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3. Kapitel Erich wird beobachtet

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Die kleine Irma wurde kaum je bemerkt, während sie selbst nahezu alles bemerkte.

Das eine hing mit dem anderen zusammen.

Sie schien harmlos, unwichtig, überflüssig, sogar ein wenig einfältig mit ihrem ewig offenstehenden Mund und den halb geschlossenen Augen.

So, wie in bestimmten Zeiten ein Diener von den Herrschaften wie ein Haustier oder Möbelstück betrachtet wurde, in dessen Gegenwart man – falls sonst niemand zugegen war – selbstverständlich in der Nase bohren konnte, so nahmen die Reckwischs das Irmchen auch nicht mehr zur Kenntnis als den Schirmständer.

Das Kind saß gern auf dem Fußboden, vielleicht sogar unter einem Tisch, oder kletterte in einen der vielen alten Obstbäume, die das Haus umgaben.

Unterhielten sich zwei über ein Thema, das niemand anders zu hören bekommen sollte, und blickten sich sichernd um, bevor sie zu den Heimlichkeiten kamen – dann bemerkten sie vielleicht ein dünnes, zerkratztes braunes Schienbein, das unter den Fransen der Tischdecke hervor sah oder vor der Fensterscheibe baumelte. Was war das?

Irmchen. Kein Grund, zu flüstern …

So teilten sich nahezu alle Geheimnisse im Haus durch drei.

Die Reckwischs waren keine besonders vorbildlichen Kirchgänger. Zu den christlichen Feiertagen, zu den Taufen oder Konfirmationen der Kinder … Ansonsten ließen sie es bleiben. Adolf und Magda hatten nicht einmal kirchlich geheiratet.

An diesem Sonntag Ende Juni schlief die Familie aus. Nur Fritz, der sich seinem Paten verpflichtet fühlte (oder fühlen musste), stand seufzend auf, zog sich stöhnend an und stolperte mehr oder weniger leise die Treppe hinunter, um sich in der Erdgeschossküche etwas zu essen zu machen, bevor er sich dem Pastor als interessierter Christ präsentierte. Dazu hatte er auch noch fast eine Dreiviertelstunde mit dem Rad zu fahren. Die Kirche, in der Mahlke predigte, lag unglücklicherweise in Rellingen.

Trotzdem ärgerte dieses berechtigte Seufzen und Stöhnen Erich, der sich mit seinem Bruder das Schlafzimmer teilte. Er fluchte leise und warf ärgerlich mit dem Kopfkissen nach Fritz, bevor der endlich das Zimmer verließ. Dann lag er mit geschlossenen Augen im Bett, vermisste das Kissen und fühlte voller Grimm zu viel Sonnenlicht im Gesicht. Die Gardine vor dem geöffneten Fenster war leider nicht zugezogen.

Erich blinzelte in die Strahlen, drehte den Kopf etwas zur Seite und bemerkte, dass ihn nicht nur die Sonne ansah. Da saß dieses Gör, diese Irma, doch tatsächlich im Kirschbaum vor dem Fenster und starrte ins Zimmer! Wie immer stand ihr Mund halb offen.

Erich kam mit einem Ruck hoch – und das Kind fiel vor Schreck fast vom Baum. Es konnte sich gerade noch mit beiden Händen festklammern.

„Bist du lebensmüde?! Was machst du denn um Himmels willen hier vor dem Fenster, du dummes Äffchen?!“, fuhr er sie an.

Irma musste erst einmal den Mund schließen, schlucken und sich über die Lippen lecken, bevor sie antworten konnte. „Ich guck Sie an.“

„Ja, warum denn das?“

„Nur so.“

Erich angelte nach dem Kopfkissen seines Bruders ein Bett weiter, stopfte es sich in den Nacken und rückte noch mehr aus der Sonne. Er nahm eine Zigarette aus dem Etui auf dem Nachtschrank, zündete sie mit seinem eisernen Feuerzeug an und rauchte ein paar Züge. Den Rauch ließ er aus seinen schmalen Nasenlöchern kringeln.

„Warum bist du so neugierig, Äffchen?“

Irma zuckte mit den mageren Schultern.

Eine Weile sahen sie sich gegenseitig abschätzend an, das schmächtige, unschöne kleine Mädchen und der kräftige junge Mann.

Plötzlich fragte Irmchen: „Sie sind doch der Freund von den Goldschmidts. Warum nennt der alte Herr Goldschmidt seine Tochter immer ‚Erikaleben‘?“

Erich lächelte. „Das ist eine jiddische Zärtlichkeitsform. So wie Irmchen oder Imalein. Zu dir würde er sagen Irmaleben. Also, wenn er dich lieb hätte.“

Irma rieb sich die Nase mit dem Oberarm. „Ach. Und – lieben Sie die Schwester von Ihrem Freund?“

Über diese Frage war Erich so verdutzt, dass er lachen musste. „Du meinst Erika Goldschmidt? Ob ich die liebe? Wie kommst du darauf?“ Und als Irma wieder nur mit den Schultern zuckte: „Nein, die liebe ich nicht.“

Sie reagierte sofort auf seine Betonung und wagte die nächste Frage: „Wen denn dann?“

Erich warf ihr einen schrägen Blick zu, betrachtete ganz genau die glühende Asche seiner Zigarette und antwortete nach einer Weile langsam: „Claire heißt sie. Claire ist die Tochter von Herrn Bruhn. Das ist mein Chef und mein Lehrmeister in Hamburg. Ich bin verschossen in seine Tochter. Und weißt du was? Sie macht sich nichts aus mir. Kannst du das verstehen?“

Irma Kosalke schüttelte sofort energisch den Kopf. Das feine, kurz geschnittene aschblonde Haar flog ihr wie Federchen um das Gesicht.

„Nein? Ich auch nicht“, knurrte Erich.

Er packte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und saugte so energisch an ihr, dass Tabak und Papier knisternd ein großes Stück herunterbrannten. Dann warf er sie an Irmas Kopf vorbei in den Garten, zog sich das Kopfkissen seines Bruders über das Gesicht und bemühte sich, wieder einzuschlafen. Er achtete nicht darauf, dass es im Kirschbaum raschelte, weil die Beobachterin nun wohl zu Boden kletterte. Es genierte ihn auch nicht, gerade sein heiligstes Geheimnis verraten zu haben.

Er hatte schließlich nur mit dem Schirmständer gesprochen …

Vor etwa sieben Jahren war Folgendes passiert: Siegmund, der Sohn des reichen Herrn Goldschmidt aus der Villa an der Elbchaussee, hatte auf dem Schulweg Prügel bezogen, von fünf oder sechs Jungen.

Erich, ein Jahr älter, kam vorbei und konnte so etwas mit seinem Gerechtigkeitssinn nicht vereinbaren. Er war einer der Größten und Breitesten in seiner Klasse und Mut fehlte ihm nie. Er stürzte sich in das Gerangel und begann, die prügelnden Knaben beiseite zu pflücken und hinter sich zu werfen, bis er auf dem Grund der Straße den sehr zerschrammten und zerknüllten Siegmund vorfand, hochhob und aufschüttelte. Inzwischen klebten ihm die beleidigten Kämpfer wieder an den Armen oder auf dem Rücken und er musste sie erneut von sich schlagen.

Siegmund schien vor Angst fast ohnmächtig. Seine Seidenweste, der ursprüngliche Grund für Hohn und Angriff, hing in Fetzen vor seinem Magen und die goldene Uhrkette baumelte, der Taschenuhr beraubt, daneben. (Die Uhr übrigens fand sich nie wieder.) Er war völlig außerstande, Erich beizustehen oder sich selbst zu verteidigen.

Stattdessen bemühte sich plötzlich ein schwarzhaariges Mädchen, mit ihren schmalen Händen die Feinde von Erich und Siegmund wegzuboxen, wobei sie einen Stoß bekam, der sie in eine Hecke beförderte.

Endlich hielt ein großes Automobil neben der kämpfenden Gruppe, der Chauffeur stieg aus, beteiligte sich kurz und wirkungsvoll daran, Siegmund, Erich und das Mädchen von den Angreifern zu befreien, und setzte alle drei auf den Rücksitz, um sie zur Goldschmidt-Villa zu fahren.

Dort gab es die besorgte, sehr dicke Haushälterin, Frau Wendelin, die Siegmund und seine Schwester Erika – das wehrhafte kleine Mädchen – betreute, seit ihre Mutter gestorben war, und die jetzt die kleinen Wunden der Kinder verarztete.

Es gab den freundlichen Herrn Goldschmidt mit spitzem Bauch und spitzem Bart, der sich per Handschlag bei Erich bedankte.

Und es gab Schokoladeneis mit Sahne, einfach so, an einem Wochentag.

Das war der Beginn von Erichs Freundschaft mit den Goldschmidts. Sein Vater wusste immer noch nicht, ob er sie wegen des Reichtums und der guten Umgangsformen dieser Familie billigen oder sich dran stoßen sollte, dass sie Juden waren.

Vor dem Fenster der Reckwisch-Schwestern gab es keinen Baum. Wäre dort einer gewesen, hätte Adolf ihn wohlweislich abgesägt.

Auch hier war die Gardine beiseitegeschoben und die Sonne schien ins Zimmer.

Fiti schmökerte im Bett, ein Jungmädchen-Buch: Das lustige Kleeblatt, für das sie eigentlich zu alt war. Einerseits las sie mit Behagen, andererseits mit schlechtem Gewissen. Sie fühlte die Verpflichtung, nach unten zu gehen und beim Frühstückmachen zu helfen.

Jetta hockte auf der Bettkante und zupfte sich konzentriert die Augenbrauen zu einem schönen, klaren Bogen. Sie spürte keine Art von Verpflichtung, auch nicht die, ihre Schwester in die Geschehnisse vom vergangenen Montag einzuweihen.

Als sie noch klein war, hatte Fiti ihr erklärt, wie wichtig es sei, immer die Wahrheit zu sagen. Jetta war für kurze Zeit darauf hereingefallen. Inzwischen wusste sie, dass es keine dümmere Methode gab, mit Erwachsenen umzugehen, als Ehrlichkeit.

Eltern wollten überhaupt nicht hören, was ihr Nachwuchs womöglich bereute und nie wieder tun wollte, es machte sie bekümmert, regte zu endlosen Predigten an, wenn nicht sogar zu Ohrfeigen. Log man ihnen das in die Ohren, was sie gern hören wollten, dann waren alle Beteiligten zufrieden und heiter.

Leider vermochte Fiti das nicht einzusehen. Insofern war sie als Vertraute weitgehend unbrauchbar; sie hielt nicht dicht.

Deshalb erzählte Jetta ihrer halb lesenden und halb lauschenden Schwester: „Du, stell dir vor, heute Nachmittag gehe ich mit der Ada ins Völkerkundemuseum in Hamburg!“ (Den Geldschein des Vaters musste sie ja nicht erwähnen. Zwar neigte Fiti so wenig zum Neid wie zur Unehrlichkeit. Aber sie konnte es Fritz weitergeben. Und der würde sich giften, unweigerlich.)

„Völkerkundemuseum? Wie schön“, fand Fiti. Sie drückte das Kinn gegen die Brust beim Lesen und sah ein wenig wie die Fünfzigjährige aus, die sie in fünfunddreißig Jahren sein würde.

Dann gellte Magdas Ruf nach Hilfe durch das Treppenhaus und das ältere Reckwisch-Mädchen warf sein Buch und die Bettdecke beiseite und eilte zum Waschtisch.

Es wirkte so, als hätte sich die Sülze-Unruhe an diesem Wochenende bereits beruhigt – doch das täuschte. Mit dem Juli, einige Tage später, wurde alles noch wilder. Der edle Afrika-Held Lettow-Vorbeck mit den blitzenden blauen Augen marschierte in Hamburg ein, ließ Arbeiterwohnviertel besetzen, Funktionäre verhaften und Plünderer erschießen. Zum Schluss zählte man 80 Todesopfer. Sülzehersteller Heil musste für ein Vierteljahr ins Gefängnis und Jetta vergaß ihr Leben lang nicht, dass sie neben dem ersten Fass gestanden hatte, das zerbrach …

Im Übrigen erlebte sie einen entzückenden Nachmittag mit Rudolf Büttner, der so verliebt war, wie ein Mann nur sein konnte. Der Student ruinierte sich fast für Museumskarten, rote Brause, Schokoladenkuchen und schon wieder Autodroschkenfahrten. Dafür durfte er Jetta auf der Heimfahrt küssen, und das tat er gründlich, für all seine Unkosten.

Sie erschien abends mit so glühenden Wangen und schimmernden Augen im heimatlichen Garten am Pepermöhlenweg, dass Magda Fieber befürchtete – „Komm mal her, Kind!“ – und ihr eine Hand auf die Stirn legte.

Am Gartentisch saßen Adolf, Erich und Siegmund bei einem Bier und besprachen vorsichtig und diplomatisch die politische Lage aus verschiedenen Gesichtspunkten. Etwas abseits auf der Gartenbank hockten Magda, die Zwillinge und nun auch ihre Jüngste als respektvolle Zuhörer, denen man keine eigene Ansicht zutraute.

Magda und Fiti hegten wirklich keine, Fritz wusste, dass sowieso niemand seine Meinung billigen würde, und Jetta schmeckte noch Rudolfs aufregende Küsse im Mund. Küssen war himmlisch, das hatte sie sich schon immer gedacht.

In der Gaststube servierte Herr Knoll den letzten Gästen den letzten Kuchen. Der Sonntagabend ging dem Ende zu.

Gegen halb acht klingelte es an der privaten Hausglocke und Erika Goldschmidt kam, ließ den Chauffeur einen Augenblick vor dem Haus warten und entschuldigte sich: „Guten Abend! Ich möchte nur meinen Bruder nach Hause holen. Wir wollten noch ins Theater, das wird sonst so knapp.“

Man merkte ihr ein bisschen die leichte Verachtung an. Der einzige, mit dem sie hier etwas verband, war Erich. Der konnte ja nichts für das Nest, aus dem er kam.

Irmchen, in der Dämmerung ein Stück entfernt auf der Schaukel, fiel auf, wie Fritz die schwarzhaarige junge Dame anstarrte. Er war vier Jahre jünger als Fräulein Goldschmidt, noch ein Junge in kurzen Hosen, ein Unterschied wie zwanzig Jahre, nie einzuholen.

Erika, in einem Kostüm aus gelber Wildseide, lange Bernsteinhänger an den Ohren, mit dunkelrotem Lippenstift und kurzer Zigarettenspitze, ebenfalls aus Bernstein, wusste vermutlich nicht einmal, dass es ihn gab. Und Fritz schaute wie … ja, wie ein hungriger Kater auf einen Fisch im Aquarium.

Siegmund verabschiedete sich rundherum, sogar von Irma. Er war ein freundlicher Charakter ohne Hochmut.

Sobald er gegangen war, hatte Jetta etwas auf dem Herzen: „Papa, ich muss euch etwas – also mir ist heute jemand begegnet, ich dachte, ich sollte euch informieren. Und zwar waren Ada und ich nach dem Museum in einem Restaurant gleich daneben auf eine Brause, weil wir durstig waren – und da hat jemand versucht, Adas Täschchen zu stehlen.“

Ausrufe der Familie. Kopfschütteln.

Bevor sie anfangen würden, darüber nachzudenken, ob sie Jetta je wieder alleine loslassen könnten, sprach sie hastig weiter. „Und da erschien wie ein guter Engel ein junger Mann und hat diesem Burschen Adas Täschchen entrissen – der lief dann weg … Und es war gar nichts passiert! Und der nette junge Mann heißt Büttner. Rudolf Büttner. Er studiert Französisch und Geschichte und eben Völkerkunde, weil er Lehrer werden will, deshalb war er auch im Museum, und er hat eine Schwester, die ist sechzehn. Also, der ist sooo gut erzogen, das muss man gesehen haben! Ein richtiger Kavalier, aber ohne Schmeicheleien, ganz treuherzig und ehrlich und deutsch. Er will demnächst mal mit seiner Schwester in unsere Kaffeestube kommen, da könnt ihr ihn kennenlernen. Wenn ihr wollt …“

Allgemeines Begehren der Familie, Herrn Büttner kennenzulernen, von dem so ein günstiges Charakterbild entworfen wurde.

Fritz murmelte: „Es gibt ja Zufälle …“

Aber Adolf fragte, ob er alle Hausaufgaben schon fertig hätte für Montag früh. „Sonst geh mal schön nach oben und arbeite, mein lieber Filius!“

Magda Reckwisch war in manchen Beziehungen eine moderne Frau. Bei ihrer eigenen Hochzeit mit Addi hatte es niemanden gegeben, der sie über die ehelichen Pflichten aufklärte, und obwohl sie nahezu dreißig gewesen war, hatte sie nur eine verschwommene Ahnung gehabt, worum es ging. Was dazu führte, dass sie in der Hochzeitsnacht zunächst mal aus dem Bett flüchtete und dann aus dem Schlafzimmer, entrüstet über diese verdrehten Zumutungen, mit denen der schöne Adolf sie bedrängte.

Sie hatte sich vorgenommen, ihre Töchter eines Tages rechtzeitig zu informieren, was ihnen bevorstand. Nun schien es, als würde Jetta, obwohl ein Jahr jünger als Fiti, bei nächster Gelegenheit so etwas wie einen Verehrer ins Haus bringen, diesen Studenten. Es wurde Zeit!

An diesem Montag – eine gute Stunde, bevor die Kaffeegäste kamen – sammelte sie die Mädchen im Nähzimmer um sich mit der Erklärung, es müssten dringend Socken gestopft werden.

Erstens stimmte das. Zweitens taten sie auf diese Art gleichzeitig etwas Nützliches. Und drittens brauchten sie sich beim Reden nicht anzusehen. Denn natürlich war es furchtbar peinlich.

Übrigens stopften nur sie und Jetta Socken, Fiti stickte für ihre Schwester Initialen in ein Taschentuch, und zwar nicht „HR“, sondern „JR“. Weil das „J“ so einen hübschen Bogen machte …

„Ihr solltet es rechtzeitig wissen, meine Mädchen“, begann Magda mit ihrer dunklen, trockenen Stimme. Jetta ahnte sofort, worum es ging. Das Thema interessierte sie schon lange, sie besaß aufmerksame Ohren und konnte seit jeher zwei und zwei zusammenzählen. Sie machte indessen ebenso große Augen wie ihre Schwester, formte mit den Lippen ein O und schüttelte an den richtigen Stellen über alle Maßen erstaunt den Kopf.

„Ich weiß, es klingt sehr sonderbar. Aber so ist es nun einmal. So sind wir alle entstanden, was immer auch der liebe Gott sich dabei gedacht hat“, erklärte Magda. Das wollte etwas heißen; den lieben Gott ließ sie normalerweise aus dem Spiel.

„Aber das ist …“ brachte Fiti hervor, der vor Schreck die kleinen blauen Augen aus dem Kopf quollen. „Das kann ich nie! Ich will nie heiraten, das steht nun fest für mich!“

Jetta dachte: Das ist jetzt wieder recht typisch. Sie persönlich wollte nichts so sehr wie heiraten, um jeden Preis. Doch sie nickte immerhin zu den Worten ihrer Schwester mit dem Kopf, auf dem eine große Schleife saß.

Magda lächelte. „Ich kann eure Bedenken verstehen, Kinder. Das ist völlig normal. So denkt jede Frau zunächst mal. Und, um ganz ehrlich zu sein: Es ist ja auch – wie soll ich sagen … Vor allem beim ersten Mal … Das ist peinlich und merkwürdig. Also eine normale Frau braucht in der Tat Überwindung, immer aufs Neue, eigentlich das ganze Leben lang. Es mag weibliche Personen geben, die Gefallen daran finden, doch die sind abartig. Das Vergnügen liegt in diesem Fall allein bei den Männern. Das hat die Natur so eingerichtet. Nun aber müsst ihr bedenken, dass es mal notwendig ist, um ein Kindchen zu empfangen. Und wenn ihr das erlebt habt – dieses Glück, so ein kleines Engelswesen im Arm zu halten … Ach Kinder, das ist es wert. Diese Sache mit der ehelichen Pflicht und die neun Monate, die nicht immer einfach sind und die Schmerzen bei der Geburt. Das ist es alles wert!“

Fiti, die Kinder liebte, sah beeindruckt aus. Sie zog langsam den Faden durch den Stoff und seufzte tief. „Ich muss mich an den Gedanken gewöhnen“, murmelte sie.

Jetta hatte sich an einen anderen Gedanken zu gewöhnen. Sie schien abartig zu sein. Alle diese Vorstellungen, die Angst und Schrecken verursachen sollten, wäre sie eine normale weibliche Person gewesen, erregten nur ihre Vorfreude. Und zwar durchaus nicht auf das kleine Engelswesen, das daraus entstehen sollte.

1919 erklärten wenige Mütter ihren noch nicht erwachsenen Töchtern so offen, worum es in der Liebe ging, wie Mutter Reckwisch. Die kam zu dem wichtigsten Punkt, zum eigentlichen Grund ihres Vortrags: „Und jetzt passt auf, meine Mädchen! Wie gesagt, die Männer finden es vergnüglich und eigentlich – also mehr oder weniger – kurz gesagt, sie wollen es dauernd. Im Grunde kann man sagen, jeder Mann will vorrangig nichts anderes von einer Frau. Sie sind süchtig danach. So hat die Natur sie gemacht. Wenn ein Mann es wittert – also wenn er sehr verliebt ist und mit dem Gegenstand seiner Verehrung allein – dann verliert er oft den Verstand und die Kontrolle. Er kann nicht anders. Er ist dann nicht mehr Herr seiner selbst. Das müsst ihr wissen! Eine Frau denkt da ganz anders und kann sich schlecht hineinfühlen, deshalb … Also, es kann passieren, dass eine Frau überwältigt wird. Ein Mann hört dann kein Nein mehr. Deshalb ist es wichtig, rechtzeitig Nein zu sagen, versteht ihr? Solange er noch bei kühlem Verstand ist.“ Magda warf einen scharfen Blick auf Fiti und sprach nun in fast beschwörendem Ton: „Und ich bitte euch, sagt niemals Ja, um lieb zu sein und um geliebt zu werden! Gebt nicht aus Freundlichkeit nach! Ihr müsst in dieser Beziehung vielleicht manchmal einfach hart und konsequent sein. Auch auf die Gefahr hin, euch für diesen Augenblick unbeliebt zu machen. Umso höher wird der betreffende Mann euch hinterher ehren, wenn er wieder bei Verstand ist. Dankbar wird er sein, glaubt mir das! Und am besten achtet ihr immer darauf, dass die Situation es gar nicht erst ergibt. Nie mit einem Mann allein sein, das hat schon seinen Sinn. Wenn es erst mal passiert ist – dann schämt er sich vielleicht. Aber dann ist der Schaden bereits passiert. Eine Frau kann beim allerersten Mal empfangen! Dann bekommt sie ein Baby. Da ist nichts zu machen. Das heißt, da wäre schon was zu machen, aber das ist so grausam … Wollt ihr euer eigenes Kind töten lassen? Doch wohl nicht!“

Fiti schüttelte mit großen Augen den Kopf.

Jetta machte nur große Augen.

„Außerdem muss man sagen, das ist nicht nur die niederste moralische Stufe, die eine Frau erreichen kann – es ist auch gefährlich, gesundheitsschädlich. Seht mal, ein Baby im Mutterleib zu töten ist selbstverständlich gesetzlich verboten, das ist ja Mord! Deshalb macht das kein verantwortungsvoller Arzt. Also muss eine Frau, der das wirklich passiert ist, und die vielleicht keinen Ausweg sieht, zu charakterlich zweifelhaften Ärzten, gescheiterten Existenzen. Manchmal sind das noch nicht mal Ärzte, sondern irgendwelche Frauen, die sich damit ein Zugeld verdienen. Bei denen ist dann alles schmutzig, unhygienisch, voller Bazillen. Die meisten der Frauen, die sich dem unterziehen, werden furchtbar krank, viele sterben. Und, Kinder, selbst wenn ihr kein Kind empfangt, so ist doch euer kostbarstes Gut, eure Reinheit, ein für alle Mal verloren. Die bekommt ihr nie zurück. Jeder Mann würde sofort merken, dass euch schon von einem anderen Mann die Unschuld geraubt worden ist!“

Fitis nickte, tief beeindruckt.

Jetta fragte: „Woran würde er das merken?“

Magda bewegte unbehaglich die Schultern in der Bluse. „Ja. Na ja. Also, beim allerersten Mal, da geht etwas kaputt. Eine Haut.“

Jetzt rissen ihre Töchter nicht mehr nur die Augen auf, sondern auch die Münder.

„Eine Haut geht kaputt?!“

„Ja, Jetta, das hat die Natur so gemacht. Eben, damit man weiß, ob eine Frau rein geblieben ist für ihren rechtmäßigen Mann. So wie ein Riegel an der Tür.“

„Und – hört man das?“

„Wie? Nein, natürlich nicht. Es sei denn, natürlich, die betreffende Frau ist sehr wehleidig und jammert laut.“

„Jammert? Tut es denn weh?“

„Oh – etwas. Mehr oder weniger …“, erwiderte Magda und kümmerte sich nun sehr um das Loch in der Socke, die sie in der Hand hielt.

Jetta ließ nicht locker: „Also, wenn sie keine wehleidige Frau ist und sie nicht jammert – woran merkt ein Mann denn dann, ob sie rein war oder nicht mehr?“

Magda schnitt energisch den Wollfaden ab und legte die Schere laut und entschieden auf dem Tisch ab. „Das braucht euch doch eigentlich nicht zu interessieren. Bei euch wird das schon mit rechten Dingen zugehen, ihr seid doch behütet!“ Sie legte die gestopfte Socke beiseite, nahm eine neue aus dem Korb und versuchte, Jettas auf sie gerichteten, fragenden Augen auszuweichen. Endlich sagte sie unwirsch: „Herrgott, es blutet. Natürlich blutet es. Wenn eine Haut kaputtgeht, dann blutet es. Und das sieht man dann natürlich. Auf dem Bettlaken. Das versteht sich doch.“

Fiti kniff den Mund zusammen. „Ich glaube doch, ich heirate lieber nie.“

Magda blickte ihre Älteste mit einem kurzen, kummervollen Blick an, als wollte sie sagen: Das ist zu befürchten …

Der Stern der Elbe

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