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Shu-Ha-Ri und Cargo-Kult

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Ich erinnere mich noch recht gut an einen Lieblingsfilm meiner Kindheit. Ein schmächtiger, schwarzhaariger Junge steht vor einem Auto. Ihm gegenüber steht ein kleiner Japaner mit einem Schwamm in der Hand. „Auftragen rechte Hand, polieren linke Hand“, leitet der kleine Japaner ihn an. Dabei solle er das Atmen nicht vergessen, ergänzt der wunderliche alte Mann, dann macht er die Bewegung noch einmal vor. Er übergibt dem sparsam dreinschauenden Jungen den Schwamm und überlässt ihn dann seiner Aufgabe. Der Junge ist verdutzt, will er doch eigentlich Karate lernen und sein Lehrer, Mr. Miyagi, lässt ihn nun mit einer Aufgabe stehen, deren Sinn er nicht versteht. Diese Szene aus dem Film „Karate Kid“ ist ein schönes Beispiel für ein Prinzip namens Shu-Ha-RiShu-Ha-Ri. Dieses Konzept aus der Kunst des fernöstlichen Kampfsports ist auch bei der Einführung und Umsetzung von Arbeitsweisen und Methoden hilfreich.

Die erste Stufe ist Shu, was so viel heißt wie „erhalten“ oder „gehorchen“. In dieser Phase sollte das, was der Lehrmeister sagt, minutiös befolgt werden, auch wenn der Sinn sich noch nicht so ganz erschließt. Bei den meisten Dingen, die wir neu lernen, verstehen wir manche Zusammenhänge erst, wenn wir sie mechanisch angewendet haben. So wie Daniel Larusso, der etwas verwundert ist, aber seinem Lehrmeister vertraut und seine Aufgaben erfüllt. Damit trainiert er Bewegungsabläufe ein, und wird immer sicherer bei deren Ausführung.

Abb. 15:

Shu-Ha-Ri in Kanji geschrieben

Wenn die Regeln befolgt wurden und wirklich verinnerlicht sind, dann folgt die zweite Stufe. Ha heißt in etwa „frei werden“ oder „abweichen“. Hier werden die Abläufe angepasst auf die jeweilige Situation. Es wird experimentiert und neues ausprobiert. Nur, wenn vorher die Regeln ganz genau befolgt wurden und verstanden wurden, ist das Verständnis da, warum manche Abweichungen funktionieren und manche eher nicht. Im Film ist Daniel schließlich in der Lage, die gelernten Bewegungsabläufe auch in einem Karate-Umfeld anzuwenden. Hier erscheint er erst noch überrascht, dass die Bewegungen fast von allein fließen. Da er aber aus den grundlegenden Übungen weiß, was ein positives Resultat und was ein negatives Resultat ist, kann er auch einschätzen, ob die kleinen Abwandlungen, die er vornimmt, hilfreich oder eher hinderlich sind.

Die dritte und höchste Stufe ist schließlich Ri. Übersetzt steht dies für „trennen“ oder „abschneiden“. Dies ist die Stufe der Meisterschaft. Die Prinzipien hinter den Regeln sind in Fleisch und Blut übergegangen und das Variieren, Anpassen und Entwickeln neuer Regeln stellt für den Meister keine Hürde mehr dar. Mister Miyagi ist in der Lage, die Elemente des Karate ganz einfach in Übungen zu übersetzen, die er seinem Schüler Daniel aufgibt. Als Meister ist er in der Lage einzuschätzen, dass auch das Polieren des Autos Daniel helfen wird, ein besserer Karatekämpfer zu werden. Er hat seinen eigenen Stil entwickelt, der seiner Persönlichkeit und seiner Individualität entspricht. Den Weg dorthin muss Daniel erst noch gehen, aber vielleicht wird er eines Tages auch selbst ein Meister sein. Dann wird er sich wahrscheinlich losgelöst haben von der Technik des Mister Miyagi und seinen ehemaligen Meister vielleicht sogar überflügeln. Dies ist ihm aber nur möglich, wenn er die vorherigen Stufen erfolgreich gemeistert hat.

Die beiden Autoren des Scrumguides Ken SchwaberSchwaber, Ken und Jeff SutherlandSutherland, Jeff haben schon in den ersten Sätzen darauf hingewiesen, dass Scrum ein einfach zu verstehendes, aber schwierig zu meisterndes Rahmenwerk darstellt. Befolgt man die Regeln, die im Scrumguide festgelegt sind, so stehen die Chancen gut, dass Scrum funktioniert. Erst wenn die Elemente verstanden wurden, macht die Anpassung Sinn. Oftmals tendieren unerfahrene Anwender dazu, die Regeln aufzuweichen, wenn sie „weh tun“. Zum Beispiel, wenn Aufgaben innerhalb eines Sprints nicht fertiggestellt werden können oder wenn jeder im Team ein Spezialgebiet hat, für das er allein verantwortlich ist. Gleiche Gefahr gilt bei Kanban, wo sehr schnell das WIP-Limit bei unerfahrenen Anwendern in Frage gestellt und aufgeweicht wird.

Begibt man sich einmal in die – sehr aktive – agile Community, die in so gut wie jeder größeren deutschen Stadt vertreten ist, und hört man den Teilnehmern an den Diskussionen aufmerksam zu, so wird man viel Frustration bemerken. Vieles rührt von einer nicht sachgemäßen Anwendung der Frameworks her. Dann wird gerne vom sogenannten Cargo-Cult gesprochen.

Ursprünglich war der Cargo-Kult eine Bewegung aus dem Bereich der Fidschi-Inseln und Neuguinea. Hier trafen im zweiten Weltkrieg die Inseleinwohner, die zuvor sehr abgeschieden lebten, auf die US-Armee, die die Inseln als Basis nutzten. Sie errichteten provisorische Flughäfen und Landebahnen und warfen auch Lebensmittel und westliche Kleidung über der Insel ab. Die Einwohner beobachteten die merkwürdigen Fremden und sahen, dass sie auf komische Türme stiegen und so etwas wie Schalen auf den Ohren hatten. Sie winkten mit Stäben und ab und zu fielen von den Göttern gesandte Pakete vom Himmel oder große, stählerne Wesen kamen aus der Luft und aus ihren Mäulern kamen mehr Menschen und Lebensmittel.

Als die Amerikaner irgendwann die Insel verließen, wollten die Einwohner nicht auf den Reichtum aus der Luft verzichten. Um die Götter zur Rückkehr zu bewegen, bauten die Einwohner die Einrichtungen der Amerikaner nach, setzten sich Kopfhörern nachempfundene Konstruktionen auf den Kopf und winkten mit Stäben in den Himmel. Aber kein Paket segelte auf die Insel hinab und kein großes Wesen landete mehr auf den Inseln. Die Einwohner konnten das nicht verstehen, sie taten doch alles genauso, wie die merkwürdigen Fremden es zuvor auch getan hatten.

Der große Unterschied bestand darin, dass sie nicht verstanden, warum es funktionierte, wenn die Amerikaner in den Himmel winkten. Gleiches Risiko besteht auch bei der Anwendung von Methoden, deren Wirkweise man (noch) nicht durchschaut hat.

Häufig liegt die Ursache darin, dass unterschätzt wird, dass die Verwendung agiler Methoden auch Veränderung auf allen Ebenen mit sich bringt. Folglich werden dann zu Beginn nur auf Teamebene Methoden etabliert, die schnell auf organisatorische Grenzen stoßen. Werden diese Grenzen nicht durchbrochen, dann führt dies zu Frust und Resignation. Nicht selten endet das dann darin, dass die agilen Methoden wieder abgeschafft werden. Dies ist aber auf Dauer keine Lösung, weil die VUCA-Welt nach Agilität verlangt. Die Bereitschaft zur Veränderung und die Fähigkeit zu verändern, stellt eine wichtige Kompetenz dar.

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