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5. Kapitel Blaues Blut erwünscht

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Am Sonntagnachmittag kam Rudolf Büttner mit seiner kleinen Schwester Gisela in die Kaffeestube Zum Stern. Er trank Mocca, Gisela Kakao und beide aßen Kirschkuchen.

Jetta servierte selbst. Sie betrachtete Fräulein Büttner neugierig, ihr Bruder hatte eine Menge von ihr erzählt. Nun, sie hatte blonde Zöpfe, zu Schnecken über den Ohren festgesteckt, eine Kinderfrisur. Geschminkt war sie überhaupt nicht, sondern recht blank gewaschen, ihre Nase spiegelte geradezu. Ein kleines bisschen Puder hätte nicht geschadet. Davon abgesehen wirkte sie lieb und freundlich und ebenfalls neugierig.

Rudolf hatte ihr gewiss auch von Jetta erzählt. Aber was? Dass sie die Schule schwänzte, um sich wahrsagen zu lassen? Dass sie sich hinten in der Autodroschke küssen ließ?

Nein, so schaute Gisela sie nicht an. Rudolf hatte wohl nicht gelogen – Jetta konnte sich schwer vorstellen, dass er log –, jedoch einiges weggelassen.

Sie versuchte auf ihren Wegen zwischen der Küche und der Gaststube herauszufinden, ob sie verliebt war. Die Antwort schien zu lauten: einerseits ja, andererseits nein.

An Rudolfs Anblick konnte man nichts aussetzen. Er sah sehr hübsch aus mit seinem klaren, leicht gebräunten Gesicht, der kurzen Nase, dem runden Kinn. Sein dunkelblondes Haar war in der Mitte gescheitelt und leicht wellig. Den Bart trug er nach der letzten Mode: Er begann ganz dicht unter der Nase und reichte bis zur Oberlippe, nach unten breiter werdend wie ein Segel, sodass er an die Mundwinkel tippte.

Ferner war er freundlich und friedlich, besonnen und vernünftig, offen und anständig. Und da lag der Haken. Jetta fürchtete, er würde ähnliche Charaktereigenschaften auch von ihr erwarten oder sogar verlangen. Zumindest enttäuscht sein, wenn er sie nicht vorfand. Seine Schwester hatte er bereits leise ermahnt, gerade zu sitzen und sich den Kakao aus den Mundwinkeln zu wischen – Letzteres in etwas vorwurfsvollem Ton. Er meinte wohl, darauf hätte sie selber kommen müssen. Nun ja, er wollte vor allem bei Jettas Eltern einen guten Eindruck machen. Aber trotzdem: Was konnte das für ein Leben werden? Womöglich würde er Jetta verbieten, sich zu schminken?

Adolf und Magda bemühten sich in die Gaststube, um Rudolf und seine Schwester zu begrüßen und ein wenig mit den beiden zu plaudern. Jetta konnte nur hoffen, dass Rudolf seine Ehrlichkeit überwand und sich an die Geschichte von Adas beinah gemaustem Handtäschchen hielt, die sie ihm am Telefon auseinandergelegt hatte.

„Sie studieren in Hamburg, Herr Büttner?“, fragte Addi, immer ein bisschen in der Defensive den studierten Leuten gegenüber. (Er argwöhnte gern, sie hielten sich für etwas Besseres und glaubten, sie wären ihm überlegen.) „Sind Sie denn Hamburger?“

„Nein, aus Flensburg. Da sind wir geboren, meine Schwester und ich. Aber unsere Eltern sind beide letztes Jahr an der Grippe gestorben, deshalb wohnen wir jetzt bei einem Hamburger Onkel in der Altstadt“, erzählte Rudolf.

Er lobte den Mocca und den Kirschkuchen und bat artig darum, Jetta hin und wieder ausführen zu dürfen, im vernünftigen Rahmen natürlich. „Sie ist ja noch so jung!“

„Allerdings, das mögen Sie wohl sagen, Herr Büttner. Das reine Kind noch. Im September wird sie gerade fünfzehn“, bestätigte Mutter Reckwisch – und Jetta hatte ein Geheimnis weniger. Sie bemerkte Rudolfs erschrockenen Blick in ihre Richtung – ach Gott, jetzt würde er sich nicht mehr trauen, sie zu küssen, weil sie zu jung war!

Doch er erwiderte: „Dann werden Sie sicherlich erlauben, dass ich Ihr Fräulein Tochter ab September hin und wieder am Wochenende mit zum Tanztee am Nachmittag nehme? Oder tanzt sie noch nicht?“

Darüber mussten alle lachen. Adolf erklärte nicht ohne Stolz: „Jetta hat seit anderthalb Jahren Tanzstunde. Wenn eine tanzen kann, dann sie. Da ist sie, im Gegensatz zur Schule, eine Musterschülerin.“ Und da lachten sie wieder alle.

Jetta war froh, als Rudolf und seine Schwester endlich bezahlten und verschwanden, ohne dass noch viel mehr geredet wurde. Sie hörte aber, wie die Eltern sich in der Küche über Herrn Büttner austauschten. Magda meinte, er mache einen sehr angenehmen und anständigen Eindruck.

Und Jettas Vater antwortete: „Ach, es ist doch ganz gleichgültig, was dieser Bursche für einen Eindruck macht. Studiert auf Lehrer – das dauert noch eine ganze Weile, und dann ist er Pauker und verdient auch nicht viel. Jetta wird noch ganze Heerscharen anderer junger Männer kennenlernen, sie guckt ja doch nicht mal mit dem Schnabel über den Nestrand. Das ist jetzt viel zu früh, Magda, über die Eindrücke nachzudenken, die irgendwelche Studenten uns vermitteln. Wenn eins unserer Kinder sich richtig rausmacht, dann ist das Jetta! Meine Tochter ist eine kleine Schönheit und wird hoffentlich einmal einen extra guten Fang machen. Geld oder Adel oder beides …“

„Adel?“, fragte Magda. „Die bleiben normalerweise ganz gern unter sich.“

Ihr Mann zuckte mit den Schultern, stellte ein Limonadenglas, das er poliert hatte, mit einem Knall auf den großen Küchentisch und kam zu seinem Lieblingsthema: „Wenn alles mit rechten Dingen zugehen würde, hießen wir sowieso ‚von Reckwisch‘ …“

Magda widersprach natürlich nicht. Sie sagte nur: „Du hast aber keine Einwände, wenn Jetta hin und wieder mit dem jungen Herrn Büttner zum Tanztee geht?“

„Warum sollte ich? Ich bin nicht engherzig oder antiquiert. Jetta wird es Spaß machen und der Junge wirkt ja, wie du sagst, sehr anständig! Das war korrekt, dass er sich zunächst uns vorgestellt und um den weiteren Kontakt mit dem Mädel gebeten hat. So gehört sich das.“

Erika Goldschmidt hatte keinen besonderen Respekt vor ihrem Vater, was sicher daran lag, dass er ihr gegenüber noch nie konsequent gewesen war. Sie ähnelte ihrer verstorbenen Mutter zu sehr, um ihr etwas abzuschlagen. Doch Erika liebte ihren Vater. Sie nannte ihn Papachen, pflegte seinen Spitzbart zu kraulen und erreichte normalerweise alles, was sie wollte.

Neuerdings wollte sie Schauspielerin werden. Sie war fest überzeugt davon, großes Talent zu besitzen, und ihre kunstverständigen Freunde ermutigten sie in diesem Glauben. Das trug sie an einem schönen Tag im Spätsommer ihrem Vater in seinem Arbeitszimmer vor, während beide rauchten: sie eine Zigarette aus ihrer Bernsteinspitze, er eine schwarze Zigarre.

„Mal abgesehen davon, dass Frauen bekanntlich keinen Beruf zu ergreifen brauchen – na, du kennst meine Ansicht darüber. Du sollst alles tun, was dir Freude macht. Aber Schauspielerin ist natürlich kein Beruf, den man lernen kann, mein Liebes!“, belehrte Simon Goldschmidt seine Tochter. „Weißt du, Schauspieler werden doch wohl meistens in Schauspielerfamilien geboren, so wie Zirkuskünstler in Zirkusfamilien. Die wachsen damit auf und beobachten schon als Kinder, was sie zu tun haben. Stehen bereits als Zwerge und Elfen auf der Bühne, in den Kinderrollen eben. Wenn es so etwas wie eine Universität geben würde, auf der sich das lernen lässt, oder eine Theaterschule …“

Erika lächelte. „Doch, Papachen, so was gibt es. Der Schauspieler Max Reinhardt hat das gegründet, schon vor mehr als fünfzehn Jahren, eine Schauspielschule nämlich. Die ist in Berlin.“ Sie nahm einen Zug aus der Bernsteinspitze und legte den Kopf zurück.

„Ach Erikaleben! Das bedeutet natürlich, du willst in die Hauptstadt ziehen? Für wie lange denn, um Himmels willen?“, fragte ihr Vater bekümmert. Er nahm seinen goldgefassten Kneifer ab und streichelte seinen Bart.

„Drei Jahre dauert die Ausbildung. Natürlich sind zwischendrin Ferien, dann komme ich zu dir und Siegi nach Hause. In Berlin habe ich doch Bekannte. Ich könnte nächsten Monat anfangen, zufällig …“

„So, zufällig. Na, du hast immer deine Verbindungen. Eigentlich hatte ich gehofft … Aber das ist ja gleichgültig. Warte, in Berlin wohnt Tante Hertha?“

„Eben. Ich hab sie bereits gefragt, sie möchte mich sehr gern in ihrer Wohnung haben.“

„Was du nicht sagst. Du hast dich schon um alles gekümmert, wie ich bemerke.“ Vater Goldschmidt raschelte ein wenig mit den Papieren auf seinem Schreibtisch. „Schön, du hast immer getan, was du wolltest, und gemeinhin war es nicht dumm. Schauspielerin, ja? Nur auf der Bühne oder etwa auch in einem Film?“

„Das weiß ich noch nicht, Papachen. Aber in jedem Fall bekommst du immer eine Karte erste Reihe Mitte, egal ob im Theater oder im Kino“, versprach Erika und küsste ihn auf seine ziemlich große Nase.

„Papachen ist einverstanden“, erzählte sie gleich darauf ihrem Bruder.

Siegmund lächelte. „Natürlich ist er einverstanden. Wenn du was willst, ist er doch immer einverstanden. Ich werd dich vermissen, große Schwester. Du musst mir oft schreiben, ja?“

Erika rief: „Komm doch mit, Siegi! Wir hätten so viel Spaß! Was du alles in Berlin machen könntest, mein Lieber. Wahrscheinlich besser als hier!“

„Vielleicht, wer weiß. Nein, ich lasse Erich nicht im Stich.“

„Du und dein Erich, ihr seid wie Blutsbrüder, was?“

Siegmund lachte. „Ein bisschen, ja. Aber du magst ihn doch auch?“

Erika dachte nach, bevor sie antwortete. „Doch, Erich mag ich. Und seine jüngste Schwester, die Hübsche, eigentlich auch. Das ist ein ganz durchtriebener kleiner Braten, die wird immer auf die Füße fallen. Aber die Eltern kann ich schon mal nicht leiden. Er ist eitel und selbstherrlich und etwas vulgär und sie ein spießiges Trampeltier. Am schlimmsten sind die Zwillinge, das musst du doch zugeben! Trampeltier Nummer zwei in Blond, die Große, treuherzig und einfältig, und vor allem der Junge, Fritz! Der ist eklig.“

„Eklig? Aber er sieht gut aus und ist auch kein Trampeltier. Fritz soll der Klügste von allen Reckwischs sein. Geht aufs Gymnasium und wird studieren. Theologie, glaube ich. Neulich hat Erich sogar gesagt, dass der Lehrer seines Bruders meint, der könnte eine Klasse überspringen! Das ist doch was. Außerdem glaube ich, er bewundert dich, Eri. Er guckt manchmal so …“

Erika schauderte. „Hör auf! Nein! Ein unangenehmes, abstoßendes Kind. Mit dem will ich nie was zu tun haben. Ich sag dir, der ist von einem bösen Geist besessen. Hach, jetzt muss ich telefonieren und allen sagen, dass ich in die Hauptstadt ziehe. Ich gebe noch eine große Feier zum Abschied, hörst du, mein Junge? Und Erich laden wir natürlich ein – und von mir aus seine kleine Schwester, die Henrietta. Aber sonst keinen von diesen Reckwischs!“

Gleich nach Jettas fünfzehntem Geburtstag fragte Rudolf Büttner noch einmal höflich bei ihren Eltern, ob er sie zum Tanztee mitnehmen dürfte, erhielt die Erlaubnis und erschien am folgenden Sonntagnachmittag im dunkelblauen Anzug zum hellgrauen Hut, ein Priemelsträußchen für Magda in der Hand und im Gesicht ein bewunderndes Lächeln für Jetta: Sie trug ein neues blaues Kleid, aus zwei Schichten genäht und irgendwie übereinander hängend wie eine kleine Gardine, zu einem dunkelblauen Hut.

Rudolf verstand zwar nicht, wie dieses erstaunliche Kleid funktionierte, aber auf jeden Fall sah Jetta reizend aus. Ihre Augen funkelten, ihre Wangen glühten in Vorfreude (eigentlich durch das neue Rouge-Töpfchen, das sie sich geleistet hatte. Doch das ahnte er ja nicht).

Als sie ein Stück vom Stern entfernt waren, holte Jetta ein zusammengerolltes Taschentuch aus ihrem Täschchen und wickelte es auseinander. „Guck mal, Rudolf, das sind meine Ohrringe! Sind die nicht hübsch? Aber sie sind ein Geheimnis, ich hab sie geschenkt bekommen. Meine Eltern wissen nichts davon …“

Er half ihr, die kleinen Schmuckstücke an den Ohren zu befestigen. Zuerst mussten dazu die winzigen Korallen herausgedreht werden, die Jetta täglich trug. Die steckte Rudolf in seine obere Jackett-Tasche, damit sie nicht verloren gingen.

„Wunderhübsch sieht das aus, sie kleiden dich fein. Aber sag mal, Kind, wieso ist das ein Geheimnis und deine Eltern dürfen nichts davon wissen? Woher hast du die?“

„Vom unserem Nachbarn. Ich hab mal was für den getan, hab ihm in seinem Apfelkeller bei dem eingemachten Obst geholfen, deshalb …“

„Und da schenkt er dir gleich Juwelen?!“

„Ach, Juwelen … Das sind doch nur Aquamarin-Hänger. Sehr niedlich, aber nicht viel wert. Er hatte sie von seiner Großmutter und wusste sowieso nicht, wohin damit. Aber wenn mein Vater das wüsste, würde er schrecklich böse. Er ist mit diesem Nachbarn nämlich über Kreuz, weil sie völlig unterschiedliche politische Ansichten haben, weißt du? Papa meint, Herr Leu – also dieser Nachbar – wäre ein Sozialist. Er selbst ist für den Adel und verehrt immer noch den Kaiser und General von Lettow-Vorbeck …“

Rudolf blieb stehen. „Ausgerechnet den? Der Kerl ist Anfang Juli mit zehntausend Soldaten in Hamburg einmarschiert, um die Lage zu beruhigen, als es überhaupt nichts mehr zu beruhigen gab, du weißt schon, nach unseren Sülze-Unruhen – Jetta, der hat alles wieder hochkochen lassen und rumgewütet wie ein Verrückter! Durch dessen Schuld gab es in der Sache mehr als achtzig Tote! Den findet dein Vater bewundernswert?“

„Er hat gesagt, es musste mal scharf durchgegriffen werden.“

„Oh je. Dann sollte ich ihm wohl lieber nie meine politischen Ansichten dartun, wie?“

Jetta, die das schon geahnt hatte, schüttelte den Kopf: „Besser nicht …“

In Altona gab es ein mittelgroßes Café, in dem am Nachmittag getanzt wurde: Walzer, Polka, aber auch etwas Neues aus Amerika, den Cakewalk! Den hatte Jetta bereits bei Erika Goldschmidts Abschiedsfeier kennengelernt und konnte Rudolf nun ihre Kunst weitergeben.

Dazwischen aß sie Liebesknochen mit Sahnefüllung (na, keine echte Sahne; so kurz nach dem Krieg bekam man eher ein Eierschaum-Zucker-Gemisch, aber das schmeckte auch gut) und trank, genau wie seine kleine Schwester damals im Stern, Kakao.

Jetta passte gut auf, dass sie sich mit der Papierserviette immer gleich den Mund abtupfte, um keinen Grund zu Vorwürfen zu liefern. Er schaute sie verliebt an und flüsterte, sie hätte Augen wie Rauchtopas.

Sie hatten es furchtbar nett – bis Rudolf fragte: „Und was machst du morgen, mein Herz?“

„Was soll ich schon machen? Zur Schule gehen natürlich. Es hilft ja nichts …“, antwortete sie unvorsichtigerweise. Dann fiel ihr ein, dies wären vermutlich die falschen Worte einem angehenden Lehrer gegenüber.

Rudolf machte ganz runde Augen. „Aber ich bitte dich – es ist doch ein Segen, lernen zu können! Gisela geht aufs Lyzeum, die will auch studieren und Lehrerin werden.“

Jetta pickte mit dem Finger ein paar Schokoladenkrümel von ihrem leer gegessenen Teller. „Na, das will ich ja nicht. Und lernen kann ich immer und überall, dafür brauch ich keine Schule.“

„Was redest du, Kind, immerhin wird dir in der Schule der Stoff am effektivsten vermittelt. Was willst du eigentlich beruflich mal machen?“, wollte Rudolf wissen und schob seine leere Kaffeetasse ein Stück beiseite.

Dass er sie Kind nannte, bedeutete nichts. „Kind“ war geradezu ein Modewort, das sagte heutzutage jeder Mann zu seiner Ehefrau, jeder Bräutigam zur Braut, jeder Erwachsene zu einem anderen – vorzugsweise weiblichen – Erwachsenen. Man nannte ja auch, zum Spaß, Menschen, die durchaus keine Kinder mehr waren, trotzdem so: „Kinder, hört mal her!“ Es bedeutete also nichts – aber es ärgerte Jetta trotzdem. Warum konnte er nicht bei „mein Herz“ bleiben? Und überhaupt – für einen Moment wünschte sie sich an den Anfang zurück, als er noch „Gnädiges Fräulein“ gesagt hatte und alles entzückend fand, was sie tat, sogar, dass sie die Schule schwänzte.

„Beruflich? Ich weiß nicht. Ich will keinen Beruf lernen. Ich werde im Stern helfen, bis ich heirate, denke ich mir.“

„Das ist aber doch schade. Das ist – wie soll ich sagen? – eine oberflächliche Ansicht. Du bist intelligent und auf verschiedenste Weisen begabt … Du solltest irgendeinen Beruf lernen!“, verlangte er.

Jetta überlegte, was er wohl mit „auf verschiedenste Weisen begabt“ meinte. Küssen? Schwindeln? – Aha, sie war also oberflächlich.

„Was weißt du denn von mir?“, fragte sie etwas ungeduldig, während ihr bewusst wurde, dass ihr gerade die Sanftmut abhandenkam.

Rudolf schien sich ebenfalls zu bemühen, nicht aggressiv zu werden. Er rang sich ein Lächeln ab, während er sagte: „Das ist ja eben das Gute gewesen am Krieg, dass sich für unser Weltbild, unsere Kultur viel verändert hat. Dass Frauen so viel übernommen haben, während wir an der Front waren. Dass sie nun viel gleichberechtigtere Partnerinnen sein können – etwas Sinnvolles tun, nicht nur den Haushalt erledigen und die Kinder hüten!“

„Aber wer soll denn dann die Kinder hüten?“, fragte Jetta, die sich doch erklärtermaßen nicht viel aus Babys machte, ganz aufgebracht.

„Nun, beide Eltern, so gut es geht“, erwiderte Rudolf.

„Ach, so gut es geht! Ich sage dir, das geht nicht sehr gut. Dann können wir Frauen nämlich am Tag in einem Büro oder von mir aus in einer Schule schuften und am Abend waschen und kochen und so weiter! Und wie sollen sich denn beide um die Kleinen kümmern, wenn beide arbeiten? Willst du in dem Klassenzimmer, in dem du unterrichtest, eine Wiege aufstellen und ab und zu deinem Kind die Flasche geben?“

„Jetzt wirst du unsachlich!“, rügte Rudolf, dem wahrscheinlich keine treffendere Antwort einfiel. Er blickte finster umher, dann auf seine Uhr, und dann meinte er in recht befehlendem Ton: „Es ist spät. Ich hole deinen Mantel, Jetta. Du sagst ja selber, morgen ist Schule. Du musst früh aufstehen …“ Damit stand er seinerseits auf und marschierte zum Garderobenständer, um ihren kleinen grauen Mantel zu holen und ihn ihr zum Hineinschlüpfen hinzuhalten. Dabei sagte er in wehmütigem Ton: „Den hast du getragen, als ich dich zum ersten Mal gesehen hab, in Hamburg! Das war im Sommer – ist er nicht zu dünn für diese Jahreszeit?“

Jetta knöpfte den Mantel zu. „Noch haben wir ja keinen Schneesturm. Doch, er ist ein bisschen dünn, das stimmt. Es ist mein hübschester, ich hab ihn aus purer Eitelkeit angezogen. Ich wollte dir gefallen, so oberflächlich bin ich. Gehen wir?“

Sie lief derart schnell voraus und in die Dämmerung des Abends, dass er kaum hinterherkam.

„Sollten wir nicht eine Taxe nehmen, Kind?“

„Nein, ich koste dich schon genug …“, schnappte sie ihn über die Schulter an.

„Ach, Jetta, weshalb bist du jetzt böse auf mich?“

„Du warst doch an unserem Gespräch beteiligt. Oder hast du nicht zugehört?“

„Mein Gott, kannst du eine böse Zunge haben!“

„Wundert dich das? Ich sagte dir doch, du kennst mich nicht! Du weißt überhaupt nicht, wie ich bin!“

„Nein, das weiß ich wohl nicht …“, bestätigte er traurig und leise.

Es wurde ziemlich schnell dunkel, die Laternen gingen an.

Vor der Haustür nahm Rudolf ihre Hand und küsste sie. „Danke für den Nachmittag, Jetta. Jetzt weiß ich, wie man den Cakewalk tanzt. Wann sehen wir uns wieder?“

Jetta warf den Kopf zurück. Sie fühlte sich scheußlich und war auf sich selbst mindestens so wütend wie auf den jungen Mann mit dem grauen Hut, der etwas fröstelnd vor ihr stand. Er trug ja noch nicht mal einen dünnen Mantel! Nur das Jackett über dem Hemd. Er musste frieren. „Falls du einen so ungemütlichen Begleiter wie mich überhaupt noch einmal sehen möchtest“, fügte er hinzu.

Ganz erstaunt hörte sie sich sagen: „Ja, ich weiß nicht recht. Vielleicht legen wir eine kleine Pause ein und warten ab, bis ich etwas erwachsener und sachlicher und weniger oberflächlich geworden bin. Und bis ich alt genug bin, dass du mich wieder auf den Mund küssen magst und nicht nur auf die Hand.“

Er hob kurz den Hut, verbeugte sich knapp, drehte sich um und verschwand schweigend in der Dämmerung.

Jetta schaute ihm verdutzt hinterher, bis sie endlich so viel Geistesgegenwart hatte, ins Haus zu gehen und die Tür ordentlich hinter sich zuzuschmettern. Sicher hörte er das überhaupt nicht mehr!

Dafür hörte es ihre Mutter, die aus der Erdgeschossküche fragte, ob sie den Verstand verloren hätte, gleich fiele der Stuck von der Decke.

Jetta rannte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, warf sich auf ihr Bett und weinte heftig. Dummkopf! Hirnloses Ekel!, wütete sie und trat mit den Stiefeln gegen die Bettkante – wusste aber nicht genau, ob sie damit nun Rudolf meinte oder sich selber.

Endlich holte sie ein Taschentuch aus ihrer Nachtschrankschublade, putzte sich die Nase und starrte vor sich hin. So, den hatte sie also verjagt. Den nettesten, hübschesten Mann, den sie bis jetzt kannte. Der wirklich verliebt in sie gewesen war. Der sich eigentlich immer ganz reizend benommen hatte. Was war ihr nur eingefallen?

Nun war er weg.

Jetta griff nach dem alten, zerzausten Teddybären, der auf ihrem Kopfkissen saß und mit dem sie sich seit vielen Jahren nicht mehr beschäftigt hatte. Nahm ihn in die Arme und schaute mit traurigen, großen Augen an die Zimmerdecke.

Bis jetzt war sie sich nie klar darüber gewesen, was sie eigentlich für Rudolf Büttner empfand. Nun plötzlich glaubte sie zu wissen, dass es Liebe war.

Der Stern der Elbe

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