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Scham und Schuld
ОглавлениеEine zentrale Rolle im Zusammenhang leidenschaftlich bedingter, zwangsläufiger Transformationen spielt, neben der grundlegenden Gewöhnung an das vorher Ungewöhnliche, die Erfahrung von Scham und Schuld. Scham und Schuldempfindungen verlangen eine Beziehungskultur, die es zulässt, über diese Empfindungen hinauszuwachsen, und gleichzeitig so sensibel bleibt zu erkennen, wann es für eine Beziehung eher förderlich ist, Schamgrenzen einzuhalten, und wann eine Schuld, die zunächst von einer Person ausgeht, einen Ausgleich von beiden Partnern verlangt.
Scham schützt auf komplizierte Weise die Integrität der Person. Der beschämte Mensch gerät zunächst in einen gehemmten Zustand, der von überflutenden Empfindungen begleitet wird. Ein unaussprechliches Geschehen gräbt sich tief in die Seele und will verborgen werden. So zwingt die Scham zur Verheimlichung, quält aber die beschämte Person doppelt, weil sie die unangemessene Erfahrung nicht teilen kann. Das Wieder-ins-Wort-Finden braucht ein einfühlsames Gegenüber, der anblicken und darüber sprechen kann, was dem Beschämten nicht möglich ist, selbst auszudrücken und zu betrachten.
Scham enthält auch die Enttäuschung über sich selbst. Ich habe eine an mich gestellte Erwartung nicht erfüllt. Denn Scham begründet sich ja nicht einfach durch eine Tatsache, sondern entsteht durch eine moralische Bewertung, die dem Blick oder der Tat innewohnt. Etwas darf nicht gesehen oder getan werden. Schamreaktionen verlangen von den unmittelbar Beteiligten ein sofortiges Innehalten und den gesenkten Blick.
Ungebremste Handlungen, die eine Schamgrenze spürbar überschreiten, setzen den Akteur ins Unrecht. Er macht sich schuldig, verantwortlich für eine entwürdigende Szene zu sein. Wobei zum Schuldenausgleich bereits die sichtbare Beschämtheit und nachträglich einsetzende Hemmung des Täters gehören kann. In Fällen zufälliger Grenzüberschreitungen ist es damit meist wieder getan. Zeigt der Täter oder nicht zum Anschauen Befugte kein Schuldempfinden, beziehungsweise wird seine schamlose Handlung als nachdrücklich entwürdigend wahrgenommen, führt es zu Selbstabwertungen des Beschämten, zu Distanzierung und vielleicht auch zu Rachegelüsten.
Eines Tages passiert, was nicht passieren sollte. Ein Ehemann, gehemmt und in sexuellen Dingen eher sprachlos, wird von seiner Frau dabei ›ertappt‹, wie er sich selbst befriedigt. Sie lacht hysterisch und rennt aus dem Zimmer, er erstarrt und weiß nicht damit umzugehen. Er bleibt hilflos in seinem Arbeitszimmer sitzen. Was die Sache noch schlimmer für ihn macht, ist, dass sie nach einer Weile an die Tür klopft und ruft: »Bist du endlich fertig? Kommst du, unten steht das Abendessen, ich habe Hunger.« Er rennt danach durch die Küche, brüllt sie an, sie sei eine saudumme Kuh und sie könne sich ihren Scheißfraß in die Haare schmieren und verlässt Türen schlagend das Haus. Die Nacht verbringt er auf dem Sofa im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen redet niemand ein Wort, weder der beschämte Ehemann noch die beschuldigte Ehefrau. Man schiebt sich stumm aneinander vorbei und er geht ohne Frühstück zur Arbeit.
Die Moralmerkmale Scham und Schuld stehen in der Liebe auf wackeligen Beinen. Die Praxis der Liebe beruht auf einer ineinander verschlungenen und sensibel zu handhabenden Doppeldeutigkeit: Einerseits überschreiten zwei freiwillig eine Schamgrenze, die für andere weiter besteht. Sie geben sich füreinander frei. Das ist ein Hauptkriterium der Paarbildung. Andererseits steht das Liebesobjekt auch innerhalb der neu geschaffenen Intimität nicht zur freien Verfügung. Je nach dem, wie die gemeinsame Gratwanderung jener schamlosen Schamhaftigkeit gelingt und welche Befriedigung oder welches Gefühlselend das nach sich zieht, erhöht sich oder fällt der Selbstwert der Beteiligten.