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4 TAUSCHHANDEL

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Es war ein sonniger Montagmorgen, als plötzlich seltsame Post eintraf. Sie schien von Laura zu sein, wie Melanie auf dem Absender las, als sie die Post aus dem Briefkasten des Gebäudes 3.1 holte. Sie hatten am Morgen ausnahmsweise eine Freistunde – Chemie fiel aus – und wollten diese sinnvoll nutzen.

Stirnrunzelnd trat sie in den Gemeinschaftsraum und öffnete den Brief. Emma, die mit Melanie gemeinsam zum Lernen erschienen war, spähte neugierig zu ihr herüber.

„Was steht da?“

Melanie faltete das Blatt auf und hielt es so, dass Emma es auch lesen konnte. Aus irgendeinem Grund überkam Melanie ein mulmiges Gefühl, noch bevor sie zu lesen begann.

Hey,

Ich wurde von dunklen Typen gefangen genommen. Der einzige Ausweg, den sie mir vorschlagen, ist, dass wir einen Tauschhandel machen. Gebt ihnen das Tigermädchen und ich werde freigelassen.

Ganz schön dunkel hier unten.

Kuss,

Laura

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Emma schnappte nach Luft und Melanie wurde noch bleicher als zuvor, beinahe ließ sie den Brief fallen.

„Oh mein Gott!“, stieß Melanie atemlos hervor. „Laura wurde gerade entführt?!“

Ohne ihr zu antworten, starrte Emma auf das Papier und ihre Augen weiteten sich zunehmend.

„Gib mal her!“ Ungewohnt heftig riss sie ihr das Blatt aus der Hand und las es erneut.

„Was ist denn?“, drängte Melanie. „Was sagst du dazu?“

„Sieh mal hier.“ Emma deutete auf das untere Ende des Briefes und als Melanie sich näher zu ihr neigte, erkannte sie dort noch einen eilig hinzu gekritzelten Satz:

Sagt nein! Sie wollen uns beide!

„Emma!“ Langsam bekam es Melanie mit der Angst zu tun, ihr Magen verkrampfte sich. „Was meint sie damit?“ Ihre Stimme klang seltsam fremd.

Emma schaute endlich zu ihr auf und meinte leise: „Die obere Botschaft musste sie höchstwahrscheinlich schreiben. Aber das untere ... Hat sie heimlich hinzugefügt.“ Emma schluckte und legte den Brief auf den Tisch vor ihr. „Und ich kann mich nicht entscheiden, welche der beiden Botschaften schlimmer ist. Und … diese Handynummer …“

Bevor Melanie antworten konnte, ging die Tür auf und Daniel, Caroline und Ramón kamen nichtsahnend herein. Daniels Blick schweifte von Melanie zu Emma und ehe einer der beiden den Mund aufmachen konnte, hatte er die Stimmung erkannt.

„Was ist passiert?“, fragte er alarmiert. „Geht es euch gut?“

Melanie verkniff sich ein Schmunzeln. „Ja, uns geht‘s gut. Aber Laura nicht.“ Sie hielt ihm den Brief hin und Emma erklärte ihre Erkenntnisse.

„Ach du meine Güte!“, stieß Ramón hervor.

Ay dios!“ Daniel verfiel vor Schreck in seine Muttersprache.

„Wir müssen das melden!“, rief Caroline panisch. „Wir werden ihnen zwar das Tigermädchen nicht ausliefern, aber genauso wenig lassen wir Laura einfach dort versauern!“ Ihre Stimme zitterte aus Angst um Laura.

Emma kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum und überflog den Brief zum wiederholten Mal. „Stimmt ... Aber etwas daran ist komisch“, meinte sie und ihre grauen Augen fixierten einen Punkt hinter Caroline. „Wenn sie wirklich einen Tauschhandel wollen, warum schreiben sie dann nicht hin, wo sie sind?“

Melanie überlegte fiebrig. „Wahrscheinlich wollen sie, dass man bei ihnen anruft – den Standort rauszugeben wäre sehr riskant ...“, gab sie zu bedenken.

„Stimmt“, musste Emma zugeben, den Blick auf den Brief gerichtet.

„Aber was wollen sie mit dem Tigermädchen? Was bezwecken sie mit diesem Tauschhandel?“, wollte Melanie wissen und rieb sich die Stirn.

„Was bezweckt wer?“, ertönte eine Männerstimme von der Tür aus.

Emmas Kopf fuhr herum. „Emanuel! Schau, hier! Das hat uns Laura geschickt.“ Geduldig erklärte sie auch Emanuel, was sie für eine Theorie hatten.

„Hm ...“, sagte Emanuel schlussendlich höchst intelligent. „Wir sollten es wirklich einfach mal John zeigen. Vielleicht weiß er mehr über die Ziele von diesen ‚dunklen Typen‘. Wer auch immer die sind.“ „Ich tippe auf die Blacks“, warf Daniel ein.

Ramón nickte. „Ihr habt Recht. Also beide meine ich“, fügte er hinzu.

„Dann ... Zeigen wir es John und fragen ihn, wie wir Laura retten können, ohne das Tigermädchen aushändigen zu müssen? Und rufen diese Nummer hier unten an?“, fasste Melanie zusammen. Die Welt begann sich zu drehen. Noch nie war sie Zeuge einer solchen Tat gewesen. Das war der reinste Albtraum! Eine Mitschülerin war entführt worden und sie hatten keine Ahnung, wie sie sie retten sollten!

Emma nickte als Antwort auf Melanies Frage. „Mal davon abgesehen, dass wir kein Tigermädchen in unseren Reihen haben.“

Melanie runzelte nachdenklich die Stirn. Daniel hatte doch mal gesagt, dass sie Vermutungen angestellt hätten, was das Tigermädchen betraf. „Ist nicht ... die dunkle Retterin das Tigermädchen?“, fragte sie vorsichtig nach.

Emma schüttelte den Kopf. „Das denken wir nur, aber sicher ist es nicht. Außerdem werden wir ganz bestimmt nicht das Mädchen in eine Falle locken, nur um es dann den Blacks auszuhändigen! Und danach würden wir nicht mal Laura zurückbekommen.“

Das klang plausibel. Laura hatte ja selbst geschrieben, dass sie der Forderung nicht nachkommen sollten. „Also, gehen wir?“, wollte Melanie wissen und setzte sich in Bewegung.

Doch bevor die anderen ihr folgen konnten oder Melanie die Tür erreichte, ging diese auf und Sam kam herein, dicht gefolgt von Jack und Zoé.

Als die drei sahen, wie die anderen sie anstarrten, als seien sie Cataara persönlich, blieben sie erstaunt stehen und Zoé schaute sich hastig um, ob irgendwo eine Gefahr lauerte.

„Wow, was ist denn?“, fragte Sam intuitiv. „So schlimm ist das Lernen nun auch wieder nicht.“

Emma hielt ihr wortlos das Blatt Papier hin.

Gemeinsam eilte die Crew aus dem Gemeinschaftsraum, sobald alle auf demselben Stand waren. Melanie drehte nervös ihre pinke Haarsträhne um ihren Finger, ständig ließ sie den Blick über die Umgebung gleiten, für den Fall, dass jemand sie beobachtete oder angreifen wollte. Sie fühlte sich ganz und gar nicht mehr sicher im Camp Cataara.

„Hast du den Brief?“ Jack war nicht minder angespannt als Melanie und stellte ihr schon zum zweiten Mal dieselbe Frage.

Melanie nickte und zog ihn aus ihrer Tasche, wo sie ihn verstaut hatte. Der Brief sah immer noch genau gleich aus, nur dass die Ecken ein wenig abgeknickt waren. Melanie strich sie beschämt glatt und reichte den Brief dann Jack, um ihn zu beruhigen. Er nahm ihn in die Hand und überflog wieder die Zeilen, ohne jedoch das Tempo zu verlangsamen. Die Gruppe eilte über den Hof zu Johns Büro, als sei eine Horde Zombies hinter ihnen her.

Die Tür war angelehnt, aber dennoch klopfte Emma zaghaft an, bevor sie eintraten. Der Direktor des Gebäudes 3.1 saß an seinem Schreibtisch, der mit Papierkram vollgestapelt war. Das Büro war Melanie mittlerweile bekannt und bot gerade genug Platz, dass die Teenager und John sich drinnen bewegen konnten. Die Neun standen etwas unschlüssig im Raum herum und warteten darauf, dass jemand das Wort ergriff.

John sah von seinem Schreibtisch auf und hob erstaunt die Augenbrauen, als er die neun Teenager in seinem Büro stehen sah.

„Was ist denn passiert?“, fragte er mit einem amüsierten Unterton. „Habt ihr ein Zimmer abgefackelt?“

Melanies Mundwinkel hoben sich, aber sie schüttelte den Kopf. Es war viel schlimmer.

„Wir haben Post bekommen“, ergriff sie das Wort, als keiner etwas sagen zu wollen schien. „Von Laura. Aber…“ Sie wandte sich suchend an Zoé, die den Brief in der Hand hielt – sie hatte ihn zuvor Jack abgenommen.

Zoé verstand den Wink und hielt ihn John hin. „Du solltest das mal lesen.“

John wurde augenblicklich ernst und nahm den Brief entgegen. Während er las, wechselte seine Miene von ernst zu schockiert. Seine Gesichtszüge entgleisten und sein Blick wurde starr. „Und… seid ihr sicher, dass er von Laura stammt?“, fragte er eindringlich, als er zu Ende gelesen hatte. Er klang so ernst wie noch nie zuvor.

Caroline nickte. „Hundertprozentig ihre Handschrift.“

John las den Brief erneut durch. „Sie hat versteckte Botschaften eingebaut“, murmelte er und runzelte nachdenklich die Stirn.

Emma trat einen Schritt vor und deutete auf die letzte Zeile in der Botschaft. „Meinst du das?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich denke nicht, dass diese Botschaft groß versteckt ist.“ Emma deutete auf das Briefende. „Eher die hier unten ist wichtig. Das bedeutet, dass Laura noch mehr über diesen Handel weiß, als sie sagen kann.“ Sie sprach sicher, sie glaubte, was sie sagte und sie hatte auch Recht. Erstaunlicherweise jedoch klang es ganz und gar nicht besserwisserisch, es war bloß eine Bemerkung.

John sah Emma mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an. „Stimmt.

Wie gut, dass ich nicht versuche zu denken, sondern zu handeln.“ Emma lachte verlegen auf, sagte aber nichts.

John grinste, dann deutete er auf die Stühle, die im Raum verteilt herumstanden. „Setzt euch doch. Das müssen wir besprechen.“

Die Neun taten wie ihnen geheißen und John schloss die Tür ab. Die Situation wurde ernst.

„Wann habt ihr den Brief bekommen?“

„Gerade vor zehn Minuten, wir sind sofort zu dir gekommen“, antwortete Daniel. Melanie versuchte sich immer noch daran zu gewöhnen, dass hier alle Lehrer geduzt werden.

„Und er hat sich in der Zeit nicht verändert, nehme ich an?“

Daniel schüttelte den Kopf, ebenso wie Emma und Emanuel.

„Und wer weiß sonst noch davon?“

„Niemand…?“, Daniel sah fragend zu den anderen, die die Köpfe schüttelten.

John nickte und kratzte sich nachdenklich an der Glatze. „Wir müssen sie befreien. Wir haben einen neuen Fall.“

Er schaute von links nach rechts alle im Raum gründlich an. „Wenn ihr als Team – und mit meiner Hilfe – die Sache angeht, dann reicht das vorläufig, oder? Ihr seid ein guter Haufen.“ John deutete ein Lächeln an und wartete auf eine Antwort.

Einer nach dem anderen nickte. Was genau meinte er damit?

Auf Johns Miene trat ein zufriedener Ausdruck und er fixierte auf einmal Melanie, die ganz rechts auf einem der Plastikstühle saß.

„Melanie…“, begann er direkt.

Das Mädchen zuckte leicht zusammen. „Ja?“

„Du bist eine gute Nahkämpferin. Woher kommt das? Die anderen haben hier schon trainiert und du nicht.“

Melanies Atem stockte leicht. John hielt sich nie mit vielen Worten auf, aber diese Frage lag haargenau auf der Grenze zu ihrer Privatsphäre. „Ich habe in Kursen trainiert“, sagte sie knapp. „Das weißt du doch.“ Sie hatte nicht so schnippisch klingen wollen, aber das war ihre Abwehr persönlichen Fragen gegenüber.

Im Gegensatz zu Daniel, der ihr von der Seite her einen intensiven Blick zuwarf, war John entweder an schnippische Antworten gewöhnt oder er hatte den Unterton nicht bemerkt, denn er hakte weiter nach. „Das weiß ich. Aber wieso hast du diese Kurse überhaupt belegt?“

Melanies Herz begann, schneller zu schlagen. Die Kurse hatte sie absolviert, weil sie mit 13 Jahren vergewaltigt wurde, weil sie nie wieder wollte, dass jemand sie auf diese Weise anfassen, sie derart demütigen konnte. Sie bemerkte panisch, dass sie nahe dran war zu weinen. Hastig starrte an die Decke und biss die Zähne zusammen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und ihre Augen wurden feucht. Sie schluckte. Sie wollte und konnte nicht an ihre Vergewaltigung denken.

„Das haben mich meine Eltern auch gefragt“, antwortete sie, ohne John anzusehen, und musterte stattdessen einen dunklen Fleck auf der ansonsten sauber gestrichenen Decke.

Jack zu ihrer Rechten lachte, und löste somit die angespannte Stimmung auf.

„Also, wir gehen dem Fall nach, oder?“, fragte Daniel und zog die Aufmerksamkeit Johns auf sich. Melanie klammerte sich erleichtert an ihren Hoodie und versuchte, den Gedanken an ihre Vergewaltigung zu verdrängen. Laura, denk an Laura!

„Genau“, bestätigte dieser. „Und morgen zeigen wir es Anthony und ich werde ihn darum bitten, uns Zeit und Material zur Verfügung zu stellen.“

„Denkst du, das tut er?“, fragte Caroline verunsichert. Ramón stand neben ihr und sein Arm lag um ihre Schultern.

John zuckte resigniert die Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Aber heute ist er bis abends bei einer Sitzung und wenn ich ihn danach noch frage, bin ich sicher, dass er es nicht tut.“ Offenbar war dieser Anthony ein richtiger Arsch.

John erhob sich und gab Zoé den Brief zurück. „Wir treffen uns morgen um acht Uhr hier. Ich regle das mit den Lehrern.“

Melanie schlief schlecht in dieser Nacht. Nicht, weil sie wenig schlief – das tat sie immer – sondern weil sie immerzu an Laura denken musste. Zwar wusste sie nicht, wie es war, wenn es dunkel war, aber genau das Unbekannte machte ihr solche Angst. Als sie schon mindestens zehn Varianten zu liegen erfolglos ausprobiert hatte, stand sie auf und schlich sich aus dem Haus, um frische Luft zu schnappen. Laut ihrem Wecker, der nun fünf Uhr anzeigte, hatte sie zusammengezählt immerhin drei Stunden schlafen können, allzu schlimm war das also nicht.

Melanies Schritte führten sie zu einer Bank, fünf Minuten vom Campus entfernt. Sie lauschte der Stille, als sie auf einmal eine Männerstimme summen hörte. Überrascht blieb sie stehen und spitzte die Ohren. Es war eine raue, tiefe Stimme, gar nicht mal so schlecht. Sie folgte dem Klang, der von der Bank herkam. Neugierig beschleunigte sie ihre Schritte – wer mochte hier wohl singen? Als sie näher kam, sah sie, dass dort schon jemand saß. Jack.

„Oh“, sagte sie, etwas überrumpelt. „Hallo Jack.“ Jack?! Er sang?

Jack fuhr zusammen und suchte in der Dunkelheit nach ihr. „Melanie?“, fragte er und kniff die Augen zusammen – eine Geste, die viele machten, wenn sie etwas sehen wollten, aber aufgrund der Dunkelheit nichts erkennen konnten. Melanie hatte immer noch nicht verstanden, weshalb man die Augen zukniff, wenn man mehr sehen wollte.

„Ja, ich bin’s. Kann ich mich setzen?“

„Probier’s mal“, erwiderte Jack sarkastisch und erntete ein schiefes Lächeln von Melanie, die sich neben ihm auf der Bank niederließ.

Sie schielte auf seine Beine, wo ein kleines Heft lag, das hastig zugeschlagen worden war. „Du hast gerade gesungen“, bemerkte Melanie.

„Gut erkannt“, erwiderte Jack typisch trocken. Er musterte sie nun mit einem normalem Ausdruck – offensichtlich hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt.

Melanie verdrehte die Augen. „Du singst. Das wusste ich nicht. Sind das Songtexte?“ Sie deutete auf das Heft auf seinem Schoß.

Jack runzelte verdutzt die Stirn, dann sah er auf das Heft hinab. Wenn sich Melanie nicht täuschte, wurde er tatsächlich rot. „Ja, sind sie“, murmelte er.

„Ich nehme mal an, ich darf sie nicht lesen?“, drängte Melanie neugierig, aber Jack tat, als hätte er die Aufforderung nicht verstanden.

„Nein, die sind noch nicht fertig“, antwortete er und legte das Heft beiseite. „Konntest du auch nicht schlafen?“, machte Jack einen abrupten Themawechsel.

Melanie nickte und beschloss, dass sie ihm die Texte ein anderes Mal abluchsen würde. „Ja … Du auch nicht?“

Jack nickte ebenfalls. „Ich finde den Gedanken schrecklich, dass Laura das durchstehen muss“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Melanie und nun meinte er das ernst, nicht nur, um das Thema zu wechseln.

Melanie betrachtete ihn von der Seite aus. Sein Haar war so dunkel wie die Nacht. „Ich kenne sie zwar nicht“, meinte sie, „aber das sollte niemandem passieren.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu:

„Wir werden sie retten.“

Jack lächelte. „Ich mag deine Entschlossenheit.“

„Ach ja?“ Sie grinste schelmisch. „Du kennst mich ja gar nicht wirklich.“

Er drehte sich zu ihr um, um sie besser sehen zu können. „Aber ausreichend. Und den Rest finde ich schon noch heraus.“

Melanie lachte. „Du machst das auf die radikale Tour, was?“ Jack zuckte bloß die Schultern.

„Wie lange bist du schon hier?“, wollte Melanie wissen. „Erzähl mal ein bisschen – ich kenne dich nämlich auch nicht, weißt du?“ Ich weiß bloß, dass du singst.

Jack hob einen Mundwinkel an. „Ich bin seit ich fünfzehn bin hier – also seit knapp zwei Jahren. Das ist nicht so lange her“, fügte er hinzu.

„Emma ist schon ihr ganzes Leben lang hier, glaube ich.“

Melanie hob die Augenbrauen. „Echt jetzt? Sie wurde hier geboren?“

„Naja, ich glaube es jedenfalls. Kannst sie ja mal fragen“, antwortete Jack und schaute in die Nacht hinein.

„Hm, okay …“ Melanie folgte seinem Blick.

„Zoé hat mich gefunden“, begann Jack nun zu erzählen. „Ich hing bei einem Portal rum und wäre beinahe in eine Prügelei geraten.“

Melanie grinste. „Ach ja, und dann hat dich Zoé – also das Mädchen da – gerettet?“, fragte sie belustigt.

Jack lachte auf. „Nein, nicht gerettet. Aber ich bin einfach mit ihr abgehauen, bevor es so weit kommen konnte.“

„Verstehe.“ Melanie tat, als würde sie ihm die Geschichte abkaufen. Als sie merkte, dass er nichts mehr hinzufügen wollte, meinte sie beiläufig: „Mich hat ja Daniel gefunden.“ Sie beobachtete seine Reaktion, doch sein Gesicht blieb starr. „Was meintest du mit dieser Bemerkung beim Reitunterricht?“

Jack warf ihr einen distanzierten Blick zu. „Welche Bemerkung?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Nicht wirklich.“

„Blödmann.“

„Ach ja?“

Melanie grinste. „Ja! Das haben wohl noch nicht viele Menschen zu dir gesagt, was?“

Jack schaute sie gespielt verletzt an. „Die meisten respektieren meine natürliche Coolness.“

„Verstehe“, erwiderte Melanie ironisch lachend. „Es geht hier darum, deine natürliche Coolness nicht zu verletzen. Tut mir ja leid, wenn es wehtut.“

Jacks Mundwinkel fuhren in die Höhe. „Das glaub ich dir nicht“, erwiderte er, sich auf den letzten Satz beziehend.

„Besser so“, konterte Melanie und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. Aber eigentlich ärgerte sie sich darüber, dass er etwas über Daniel wusste, was sie nicht wissen sollte. Weshalb benahm er sich so seltsam? Lag es an ihm oder an Daniel? Es könnte sein, dass er nur eifersüchtig war oder schlicht und einfach Streit hatte mit Daniel, aber was auch immer es war, sie wollte es herausfinden. Das war einfach ihre Art. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie viele Dinge sie in den wenigen Tagen im Land der Nacht schon herausfinden musste, oder besser: wollte. Einerseits lag das daran, dass die Leute hier unnatürlich viele Geheimnisse hatten, aber andererseits auch einfach daran, dass Melanie Geheimnisse mochte, ebenso gern, wie sie die Vergangenheit der Leute in ihrer Umgebung kennen wollte. Ironie eigentlich, wenn man bedachte, wie wenig Melanie von sich selbst preisgeben wollte.

Wieder sagte eine Weile lang keiner etwas, sie schaute in die Ferne und beobachtete die Lichtstrahlen der Sonne, die langsam im Wald auftauchten. Wenn sie ganz leise war, konnte sie das Rauschen des Meeres in der Ferne hören. Auch wenn sie nicht schwimmen würde, wollte sie sich gerne mal den Strand anschauen gehen – während des Trainings war Melanies Klasse ebenfalls nur bis zum Wald gekommen.

„Wie ist das mit diesen Fällen, Jack?“, fragte Melanie auf einmal. „Sind wir so ‘ne Art Detektivschule hier?“ Sie hatte nicht ganz begriffen, was John in seinem Büro gemeint hatte.

Jack grinste. „Ja, so ungefähr. Nur cooler.“ Er lachte, dann gab er ihr aber trotzdem eine brauchbare Erklärung. „Wir werden hier nicht ausgebildet, um Mathematik zu studieren oder Japanisch zu lernen, sondern um zu kämpfen. In unserer – dieser – Welt ist das um einiges wichtiger.“

„In meiner auch, glaub mir“, unterbrach Melanie ihn und er warf ihr einen fragenden Blick zu, bevor er fortfuhr: „Unsere Schule, eigentlich eher ein Campus, ist dafür da, dass wir der Polizei helfen, Fälle zu lösen. Wir gehen Gewalttaten oder Kriminalfällen nach und fangen Bösewichte. Ganz lustig, zwischendurch. Aus diesem Grund hat uns die Polizei weniger im Blick als andere Camps, was schon ein guter Fortschritt ist.“

„Verstehe.“ Offenbar konnte Jack doch etwas Vernünftiges von sich geben, dachte Melanie, während sie erneut den aufkommenden Morgen betrachtete. Jack war ebenfalls auf die Zeit aufmerksam geworden und erschrak, als er einen Blick auf die Uhr warf und sah, dass es bereits sechs Uhr war.

„Wir sollten wieder reingehen“, meinte er und erhob sich.

„Wenn du meinst.“ Da Melanie sowieso nicht mehr schlafen würde, war es ihr egal, wo sie den Rest des Morgens verbrachte.

Sie folgte Jack über die Wiese auf das Gebäude zu, in dem sie untergebracht waren. Auf leisen Sohlen huschte sie hinter Jack die Treppe hoch in den vierten Stock und lag noch eine Stunde lang wach im Bett.

Nicht alles, was Jack gesagt hatte, war vernünftig gewesen.

Denn an dem Morgen fragte sie Emma, wie lange sie schon im Land der Nacht lebte.

Sie waren früh genug aufgestanden und Melanie zog sich gerade ein dunkelrotes Top über, das knapp bis zu ihrem silbernen Gürtel reichte.

„Hey, Em ...“, begann sie vorsichtig. „Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie lange du schon hier bist?“

Emma wich ihrem Blick aus und interessierte sich überaus für ihre Haare. „Stimmt“, bemerkte sie knapp und flocht ihr Haar zu dem üblichen seitlichen Zopf zusammen.

Melanie hob fragend eine Augenbraue. „Und ...?“, hakte sie nach.

„Und was?“

„Wann bist du ins Land der Nacht gekommen?“

„Weiß ich nicht so genau“, erwiderte Emma scharf, offenbar fest entschlossen, es ihrer Mitbewohnerin nicht zu sagen.

Melanie runzelte verärgert die Stirn. Was war so schwierig daran, einfach ein Alter zu nennen? Sie wollte ja nicht das Datum und die Uhrzeit wissen. „Natürlich weißt du das“, erwiderte sie gereizt.

„Wieso willst du das wissen?!“, fauchte Emma sie an.

„Aus Interesse?“, meinte Melanie nun auch etwas lauter.

„Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich bin einfach schon eine Weile hier!“, rief sie aufgebracht. Sie rieb sich die Stirn und begann hektisch, sich zu schminken.

„Auf die Idee wär ich jetzt nie gekommen!“, entgegnete Melanie mit verärgert erhobener Stimme. „Gib doch einfach eine Antwort! Wie alt warst du? Ist das so eine schwierige Frage?“ Wenn sie wütend wurde, wurde sie zickig, das stand fest.

„Nein!“, schrie Emma sie an und Melanie zuckte zusammen.

„Wieso?“, rief Melanie zurück. Wütend über Emmas Sturheit nahm sie die Mascara in die Hand und trug sie ohne Spiegel auf.

„Weil es dich nichts angeht! Das kann dir doch vollkommen egal sein!“

„Es war ja nur eine Frage!“

„Schön!“, schnaubte Emma und wandte sich ab, bereit, zum Frühstück zu gehen.

Melanie starrte sie einen Moment lang bloß verblüfft an, bevor sie sich einen Ruck gab und Emma die Treppe herunterfolgte. Trotzig setzte sie sich neben Zoé, um nicht neben ihrer Zimmergenossin sitzen zu müssen; aber sie warfen einander während dem Frühstück dennoch giftige Blicke zu. Die angespannte Stimmung zwischen den beiden schien aber glücklicherweise außer Caroline niemandem aufgefallen zu sein. Diese jedoch warf Melanie einen fragenden Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Melanie runzelte verwirrt die Stirn und wich ihrem Blick aus. Sie hatte nun keine Lust, über den Streit nachzudenken. Das war alles zu komisch.

Die neun waren auf dem Weg zu John, den sie um acht Uhr trafen, um Anthony zu benachrichtigen.

Der Leiter wartete schon. Er schaute ernst in ihre Richtung, während sie, alle nebeneinander, auf ihn zukamen. Wie immer hielt er sich nicht mit Smalltalk auf, sondern drehte sich wortlos um und bedeutete ihnen mit einem Wink aus dem Handgelenk, ihm zu folgen. Er ging zügig über den Platz, wohlwissend, dass seine Schüler hinter ihm waren.

Anthony wohnte im Gebäude 1.1 im ersten Stock. John klopfte dreimal kräftig an die Tür und wartete, bis ihm geöffnet wurde. Melanie stellte sich nervös hinter Daniel. Sie hatte Anthony noch nie getroffen, jedoch genug über ihn gehört, dass sie die erste Begegnung ruhig noch etwas hinausgezögert hätte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als die Tür aufging und ein schlaksiger Mann im Türrahmen erschien. Mit einem leicht überheblichen Blick sah er auf John herab und sagte: „John. Schön, dich zu sehen.“

Melanie wäre beinahe in Lachen ausgebrochen, so wenig sah Anthony danach aus, dass er sich freute.

„Anthony. Unter anderen Umständen ganz meinerseits.“ Er nickte ins Büro hinter Anthony. „Können wir rein?“

Anthony hob sachte überrascht die Augenbraue. „Alle?“ „Alle“, bestätigte John.

Anthony seufzte. „Na gut. Kommt rein.“

Die neun Teenager und John zwängten sich in das schlicht eingerichtete Büro und warteten wieder einmal darauf, dass jemand das Wort ergriff. Melanie spähte über Sams Schulter auf den Schreibtisch und inspizierte das Fenster nebenan. Von dem Schreibtisch und dem Fenster abgesehen gab es nur noch einen Schrank, drei Stühle und einen Papierkorb zu sehen. Nichts, was sehr praktisch in einem Kampf war, dachte Melanie, die sich stets vorstellte, wie sie notfalls aus einem Zimmer fliehen konnte.

Diesmal war es John, der zuerst sprach. „Gestern kamen Daniel, Emanuel, Jack, Ramón, Sam, Zoé, Caroline, Emma und Melanie zu mir, um mir das hier zu zeigen.“ Das hier bezog sich auf den Brief, den Zoé John nun zusteckte und John an Anthony weiterreichte.

„Und das hier ist ...?“

„Ein Brief von Laura. Lies die Notiz am Briefende. Sie ist in Gefahr“, erklärte John.

Anthony nahm den Brief in die Hand. Er öffnete ihn desinteressiert und zerknitterte dabei eine Ecke. Dann schaute er den Brief an.

Und begann tatsächlich zu lachen. Er schüttelte sich vor Lachen und lachte und lachte einfach weiter.

Melanie hatte ja gedacht, dass er nicht besonders nett war, aber das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Daran war beim besten Willen nichts Lustiges zu finden! Auch John schaute Anthony entsetzt an und mit der Zeit schien dieser zu bemerken, dass es außer ihm keiner komisch fand. Er verstummte schlagartig.

„John! Was soll das?“, fragte er, wieder ernst, jedoch aufgebracht.

„Anthony! Jetzt reiß dich zusammen!“ John schnappte sich wutentbrannt den Brief, um vorzulesen, was Laura geschrieben hatte.

Doch er starrte nur auf das Papier und langsam klappte sein Unterkiefer herunter.

Stille herrschte, alle Augen im Raum waren auf John gerichtet, der den Blick nicht vom Brief wenden konnte und immer perplexer wurde.

Der Schock der Anwesenden war beinahe mit den Händen zu fassen.

„Was ist denn?“, wollte Emma schlussendlich wissen.

„Die Nachricht. Sie ist ... weg.“

Tigermädchen

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