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Bleibendes und Veränderliches

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Da ist jemand an der erforderlichen Selbstentwicklung gescheitert. Nicht jeder Schritt gelingt, so sehr man sich das auch wünschen mag. Seelische Zwiespälte und Grenzen liegen in jedem Mensch verborgen. Jede Wirklichkeit ist mehrschichtig, mehrdeutig und von Gegensätzen durchdrungen. Deshalb besitzt auch jede Situation einen Interpretationsspielraum und stellt jede Kultur andere Möglichkeiten bereit, darauf eine Antwort zu finden. Traditionale Gesellschaften gehen einseitiger und starrer mit der Wirklichkeit um. Es gibt nur dieses eine Leben, das als solches nicht hinterfragt werden kann. Moderne Gesellschaften betonen das Vielseitige und Vergängliche sozialer Umstände, und nahezu alles darf versucht und bezweifelt werden. Traditionale Kulturen fordern mehr ein und führen ihre Mitglieder. Moderne Umgebungen verlangen wenig und überlassen es dem Einzelnen, wohin es gehen soll und wie weit man damit kommt.

So oder so jongliert die eigene Wahrnehmung immer mit zwei Perspektiven. Eine Grundlage der Wahrnehmung ist ihr kultureller Hintergrund. Das heißt, sie besitzt quasi einen selbstverständlichen Horizont, sozusagen ihr festes Standbein, das im Konzert der unendlichen Möglichkeiten dennoch nur ein winziger Ausschnitt ist, und sie ist, abhängig vom kulturellen Hintergrund, in Maßen kreativ und anpassungsfähig.

Das Kreative hat einen besseren Klang, liegt der modernen Lebensauffassung näher. Für den heutigen Zeitgenossen gibt es immer eine Alternative. Jedes Ding kann so oder auch anders herum erlebt und behandelt werden. Hören Sie nur mal eine Zeit lang zu, wenn Kunden in einem Laden oder Gäste in einem Restaurant ihre Bestellung aufgeben. Angesichts des meist überwältigenden Warenangebots versetzt die ungebremste Flut an Sonderwünschen in ziemliches Erstaunen. Offenkundig geht es gar nicht darum auszuwählen, sondern persönlich bestätigt und bevorzugt zu werden. Oder lassen Sie sich schildern, wie mehrere Menschen eine bestimmte Situation erlebt haben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Raum und soziale Situation sind beileibe nicht für jeden Menschen dasselbe.

Individualität und das Nebeneinander verschiedener Standpunkte bildet daher nicht von ungefähr den Kern der modernen Lebensauffassung. Traditionelles Leben hingegen geht davon aus, dass sich Kollektive und Einzelne den Gegebenheiten unterwerfen. Dort ist das Leben ein Imperativ, kein Konjunktiv. Gefühle spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Die leidenschaftliche Liebe, jene sozusagen ultimative Selbstermächtigung des Individuums im Geist der europäischen Aufklärung und Romantik, besitzt in Gesellschaften, in denen der Einzelne den elementaren Kräften der Tradition ausgeliefert ist, keinen vergleichbaren Platz.

»Als ich nach Deutschland kam, fiel mir als erstes auf, wie frei die Menschen hier sind. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Und wie tolerant. Es schert niemanden, was eine Frau tut. Ich dachte, das ist das Paradies. Mittlerweile habe ich natürlich gelernt, auch hier gibt es Einschränkungen. Aber das sind andere und die sind beileibe nicht so gravierend für eine Frau wie in einer türkischen Kleinstadt. Hier darf ich meinen Gefühlen nachgeben und leben, wie ich will, auch wenn es meiner Familie vielleicht nicht passt.«

Ambivalenzen und Entwicklungen erzeugen aber hier wie dort widersprüchliche Bedürfnisse. Das beschert uns schwierige Aufgaben. Zur Erhaltung unseres Seelenheils sind wir angehalten, uns den Gegensätzen zu stellen, müssen ständig entscheiden, ob mal mehr das eine, mal das andere zu bevorzugen ist und ob eventuell beides zu seinem Recht kommen darf. Aus Unterschieden entstehen zwangsläufig Spannungen, aber Widersprüche dürfen auch nicht zu groß werden. Sonst gefährdet es das persönliche Gleichgewicht und die Ausgewogenheit der Beziehung. Gegensätze verlangen immer auch nach Kompromissen, die für Ausgleich sorgen. Die vordringliche Aufgabe jedes Einzelnen, jeder Beziehung und Funktion jeder Kultur ist es daher, den natürlichen Kontrast zwischen Erhaltung und Veränderung, zwischen Eigenheit und Gemeinsamkeit wieder erneut in ein passendes Verhältnis zu setzen.

Liebesmühen

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