückte diese. „Schon okay. Atme ganz ruhig, Emma.“ Da sie selber mit 13 Jahren monatelang an Panikattacken gelitten hatte, kannte sie sich damit aus. Langsam beruhigte sich Emma und sie wagte einen Blick in Melanies Augen. „Kämpfst du immer so?“ Ihre Stimme zitterte.
Melanie errötete. „Nein ... normalerweise mache ich es schon besser ...“
Emmas Mundwinkel zuckten. „Ich meinte so gut!“
„Ach so“, entfuhr es Melanie angespannt und sie zuckte mit den Schultern. „Danke. Ich hatte Glück, dass ich die Messer dabei hatte ...“
Emma zuckte beim Wort Messer zusammen, was Melanie besorgt beobachtete. „Du bist aber nicht verletzt?“, fragte sie erneut.
„Nein.“ Emma schüttelte abermals den Kopf. „Ich habe nur Angst bekommen.“
Melanie verzog mitfühlend das Gesicht. „Kann ich verstehen.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Was wollten sie denn?“ Sie spürte, wie sie um alles in der Welt wollte, dass es Emma gut ging, dass sie keine Angst mehr haben musste.
„Sie haben etwas von einem Tigermädchen geschwafelt, das wir verstecken würden ...“ Emma schüttelte verwirrt den Kopf. „Das ist aber normal. Es kommen immer wieder Blacks hierher bis an die Grenze und wollen Informationen über das Tigermädchen.“
Erstaunt hob Melanie die Augenbrauen. „Die sind ja echt aufdringlich.“
Emma gelang ein Lächeln. „Wir sollten ja auch nicht nachts rausgehen. Ich ... äh ... hab dich gesucht.“ Sie warf Melanie einen fragenden Blick zu. „Du warst nicht da. Wo bist du hergekommen?“
Melanie biss sich auf die Lippe. Emma war ihretwegen angegriffen worden! Sie hätte ihr eine Nachricht hinterlassen sollen. „Ich bin rausgegangen, weil mir langweilig war. Tut mir leid. Ich brauche nur circa vier Stunden Schlaf, weißt du?“
„Das ist echt cool!“, rief Emma aus, die ihr nicht mehr böse zu sein schien, und stand nun schon eigenständig auf beiden Beinen. „Warst du schon lange da draußen?“
Melanie schüttelte den Kopf. „Höchstens eine halbe Stunde.“
Die beiden Mädchen machten sich stumm und langsam auf den Weg zum Gebäude 3.1. Melanie hielt immer noch Emmas zitternde Hand fest und Emma blickte zu Boden. Sie kamen am Gebäude an und schlichen die Treppe hoch zu ihrem Zimmer.
„Das nächste Mal musst du dir keine Sorgen machen, okay?“, bat Melanie flüsternd.
Emma nickte. „Außer du bist morgens noch nicht da. Und bitte, sei vorsichtig.“
„Klar“, versicherte Melanie, selbst nicht ganz sicher, ob sie es ernst oder sarkastisch meinte.
Die Zeitung schien etwas sehr Wichtiges zu sein im Land der Nacht.
Wahrscheinlich, weil sie die einzige Verbindung zur Außenwelt war. Im Frühstücksraum hatte sich Emanuel die aktuelle „TagesBild“ geschnappt und las laut vor: „Die dunkle Retterin ist zurück! Heute Nacht ist Die dunkle Retterin wieder in Aktion getreten und hat gleich zwei Opfer gerettet. Die beiden sind zum Glück unbeschadet davongekommen. Das Mädchen in Schwarz war offenbar voller Eifer dabei; obwohl sich die beiden Fälle an anderen Schauplätzen abgespielt haben, war sie bei beiden anwesend. Gegen Mitternacht wurden die beiden Übeltäter bei der Polizei gemeldet, aber es fehlt bisher jede Spur von ihnen. Die dunkle Retterin schien sich nicht anders verhalten zu haben als zuvor, es ist immer noch ein Rätsel, wieso sie nach drei Jahren diese Auszeit von drei Tagen genommen hat. Ist sie wegen der Aufrufe in den Zeitungen nun doch wieder aufgetaucht oder hat sie ganz andere Gründe? Wahrscheinlich wird das Rätsel nie gelöst werden, aber die Opfer sind dankbar: Das eine Mädchen bat die Polizei ausdrücklich, bekannt zu machen, wie sehr sie die Hilfe des Mädchens in Schwarz schätze.“ Emanuel endete und sah auf.
„Das ist ... echt nett von dem Mädchen“, bemerkte Melanie.
„Diese Auszeit ist echt komisch ...“, sagte Daniel nachdenklich, der hinter Melanie stand. „Also, ich finde es ja okay, aber verstehen tue ich es trotzdem nicht.“
„Ich auch nicht“, meinte Caroline. „Aber das ist doch echt egal. Was ich mich frage, ist, wie dieses Mädchen kämpfen gelernt hat. Und ob sie in die Schule geht und Eltern hat.“
Bei dem Wort Eltern zuckten sowohl Emma als auch Daniel zusammen. Die anderen schauten Caroline nur mit einem seltsamen Blick an – keiner hatte sich bisher solche Gedanken gemacht.
„Du hast Recht!“ Emma klang erstaunt.
„Warum sollte sie keine Eltern haben?“, fragte Melanie und schaute möglichst unauffällig zu Daniel; ihr war schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen, dass er auf dieses Thema sensibel reagierte. Was war denn mit seinen Eltern geschehen? Und mit Emmas? Irgendwie schienen hier alle nicht im Paradies großgeworden zu sein. Andererseits gab es bei ihr auch Tabuthemen …
Caroline zuckte als Antwort auf Melanies Frage mit den Schultern. „Wissen die, dass ihre Tochter solche Sachen macht, und machen sich gar keine Sorgen? Und wenn nicht: Wie kann sie sich aus dem Haus schleichen?“
Darauf wusste wieder einmal keiner eine Antwort, und die dunkle Retterin war erneut das Hauptgesprächsthema bis zum Unterrichtsbeginn.
Am Nachmittag wusste Melanie nicht, was sie machen sollte. Emma hatte gerade den Gemeinschaftsraum verlassen, um in ein Wahlfach zu gehen. Den Namen hatte Melanie schon wieder vergessen, aber es hatte auf jeden Fall mit Mathematik zu tun gehabt. Gerade als auch sie ihre Sachen zusammenpackte und in ihr Zimmer gehen wollte, kam Caroline zu ihr. „Hey, ist dir langweilig?“ Sie lächelte.
Melanie sah erstaunt auf. „Ehm ... Ja, wieso?“
„Du könntest mal mit in die Schmiede kommen, das ist echt interessant.“
Tatsächlich wusste sie wenig über das Schmieden und sie würde gerne mal zuschauen. Jetzt, da sie im Unterricht ein Schmiedeprojekt ausarbeiteten, wäre es bestimmt hilfreich, wenn sie sich ein Bild von dieser Tätigkeit verschaffen könnte. Also stimmte Melanie zu, erhob sich und folgte Caroline aus dem Gemeinschaftsraum zu einer dicken Tür, die neben der nach oben führenden Treppe kaum sichtbar war.
Caroline drehte sich kurz zu ihr um. „Vielleicht solltest du die Jacke ausziehen, da unten ist es ziemlich heiß.“
Melanie schlüpfte aus ihrem schwarzen Hoodie. Darunter trug sie nur ein schwarzes Tanktop mit einem feinen, silbernen Muster darauf. Caroline öffnete die Tür und augenblicklich schlug ihr eine atemberaubende Hitze entgegen. Caroline hatte nicht übertrieben, es war in der Tat wärmer als in allen Strandferien, in denen Melanie je war – was sich auf zwei beschränkte. Schon oben an der Treppe war die Luft stickig und glühte fast.
Caroline stieg eine schmale Treppe herunter, die in eine erstaunlich große Schmiede führte. Rechts von der Treppe lief eine Wand entlang, links erstreckte sich ein Raum, mindestens so groß wie Melanies Schlafzimmer. An der Wand, die am weitesten von der Treppe entfernt war, waren drei Schmieden eingebaut, daneben stand eine große Werkbank mit einem Amboss und einer Schüssel Wasser. Die eine Schmiede war kalt und verlassen, die anderen beiden standen regelrecht in Flammen. Und davor saßen Daniel und Ramón, beide der Hitze wegen in schlichte Muskelshirts gekleidet. Ebenso trugen sie Handschuhe und Schutzbrillen – auch wenn sie die Brillen auf die Stirn geschoben hatten. Caroline stupste Melanie in die Seite und jene blinzelte, ganz vertieft in die Betrachtung der Schmiede. Oder Ähnliches ...
Jetzt schienen die beiden Jungs die Gäste gehört zu haben, denn sie drehten sich auf ihren Hockern um. Caroline lächelte Ramón warm zu und er erwiderte die Geste. Daniel begrüßte sie ebenfalls lächelnd und nickte Caroline zu. Sie war wahrscheinlich oft in der Schmiede, da Ramón ständig hier war.
„Hi Melanie, bist du zum ersten Mal hier unten?“, wandte sich Daniel an Melanie.
Melanie nickte, unsicher, was sie sagen oder tun sollte. „Gar nicht gewusst, dass das sozusagen euer Hobby ist.“
Die beiden lachten und winkten sie etwas näher heran. „Schau doch mal bei unserem Hobby zu“, meinte Daniel und Melanie fragte sich, ob er sie veräppeln wollte, kam aber trotzdem näher. Caroline war schon neben Ramón getreten und hatte einen Arm auf seine Schulter gelegt. „Keine Angst, normalerweise werfen sie keine Neuen ins Feuer“, scherzte Caroline und ihre Augen blitzten belustigt.
„Erst, wenn sie schon seit langem hier sind?“, lachte Melanie. „Pass auf, dass du nicht zu nah ran gehst, Caroline.“
Caroline, die hinter ihrem Freund stand, machte demonstrativ einen Schritt zurück und grinste.
„Wir haben unsere Methode zu anzünden geändert“, protestierte Daniel und hob zum Beweis ein an der Spitze glühendes Schwert hoch, das er gerade mit einem Hammer auf dem Amboss bearbeitete. So nah am Feuer war es noch heißer und Melanie bemerkte, dass Ramón und Daniel ins Schwitzen gekommen waren. Um sich davon abzulenken, dass Daniel komischerweise attraktiv aussah, während ihm der Schweiß an der Haut abperlte, fragte sie: „Meinte John deshalb, dass wir uns bei euch Tipps holen sollen?“
Daniel nickte. „Ich denke schon. Obwohl wir euch natürlich nie helfen würden!“ Sein Lächeln aber sagte genau das Gegenteil, als er sich halb zur Schmiede zurückdrehte und weiter auf das Schwert eindrosch. Interessiert trat Melanie näher und betrachtete mehrere Stäbe aus Metall, welche zwischen Daniel und Ramón auf einer Ablagefläche lagen. Ein Stab leuchtete in einem wunderschönen Gold und Melanie streckte, ohne zu überlegen, die Hand aus, um ihn zu berühren. Eine Sekunde, bevor sie das Metall anfassen konnte, schnellte Daniels Hand vor, die gerade noch am Griff des Schwertes gelegen hatte, und packte ihre Hand. Ruckartig zog er sie vom Stab weg. „Achtung!“, rief er erschrocken. „Das ist heiß.“
Melanie zuckte erschrocken von seiner heftigen Reaktion zusammen. „Sorry.“
Besorgt musterte Daniel Melanies Finger und suchte sie nach Brandwunden ab. „Schon okay. Hast du dich verbrannt, mi cielo?“
Melanie schüttelte errötend den Kopf. „Nein, du warst echt schnell
... Danke.“
Daniel atmete erleichtert aus und ließ ihre Hand los, die augenblicklich kälter wurde. „Gut. Die Feuer wird je nach dem über 1000°C heiß – im Land der Nacht haben wir noch andere, spezielle Arten von Metall. Vermutlich ziemlich schmerzhaft.“
„Ich dachte, ihr zündet manchmal Leute an. Habt ihr sie danach nicht gefragt?“, witzelte Melanie, von seiner plötzlichen Fürsorge überrascht.
Daniel grinste ein Bad Boy-Lächeln. „Meistens wollten sie danach unverständlicherweise nicht mehr mit uns reden ...“, erwiderte er und brachte somit alle vier zum Lachen.