Читать книгу Dämonenschließer - Diana Schwarzentraub - Страница 10

Markttag

Оглавление

Reander schnarchte leise, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Sofort überfiel mich der Hunger. Ich setzte mich auf und stellte zu meiner Enttäuschung fest, dass außer mir noch niemand wach war. Mein Magen knurrte protestierend. Da eine strahlende Sonne den Schlafsaal erhellte, beschloss ich, dass es für alle an der Zeit war, aufzustehen, und verkündete lautstark: „Frühstück!“

„Was gibt es denn?“, fragte Reander verschlafen.

„Das, was ihr uns besorgt!“, trällerte ich und dachte dabei an unsere Vorräte, von denen nur noch ein kaum nennenswerter Rest übrig war.

Reander drehte sich brummend um. Erst als von Rob gar keine Reaktion kam – ich hatte doch mindestens mit einem Augenrollen gerechnet –, bemerkte ich, dass sein Bett leer war. Er war nicht da. Irgendwann musste doch auch er mal schlafen! Jedenfalls war ich mit meinem Hungerproblem auf mich allein gestellt. Vor mich hingrummelnd stand ich auf und marschierte zügig Richtung Ausgang.

Als ich auf halbem Weg war, öffnete sich die Tür, und die stämmige Frau vom vergangenen Abend, Lina, balancierte ein voll beladenes Tablett ins Zimmer. „Einen schönen Gruß von Andeers. Ihr sollt euch erst mal ordentlich stärken!“, sagte sie und stellte ihre Last auf einem kleinen Tisch in der Ecke ab, an dem vier Stühle standen.

„Danke! Das riecht ja köstlich!“, grinste ich sie begeistert an, und sie erwiderte das Lächeln, bevor sie sich einen Haufen Laken, der in einer Ecke auf dem Boden gelegen hatte, unter den Arm klemmte und den Raum verließ.

Ich schnupperte noch einmal und setzte mich schnell. Auf dem Tablett standen drei dampfende Teetassen und es gab Pfannkuchen mit Apfelmus. Begeistert nahm ich mir reichlich, lehnte mich zurück, schlug die Beine übereinander und genoss.

Es dauerte keine Minute, bis sich Reander, der nun gar nicht mehr so verschlafen aussah, schnuppernd hinzugesellte. Unter mehreren „Hmmms“ und „Ahhs“ verputzten wir so viel wir konnten, wobei immer noch eine große Portion für Rob übrig blieb.

„Wo ist Robert?“, fragte Reander, der dessen Abwesenheit gerade erst bemerkt zu haben schien.

Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung!“

„Wie lange ist er denn schon fort?“

„Keine Ahnung!“

„Hatte er noch etwas vor?“

„Keine Ahnung!“, wiederholte ich zum dritten Mal und nun schon leicht genervt. Ich hatte keine Ahnung, was in Robs verdrehten Hirnwindungen so vorging.

„Der Junge ist ein ständiges Rätsel!“, intonierte Reander meine Gedanken. Er seufzte und sah besorgt aus.

In dem Moment klopfte es kurz an der Tür, und Andeers kam herein. „Guten Morgen! Bereit, aufzubrechen?“, fragte er.

Ich sah mich suchend um, auch wenn ich wusste, dass das nichts brachte. „Was machen wir? Warten wir?“, wandte ich mich an Reander.

Auch er schaute sich unschlüssig um. „Nein!“, sagte er schließlich. „Es ist nicht nötig, dass Robert dabei ist. Wir besorgen, was wir brauchen, und kommen dann wieder hierher zurück.“

Ich nickte. Wenigstens würde ich dann meinen Rucksack, mit dem ich seit gestern auf Kriegsfuß stand, nicht mitnehmen müssen. „Wir sind sofort fertig!“, versicherte ich Andeers, der geduldig in der Tür wartete, während ich aufsprang, provisorisch mein Bett machte, mir etwas Wasser ins Gesicht spritzte und dann unser Gepäck – seine Umhängetasche mit den Büchern nahm Reander natürlich mit – in einer Ecke stapelte, damit es hier niemendem im Weg war. Robs Sachen waren nicht dabei.

Wir schlossen uns Andeers an und folgten ihm durch die Gebäude der Universität, die von einer strahlenden Sonne beschienen wurden. Zwischen ihnen liefen immer wieder Universitätsangehörige hin und her. Viele trugen Roben, alle waren adrett und gut gekleidet. Ganz im Gegensatz zu mir. Meiner weißen Bluse und beigen Hose sah man die Reise an. Meine Sachen starrten vor Schmutz. Ich warf einen Seitenblick auf Reander. Er besaß erstaunlicherweise die Fähigkeit, immer etwas weniger heruntergekommen auszusehen als wir anderen.

Wir verließen schließlich den Universitätskomplex durch das große Tor. Von hier oben hatte man einen wunderbaren Ausblick über die steinerne Stadt. Ich glaubte sogar, bereits den Marktplatz erkennen zu können. „Diese Stadt ist beeindruckend!“, stellte ich fest. Es war viel leichter, so etwas zu sagen, wenn Rob nicht in der Nähe war und man dafür nicht mit einem Kopfschütteln oder Augenrollen bestraft wurde.

„Ja, das ist sie“, antwortete Andeers. „Die Gebäude sind alle aus dem rotbraunen Gestein des Solberges erbaut. Deshalb fügt sie sich so gut in das Bild ein. Wenn man aus einem bestimmten Winkel auf die Stadt zuläuft, ist sie praktisch unsichtbar. Die Konstruktion stammt aus Zeiten, als wir uns noch im Krieg mit unseren drei Nachbarstaaten befanden. Die Universität selbst war ursprünglich als eine Art Burg gedacht.“

„Ist es gefährlich, hier zu leben? So dicht am Berg, meine ich. Gibt es Erdrutsche? Der Großteil des Solberges ist ja komplett vegetationsfrei“, fragte ich interressiert.

„Eigentlich nicht. So etwas kommt eher an der Westseite vor. Dort ist die Steigung viel steiler. Soweit ich weiß, hatte Kaddiss damit noch keine Probleme.“

„Ihr sagtet, der Schmied hier sei ... schwierig?“, erkundigte sich Reander.

„Er ist ein Halsabschneider! Aber wenn man ihm mit der geballten Macht der Universität droht, wird er ganz zahm. Auf die Länge des Hebels kommt es an, wie man so schön sagt.“

Andeers war ein interessanter Gesprächspartner, und so kam es mir vor, als seien nicht mehr als ein paar Minuten vergangen, als wir den Marktplatz schließlich erreichten. Ich hatte noch nie eine solche Ordnung gesehen. Nicht an einem Markttag. Die Stände standen exakt nebeneinander. Die Gassen dazwischen waren alle gleich breit. Alles wie an einem Lineal ausgerichtet. Ebenso wie die Waren auf den Tischen.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, und der Marktplatz war voller Menschen. Die Ordnung hier hatte allerdings keinen Einfluss auf den Lärmpegel. Es war laut. Verhandlungen dort, Streitgespräche hier. Andeers ging mit uns sicheren Schrittes zwischen den Ständen entlang. Ich tauchte ein in die lebendige Mischung aus den Gebäuden, den Ständen und Menschen und bekam nicht mit, dass Lina plötzlich vor uns stand.

„Hallo!“, begrüßte sie uns freundlich und strahlte Andeers an. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Lina schien es immer zu schaffen, seinem ernsten Gesicht ein Lächeln abzuringen.

„Hallo, Lina! Schon fertig mit deinen Einkäufen?“ Andeers machte eine Kopfbewegung in Richtung des prall gefüllten roten Weidenkorbes, der an Linas Arm hing.

Sie winkte ab. „Noch lange nicht. Ich muss doch noch Kirschen kaufen!“, sagte sie augenzwinkernd.

Andeers Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Du backst meinen Lieblingskuchen?“

„Hab ich dir doch versprochen!“

„Hmmm!“, machte Andeers und rieb sich demonstrativ den Bauch.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel über uns. Ein Schatten zog über den Boden. Überrascht hob ich den Blick. Ein großer Vogel kreiste über dem Platz. Ich konnte ihn gegen die Sonne nur als schwarzen Schemen erkennen, aber etwas stimmte nicht. Er war zu groß. Was für ein Vogel sollte das sein?

Reander und die beiden anderen waren ebenfalls aufmerksam geworden und beobachteten, ebenso wie zahlreiche weitere Marktbesucher, wie sich das Wesen über uns in einer kreisenden Bewegung immer weiter hinunterschraubte. Plötzlich wurde mir schlecht, und mein Magen verkrampfte sich. Mir war zunächst gar nicht klar, warum. Dann traf mich die Erkenntnis. Es war diese übernatürliche Präsenz, die ich schon einmal gefühlt hatte. Im Wald bei Mankindra. Als uns der Dämon angegriffen hatte ...

Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Ich starrte zu dem gefiederten Dämon hoch. Jemand schrie, laut und schrill, als der schwarze Vogel in einen Sturzflug überging.

„Reander! Das ist einer von ihnen!“, rief ich.

Panik brach aus. Alle auf dem Platz stürzten in wilder Flucht durcheinander.

„Lauft! Geht in Deckung!“, rief Reander und wedelte im Rennen wild mit den Armen. Ich heftete mich an seine Fersen und hoffte, ihn in dem chaotischen Durcheinander nicht zu verlieren.

Dann erreichte der Vogeldämon die Menschenmenge. Nur wenige Meter neben uns bremste er seinen Sturzflug ab, indem er die Flügel weit ausbreitete, und packte mit den Krallen zu. Er bekam einen Mann zu fassen, dessen entsetzten Schrei er augenblicklich zum Verstummen brachte.

Mit dem rasiermesserscharfen Schnabel hackte er um sich und verletzte zwei weitere Marktbesucher tödlich, die das Pech hatten, in seine Nähe zu gelangen. Der Lärm auf dem Platz war ohrenbetäubend. Schreie. Scheppern und Krachen, als die Menschen in wilder Panik übereinander und über die Stände fielen. Das hektische Durcheinander versetzte den Dämon in Rage. Er hüpfte herum, hackte und stieß mit seinem Schnabel zu.

Jemand prallte gegen mich und hätte mich beinahe von den Füßen gerissen. Der Moment, den ich brauchte, um mein Gleichgewicht wiederzufinden, reichte aus, um Reander aus den Augen zu verlieren. Ich wurde panisch, rief seinen Namen, aber das hatte keinen Sinn, denn ich war nicht die Einzige, die nach jemandem rief oder schrie.

Kurz entschlossen kauerte ich mich unter einem der Tische zusammen, konnte mich vor Angst kaum bewegen. Und in diesem Moment wurde mir mit schmerzlicher Klarheit bewusst, dass Rob nicht da war.

Niemand würde diesen Dämon aufhalten!

Niemand konnte diesen Dämon aufhalten!

Es blieb mir und allen anderen Menschen hier nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis er genug hatte, bis er aufhören würde, oder bis er jeden Einzelnen getötet hatte. Wir waren geradezu lächerlich hilflos. Ich wünschte Rob wäre hier. Erst jetzt begriff ich, wie sicher wir in seiner Nähe waren. Er war der Einzige, der eine Handhabe gegen diese Plagen besaß. Wo war er nur? Wo?

Der Dämon, der auf das kleine Holzdach eines der Stände geflogen war, stieß sich ab und landete in einem ganzen Pulk von Menschen in meiner unmittelbaren Nähe. Neue Schreie. Ich hielt mir die Ohren zu, wollte das nicht mehr hören, konnte es nicht ertragen. Aber ich musste es. Ich konnte die Augen nicht schließen und wünschte mir, ich hätte es getan, denn in diesem Moment rollte ein zerfetzter roter Weidenkorb an meinem Versteck vorbei.

Verzweifelt schlang ich die Arme um meine Knie und machte mich so klein ich konnte. Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich wartete. Wartete, dass dieses Grauen endlich vorbeiging.

Und dann ... war es vorbei.

Der Dämon hob vom Boden ab. Er hielt etwas in seinen Fängen, was ich mir nicht genauer ansehen wollte. Er drehte noch eine Runde über den Platz und flog dann mit seiner Beute davon.

Es dauerte noch etwa eine Minute, bis die Menschen begriffen, dass er weg war. Dann wurde es plötzlich umheimlich still. Ein leises Weinen hier und da, das aber nach dem Geschrei und Getöse kaum wahrnehmbar war. Langsam kroch ich aus meinem Versteck und sah mich vorsichtig, wenn auch nicht allzu genau um. Der ganze Platz war ein Trümmerfeld. Die Menschen fingen an, einzelne Namen in die Stille zu rufen.

„Eric!“

„Martha!“

„Joana!“

Jemand packte mich an der Schulter, drehte mich zu sich herum und drückte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb. Als ich ihn erkannte, erwiderte ich Reanders Umarmung so kräftig ich nur konnte. Es war ihm nichts passiert. Erleichterung machte sich in mir breit.

„Es geht dir gut! Gott sei Dank!“, sprach Reander aus, was auch ich dachte. Dann ließ er mich los und sah sich um. „Schrecklich! Lass uns sehen, ob wir irgendwo helfen können! Hast du Andeers und Lina gesehen?“

Ich zuckte zusammen, gab ihm keine Antwort und schaute mich stattdessen hektisch um. Sie waren nirgends zu entdecken. Der zerstörte rote Weidenkorb füllte meinen Verstand aus, bis ich kaum noch klar denken konnte.

Reander steuerte über die Trümmer hinweg auf die Stelle zu, wo der Vogeldämon zuletzt zugeschlagen hatte.

„Warte! Lass mich nicht allein!“, stieß ich schnell hervor und krallte mich mit beiden Händen an seinen Oberarm. Ich konnte jetzt nicht alleine bleiben, denn ich fühlte mich in diesem Moment ohnehin schon so einsam. Ungeschickt stolperte ich hinter ihm her. Dann blieb Reander stehen und löste vorsichtig meine Finger von seinem Arm, um sich zu bücken und den Puls von einem schrecklich entstellten Körper vor uns zu ertasten. Er fand ihn nicht.

Zitternd sah ich mich um. Mein Blick blieb an einer großen Gestalt mit langen schwarzen Haaren hängen. „Andeers!“, rief ich erleichtert und lief auf ihn zu.

Als ich sein Gesicht sah, hielt ich automatisch wieder an. Er stand ganz ruhig da und starrte auf einen Punkt einige Schritte vor ihm. Sein Gesicht war kreidebleich, und seine Augen schienen gar nichts fokussieren zu können. Er bewegte keinen einzigen Muskel.

Ich ging noch einen Schritt auf ihn zu und folgte dann mit den Augen seinem Blick. Schnell riss ich die Hände hoch und hielt sie mir vors Gesicht. Ich wollte das nicht sehen. Ein Haarknoten, ein Rock und Blut. So viel Blut! Andeers starrte mit versteinertem Gesicht auf die Überreste von Lina, der kleinen Frau, die ihn immer zum Lächeln gebracht hatte. Mich durchzuckte ein regelrecht körperlicher Schmerz bei diesem Anblick. Ich fühlte mich so hilflos. Langsam ging ich zu Andeers hinüber und legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Er gab keine Reaktion von sich.

„Andeers!“, sagte ich leise. Nichts. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. „Reander!“, rief ich verzweifelt.

Kurz darauf war er an meiner Seite. Mit einem schnellen Blick erfasste er die Situation, legte dann Andeers den Arm um die Schultern und steuerte ihn sanft, aber bestimmt von dem grauenhaften Anblick fort. „Wir bringen ihn zurück in die Universität!“, sagte Reander. Ich folgte den beiden. Nur fort von hier! Den Geruch nicht mehr ertragen müssen, das Blut nicht mehr sehen, das Weinen nicht mehr hören. Verstört klammerte ich mich an Andeers Seite, auch wenn er es nicht bemerkte.

Oben vor den Toren der Universität hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Unzählige entsetzte Gesichter starrten auf die Trümmer des Marktplatzes, der von hier aus zumindest teilweise zu sehen war. Die einst so auffällige Ordnung dort unten war dahin. Das Chaos herrschte.

Stumm traten die Angehörigen der Universität zur Seite, als sie in Andeers blasses Gesicht blickten. Sie machten uns Platz und niemand wagte es, uns anzusprechen.

Im Innern steuerten wir automatisch den Schlafsaal an, denn wir wussten nicht, wohin wir uns sonst hätten wenden sollen. Ich hielt die Tür auf, und Reander führte Andeers zu einem der Betten und setzte ihn darauf ab. Dieser ließ alles regungslos über sich ergehen.

Ich kauerte mich ans andere Ende des Bettes und starrte ihn an. Reander beugte sich zu Andeers hinunter und schüttelte ihn ganz leicht an der Schulter. „Andeers! Hörst du mich!? Andeers!“

Dieser schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, sagte er: „Ja, ich höre!“ Dann schob er Reandes Hände zur Seite und stand schwankend auf. „Entschuldigt mich bitte!“, sagte er betonungslos und verließ dann den Raum.

Ich sah Reander an. „Das ist schrecklich!“, hauchte ich. Er nickte und ließ sich dann müde neben mir aufs Bett sinken. Minutenlang starrten wir einfach vor uns hin. Es war mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Drei Dinge manifestierten sich immer wieder zwischen dem Ungreifbaren:

Warum?

Wir müssen das beenden!

Wo ist Rob?

In einer Endlosschleife liefen diese Gedanken immer und immer wieder ab. Schließlich sprach ich einen davon aus.

„Reander, wir müssen das beenden!“

„Ja! Das müssen wir. Und das werden wir!“

„Aber wie? Wir stecken in einer Sackgasse!“, sagte ich verzweifelt.

„Wir werden es beenden!“, wiederholte Reander. Dann stand er auf. „Ich berichte dem Dekan, was sich zugetragen hat. Er sollte es wissen, denn er ist derjenige, der mit Fragen bestürmt werden wird.“

Damit verschwand er durch die Tür, und ich war allein. So kam ich mir auch vor. Schrecklich allein. Weinend rollte ich mich auf dem Bett zusammen. Immer wieder versuchte ich, die grauenvollen Bilder, an die mein Verstand sich erinnern wollte, fortzuschieben. Mein Blick wanderte zu den Resten unseres Frühstücks und der unberührten Tasse mit Tee. Alles stand noch genau so da, wie wir es heute Morgen verlassen hatten. Der Anblick verdeutlichte mir mit Macht, dass die Person, die uns so herzlich bewirtet hatte, nie wiederkommen würde. Sie war nicht mehr da, ebenso wie die Person, der der dritte Teebecher gegolten hatte. Irgendwann schlief ich ein.

Ich schreckte hoch, als jemand meine Schulter berührte, schlug die Augen auf und schaute in Reanders Gesicht. „Wie geht es dir?“, fragte er besorgt.

„Ich weiß nicht!“, antwortete ich. Das war die Wahrheit. „Wie geht es Andeers?“, fragte ich schnell.

„Er ist verschwunden. Ich habe ihn nicht mehr gesehen.“

„Er tut mir so leid. Er hatte scheinbar eine sehr enge Bindung zu Lina. Es muss schrecklich sein für ihn!“, sagte ich leise.

Reander nickte.

Ich arbeitete mich schwerfällig aus dem Bett. Draußen war es jetzt beinahe dunkel. „Wie lange habe ich denn geschlafen?“, fragte ich erschrocken.

„Du hast nur ein paar Stunden geschlafen!“, erwiderte Reander. „Dein Körper hatte die Ruhe nötig!“

„So lange?“

Ich hatte keine Zeit mehr, mich darüber zu wundern, denn in diesem Augenblick wurde die Tür zum Schlafsaal aufgerissen und Rob stürmte herein. Er war verschwitzt und außer Atem. In der Öffnung blieb er stehen und starrte uns an. Seine Augen fuhren hektisch über Reanders und meine Züge und untersuchten systematisch unsere Körper. Dann schloss Rob die Augen und stützte sich schwer atmend auf seine Oberschenkel. Alle Kraft schien ihn verlassen zu haben, er taumelte wieder aus der Tür heraus und ließ sich draußen an der Wand zu Boden gleiten.

Ich warf Reander einen fragenden Blick zu, den dessen Augen widerspiegelten. Dann ging ich schnellen Schrittes zu Rob hinaus. „Rob! Zum Glück ist dir nichts passiert!“ Plötzlich war ich unfassbar erleichtert über diesen Umstand. Rob zuckte zusammen. Er sah mich nicht an, stützte das Gesicht in seine Hände. „Dir ist doch nichts passiert?“, fragte ich schnell, weil ich mir sein Verhalten nicht erklären konnte.

Er schüttelte den Kopf, nahm dann die Hände herunter und sagte: „Es geht euch gut! Ihr seid nicht verletzt?“

Irritiert nickte ich. Rob atmete tief ein und aus und lehnte dann erschöpft seinen Kopf gegen die Steinwand.

Ich setzte mich ihm gegenüber im Schneidersitz. „Wo bist du denn gewesen?“ Diese Worte kamen leise über meine Lippen und dennoch intensiver, als ich beabsichtigt hatte.

Robs Gesicht zuckte. „Es tut mir leid!“, sagte er, ohne mich anzusehen.

Ich schaute ihn an und sah den Schmerz in seinen Augen. Gab er sich etwa die Schuld an dem, was heute passiert war? Glaubte er seine Abwesenheit ... Die Antwort darauf las ich in seinen Augen. Das wollte ich nicht. Was ich gesagt hatte, musste für ihn wie ein Vorwurf geklungen haben. Und vielleicht war er das in diesem Moment sogar gewesen. Natürlich wäre die Sache auf dem Marktplatz anders abgelaufen, wenn er dabei gewesen wäre. Und ich hatte ihn mir ja auch sehnlichst herbeigewünscht. Aber wären Lina und all die anderen dann noch am Leben? Wäre er noch am Leben? Wie konnte ich von ihm verlangen, sich für die anderen, für mich zu opfern?! Ich war so dumm und hätte mich ohrfeigen können. Er konnte doch nicht immer überall sein, wo ein Dämon angriff. Er war allein und sie waren ... viele, vermutete ich jedenfalls.

„Rob!“, setzte ich an, wollte irgendetwas sagen, mich entschuldigen, aber er winkte ab.

„Du hast Recht! Ich hätte hier sein sollen!“ Damit erhob er sich und marschierte den Gang hinunter.

„Nein, Rob, das meinte ich nicht, ich ...“, stammelte ich, aber er drehte sich nicht mehr um. Resigniert stützte ich den Kopf in die Hand. Das hatte ich nicht gewollt. Reander erschien in der Tür. „Das wollte ich nicht!“, sagte ich verzweifelt.

„Das weiß ich! Und er weiß es auch! Robert macht sich diese Vorwürfe, egal, was du zu ihm sagst!“, meinte Reander ernst.

Dieser grauenhafte Tag wurde immer schlimmer, auch wenn er nun bald zu Ende war. Die Sonne ging bereits unter.

„Wir sollten schlafen und morgen dem Dekan unsere Hilfe anbieten. Wenn er sie nicht benötigt ... sollten wir aufbrechen!“

Ich nickte und Reander half mir hoch. Gehorsam legte ich mich wieder auf das Bett, von dem ich gerade erst aufgestanden war. Sicher würde ich nicht schlafen können.

Bald erfüllten Reanders ruhige Atemzüge den dunklen Raum. Ich dachte an Lina und Andeers und an Rob. Ich fühlte mich miserabel. Mein Körper war noch immer erschöpft von den Ereignissen des Tages, der Angst, aber mein Geist war hellwach. Zu gerne hätte ich ihn zum Schweigen gebracht.

Als ich mich zum etwa zwölften Mal unruhig von einer Seite auf die andere drehte, wurde leise die Tür geöffnet und Rob kam herein.

Regungslos wartete ich, bis er sich auf eines der Betten gelegt hatte und sagte dann leise in die Dunkelheit: „Es tut mir leid, Rob! Was ich da gesagt habe, ich habe es nicht so gemeint. Ehrlich!“

Eine Antwort bekam ich nicht und hatte somit noch reichlich Zeit, mir noch viel mehr Gedanken zu machen. Als ich nach Stunden endlich einschlief, war es eine Wohltat.

Dämonenschließer

Подняться наверх