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1. Kapitel Sülze und Revolte

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Jetta Reckwisch stand mit den Zehenspitzen genau an der Schwelle vom Mädchen zur Frau. Sie würde in wenigen Monaten fünfzehn werden und schwänzte gerade die Schule.

Erstens aus Prinzip – Schule war grässlich und betrübte nur, gerade jetzt, in der Nachkriegszeit. Zweitens, um eine Kartenlegerin hier in Hamburg nach der Zukunft zu fragen.

Jetta hatte seit Monaten ihr Taschengeld für den Blick in die Zukunft gespart. Die Schrift ihrer Mutter konnte sie wunderbar kopieren und würde sich für diesen Tag eine Entschuldigung schreiben.

Der 23. Juni 1919 war ein kühler Sommertag, ein Montag übrigens.

Zwei junge Männer, die über die Kleine Reichenstraße spazierten, drehten sich gleichzeitig um und folgten mit den Blicken dem jungen Ding im hellgrauen Mäntelchen, das ihnen auf der anderen Straßenseite entgegentrippelte. Jettas lockiges braunes Haar war am Hinterkopf zu einem breiten Zopf aufgesteckt, aus dem es hier und da hervorkringelte, und wurde auf dem Scheitel von einer großen hellgrauen Schleife gekrönt. Die konnte man gerade noch unter dem schwarz lackierten, etwas in die Stirn geschobenen Strohhütchen erkennen.

„Guck, die – die ist mal süß!“, murmelte der eine leise.

Jetta tat, als wüsste sie nicht, dass sie angeschaut wurde. Aber um nicht zu schnell aus dem Blickfeld der beiden zu geraten, blieb sie stehen und suchte ausführlich etwas in ihrem gehäkelten schwarzen Beutel.

Man starrte sie bewundernd an! Das war himmlisch!

Sie zog die Schnur des Beutels wieder zu, streckte ihr gerades Näschen in die Luft, machte die großen Augen noch größer und schaute vor sich hin, als wäre sie in Gedanken. Eine geheimnisvolle schöne Frau, die eben mal etwas nachdenkt.

Ob die beiden die Straßenseite wechseln würden, um sie anzusprechen? Und dann?

Sie musste abweisend tun, natürlich …

Alles hatte sich gelohnt. Die ausgekämmten Hundehaare von Frau Simmers Dackel zu sammeln und in einem Netz unter ihr Haar zu stecken, das gab Fülle über den Ohren.

Ruß vom Streichholz zu kratzen, zu Pulver zu zerdrücken, mit einem Tropfen Öl zu verrühren und mit der Zahnbürste in ihre langen Wimpern einzuarbeiten. Jettas graubraune Augen leuchteten noch mal so hell in diesem dunklen Rahmen.

Und der Mantel! Dieser Mantel!

Ihre Schwester Fiti war so herzensgut gewesen, ihn aus einem alten Hauskleid der Mutter zu nähen. Sie hatte ihn ganz nach der neuesten Mode so gearbeitet, dass der Kragen wie eine kleine Pelerine über die Schultern hing. Da wusste man endlich mal, wieso Fiti seit Jahren in Handarbeit eine Eins bekam.

Man sollte sich schon aufbrüschen, wenn man nach Hamburg ging.

Aber nun musste sie weiterlaufen, sonst fiel es auf …

Außerdem würde sie gleich da sein – die weise Frau wohnte in der Straße Kattrepel, gleich hier um die Ecke.

Jettas Stiefelchen saßen etwas zu eng. Ihre Füße waren im Winter ein bisschen gewachsen. Sie war seit fast zwei Stunden unterwegs und hätte ganz gern gehumpelt, denn tatsächlich taten ihre kleinen Zehen sehr weh – doch sie schwebte im Gegenteil, die Fußspitzen anmutig nach außen gekehrt. Kurz blickte sie über die Schulter, wie in den leicht bewölkten Himmel.

Tatsächlich, die beiden jungen Männer überquerten die Straße, immer noch die Augen auf das Mädchen im grauen Sommermantel gerichtet!

In diesem Augenblick kollerte ein Fass von einem eben anfahrenden Lastwagen, rollte über die Straße, knallte gegen den Kantstein und zerbrach. Eine gelbliche, schleimige Flüssigkeit ergoss sich auf die Pflastersteine, ein entsetzlicher Gestank verpestete die Luft.

Jetta blieb mit einem Ruck stehen und starrte auf die eklige Angelegenheit. Auch die beiden jungen Männer hielten mitten auf der Straße erschrocken an.

Für eine halbe Sekunde schien die Zeit stillzustehen.

Dann kam Bewegung in die Szene.

Der Kutscher hatte die Zügel angezogen und schaute über seine Schulter auf die Bescherung. Plötzlich, sehr schnell, kamen von allen Seiten Menschen angerannt und regten sich über den Inhalt des Fasses auf.

„Dass’ vonne Fleischfabrik – son Swienkrom gem die uns zu essen, ich sach ja!“, regte sich eine Frau auf.

Eine andere pflichtete bei: „Klor, alles mittenmang die Sülze, siessu ja nich!“

Immer mehr Leute umringten den Wagen und das kaputte Fass mit dem stinkenden Inhalt. Der Kutscher begann zu begreifen, dass es ein Fehler gewesen war, das Pferd zu bremsen. Er versuchte, das Tier schnell wieder auf Trab zu bringen – doch dem hingen bereits einige Männer am Zaumzeug und drückten ihm den Kopf nach unten.

„Wechfahrn, hier – das mach’s wohl haben!“, schrie einer von ihnen. „Zuerst gucken wir mol, was du noch so aufm Wogn has!“

Während die Fässer von der Ladefläche gerollt wurden, sah der Kutscher zu, dass er unauffällig verschwand. Einige der wütenden Leute versuchten, ein Fass mit Taschenmessern zu öffnen, aber das klappte nicht.

„Eine Axt – wer hat ’ne Axt!?“ brüllte ein großer Kerl, dem die langen Haare um den Kopf flatterten.

Der war aber nicht beim Militär – mit der Frisur, dachte Jetta unwillkürlich.

Weil so schnell keine Axt zur Stelle war, hob der Mann das Fass über den Kopf und schmetterte es an den Kantstein neben das andere. Es zerbrach, und eine weitere unappetitliche Masse gesellte ihren Gestank zur ersten.

Jetta hielt sich die Nase zu. Schade, vorher war es mit den beiden jungen Männern ja recht romantisch gewesen. Dieser Geruchshintergrund passte leider gar nicht dazu …

Wo waren die beiden überhaupt?

Der eine lief eben, zusammen mit mehreren anderen Leuten, in den Eingang des Fabrikgebäudes, über dessen Tür stand Fleischwarenfabrik Heil & Co.

Jetta las auf einem Schild an der Wand: Sülze von größtem Nährwert und delikatem Geschmack. Na, vielen Dank!

Da stürmten die Menschen schon wieder auf die Straße, einer hielt triumphierend etwas hoch. Was war denn das?

„Hier – stellt euch das mal vor! Ein halb vergammelter Hundekopf!“, grölte der Mann mit sich überschlagender Stimme. „Daraus macht der Jacob Heil seine Sülze! Ist das zu glauben?!“

„Da ist er! Da bringen sie den Heil!“, riefen mehrere. Jetta musste ausweichen, weil Heil sich heftig wehrte. Fünf Männer hielten ihn an Armen und Schultern fest und zerrten ihn auf die Straße. Der Mann war kreidebleich und sein Kinn zitterte.

„Jetzt wird Heil zu Sülze verarbeitet! Von größtem Nährwert und delikatem Geschmack!“, kreischte eine Frau, krallte ihre Hand ins Haar des Fabrikbesitzers und zerrte daran.

Oben wurde ein Fenster aufgerissen und jemand rief nach unten: „Ihr glaubt das nicht, hier sind Kadaver von Hunden und Katzen und sogar Ratten! Jetzt wissen wir, aus was der Kerl seine Sülze macht!“

Ein weiterer Mann, offenbar ein Arbeiter im gestreiften Kittel, wurde von anderen empörten Menschen aus der Fabrik geholt. Er war gefallen und konnte nicht laufen, aber sie warteten nicht, bis er wieder auf die Beine kam, sondern schleiften ihn weiter.

„So was machs du abfülln, damit das an uns verkauft wird? Du has doch Augn in Kopp, Mann! So was tus du inne Sülze?! Komm, denn iss das ma selber!“

Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Jetta, wie einige Leute versuchten, dem auf den Knien liegenden Arbeiter etwas von dem grausigen Zeug, von der Straße gekratzt, in den Mund zu stopfen. Igitt!

„Gnädiges Fräulein? Bitte, kommen Sie hier weg – das ist nichts für Sie. Wo wollten Sie denn hin? Ich bringe Sie gern …“, sagte eine Stimme neben Jetta.

Sie schaute auf, in ein paar besorgte blaue Augen. Da stand der andere ihrer beiden Bewunderer. Ganz hübsch war der, mit dunkelblondem Schnurrbart. Zu seinem tabakbraunen Anzug trug er einen etwas dunkleren braunen Filzhut.

Jetta holte Luft, um zu antworten, wurde jedoch gerempelt und gestoßen und musste sich, um nicht ihrerseits auch noch hinzufallen, mit dem Strom bewegen. Der junge Mann bemühte sich, ebenfalls weiter geschubst, an ihrer Seite zu bleiben.

Das war gar nicht einfach, bald konnte Jetta ihn nicht mehr entdecken.

Wo kamen nur all die Leute her? Vor kaum zehn Minuten war die Straße so gut wie leer gewesen. Inzwischen wimmelte es hier von Menschen – fünfzig, sechzig, siebzig … Und es wurden immer mehr.

Eigentlich wollte Jetta gar nicht weggebracht werden. Das alles war zwar erschreckend, aber so schnell wurde ihr nicht bange. Sie war neugierig, wie es weiterging.

Fabrikbesitzer Heil bekam Prügel. Er lief weg, so gut es im Gedränge ging, wurde gestoßen, erhielt hier und da einen Hieb, blieb jedoch einstweilen auf den Beinen. So ähnlich, dachte Jetta, muss das in Paris gewesen sein zur Zeit der Revolution. Die empörte Volksseele hatte ihr Geschichtslehrer das immer genannt.

Ob sie Heil totschlagen würden? Das mochte sie vielleicht doch nicht mit ansehen. Davon würde sie später immer träumen …

Die Menge bewegte sich über den Alten Fischmarkt und die Domstraße auf das Rathaus zu. Inzwischen mussten es mehrere Hundert Hamburger sein. Der Zug wälzte sich am Rathaus vorbei, auf die Schleusenbrücke. Hier wurde der Fabrikbesitzer unter Gejohle, schwupp, in die Kleine Alster geworfen.

Er schwamm, recht unbeholfen in seinem Anzug, vorsichtig an das gegenüberliegende Ufer. Dort standen zwei Polizisten und halfen ihm aus dem Wasser. „Der Mann wird in Gewahrsam genommen!“, rief einer von beiden energisch unter seinem Schnauzbart hervor.

War er nun gerettet – oder verhaftet worden?

Teilweise verliefen sich die Menschen, teilweise blieben sie stehen und redeten aufgeregt miteinander.

„Gnädiges Fräulein – bitte!“ Da war der nette junge Mann wieder neben ihr. „Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, ich hab eine kleine Schwester in Ihrem Alter, deshalb … mein Name ist übrigens Rudolf Büttner …“

Jetta hätte fast einen Knicks gemacht. „Angenehm. Ich bin Henrietta Reckwisch.“

„Fräulein Reckwisch, darf ich Ihnen vielleicht helfen, nach Hause zu kommen?“

Nach Hause – ja, richtig, natürlich. Der Schulunterricht musste bald aus sein! Und die Wahrsagerin?

„Haben Sie die Uhrzeit, Herr Büttner?“, fragte Jetta erschrocken.

Er warf den Ärmel zurück und schaute auf seine Armbanduhr. „Kurz vor halb eins.“

Sie riss die Augen auf. „Au weia! Ich muss wirklich sofort – ach Gott – das schaffe ich ja gar nicht mehr! Ich muss spätestens in einer halben Stunde zu Hause sein, sonst kriege ich schrecklichen Ärger!“

„Und wo genau müssen Sie hin, wenn ich fragen darf?“

„Nienstedten. Pepermöhlenweg, da ist die Gastwirtschaft meiner Eltern, Zum Stern … Wie soll ich denn jetzt bloß … ?“ Jetta kaute am Daumen und war nun keine geheimnisvolle schöne Frau mehr, sondern ein ängstliches kleines Mädchen.

Süß war sie immer noch. Rudolf Büttner bekam, als er sie betrachtete, Lachfältchen in den Augenwinkeln.

„Sie müssen eine Autodroschke nehmen – kommen Sie, da vorne stehen welche!“

Er wollte sie hinter sich herziehen, aber Jetta stemmte dagegen an. „Das kostet doch eine Menge – ich hab kein Geld … das heißt … Ich hab zwar mein Taschengeld seit März bei mir – aber das sollte doch … Ach! Das sollte doch überhaupt für Madame Ruschki sein! Damit sie mir meine Zukunft weist!“

Fast hätte sie geweint. Ihr fiel noch rechtzeitig die Öl-Ruß-Mischung auf den Wimpern ein. Lieber nicht …

„Na, Ihre Zukunft wird finster, wenn Sie zu spät kommen, das haben Sie eben selbst gesagt. Bitte, fahren Sie mit mir, haben Sie Vertrauen. Ich möchte gerade furchtbar gern an die Elbe mit der Autodroschke. Und da nehme ich Sie mit, abgemacht? Natürlich zahle ich, wenn ich so gern dorthin möchte …“

„Ach, Sie sind aber nett!“, fand Jetta und ließ sich gleich darauf von Herrn Büttner in das erste der großen schwarzen Autos setzen, die beim Rathaus in einer Reihe parkten. Ihr Begleiter nannte die Adresse und der Chauffeur warf den Motor an, worauf das ganze Gefährt anfing, zu zittern und zu vibrieren. Es war sehr aufregend. Der Fahrer hupte ein paarmal, was ein Automobil immer tun musste, bevor es losfuhr. In diesem Fall war es notwendig: Die Menschenansammlung teilte sich und ließ die Droschke auf die Straße rollen.

Jetta war noch nicht oft in einem Auto gefahren und genoss das Erlebnis.

Was für ein Tag! Wie viele aufregende Sachen würden wohl noch passieren?

Sie hörte mit halbem Ohr zu, wie Herr Büttner sich mit dem Taxichauffeur über die soeben erlebte Revolte unterhielt. „Der Heil kann man von Glück sagen, dass sie ihn nur ins Wasser geschmissen ham. Die warn ja bannig kurz davor, ihn anne Laterne zu hängn!“, meinte der Fahrer. „Aber wie issas auch möchlich! Ich hör eben, vergammelte Hunde und Katzen und verschimmelte Häute ham sie gefunden? Nun bitt ich Sie! Da passt kein ein auf, jeder kann in seine Wurstwarn reintun, was er mach!“

„Das ist wohl wahr“, antwortete Herr Büttner. „Allerdings glaube ich, in diesen Fabriken werden auch tote Tiere gesammelt und später in andere Verarbeitungen gebracht, um Leim daraus zu kochen. Trotzdem, vom hygienischen Standpunkt aus dürfte so was natürlich nicht sein …“

Der junge Mann lehnte sich zurück und lächelte Jetta an. „Ihren Eltern gehört eine Gastwirtschaft?“

„Ja. Meine Mutter hat die geerbt, noch im Krieg. Und mein Vater war zu Hause, dienstuntauglich, weil sie ihm den rechten Arm in Afrika abgeschossen haben. Da hat er sich um den Stern gekümmert. Aber es ist natürlich schwierig, weil so schlecht Lebensmittel zu kriegen sind. Deshalb ist der Stern im Augenblick noch mehr eine Kaffeestube. Wir backen dauernd Kuchen. Wir haben nur einen Kellner, den haben wir mitgeerbt. Und wir Kinder helfen nach der Schule, soweit wir da sind.“

„Haben Sie viele Geschwister?“

„Nein, nur drei. Einen großen Bruder, Erich, der macht eine Lehre zum Kaufmann in Hamburg seit August. Er war auch schon eingezogen – aber dann war der Krieg eben aus und er wurde nicht mehr Soldat. Teilweise war er traurig und teilweise froh …“

Rudolf Büttner nickte. „Kann ich beides verstehen. Ich hab ein Jahr lang mitgemacht. Möchte ich nicht missen, einerseits … Und doch …“ Er blickte nachdenklich aus dem Fenster. Dann schaute er Jetta wieder an. „Sie haben noch zwei weitere Brüder?“

„Ein Pärchen, Zwillinge, Friedrich und Elfriede. Die sind auch beide etwas älter als ich. Ich bin die Jüngste.“

„Und wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

Aber das mochte Jetta nicht gern verraten. Wenn er erfuhr, dass sie noch keine fünfzehn war, sagte er womöglich nicht mehr Gnädiges Fräulein, sondern Kleine. Sie überschlug im Kopf, was sie über ihre älteren Geschwister erzählt hatte und wo sie sich zeitlich jetzt noch ansiedeln konnte. Also hauchte sie: „Ich werde siebzehn …“

Das wurde sie ja wohl auch mal, falls sie nicht vorher starb.

Herr Büttner schmunzelte etwas ungläubig, widersprach jedoch nicht.

Jetta war kurz davor, ihn zu fragen, wo sein Begleiter geblieben war. Doch dann hätte sie ja verraten, dass ihr die Blicke der beiden von Anfang an bewusst gewesen waren.

„Ach, wir sind schon im Pepermöhlenweg! Gucken Sie mal, da hinten ist der ‚Stern‘. Darf ich hier aussteigen? Hier vorne in dem Gebüsch hinter dem Stein hab ich nämlich meine Schultasche versteckt.“

„Sie haben die Schule geschwänzt, Fräulein Reckwisch? Das ist aber schlimm!“, meinte der junge Mann. Es klang allerdings so, als ob ihn das amüsierte. Er tippte dem Chauffeur auf die Schulter, ließ ihn anhalten, stieg selber aus und öffnete Jetta die Wagentür auf der anderen Seite.

So gut erzogen hätte Jetta sich ihre Brüder mal gewünscht.

Rudolf Büttner begleitete sie noch ein kleines Stück zurück zum Versteck ihrer Schultasche.

„Ja – dann danke ich Ihnen ganz herzlich. Das war sehr freundlich!“, versicherte sie und blinzelte durch die dichten geschwärzten Wimpern nach oben.

„Es hat mir Freude gemacht. Vielleicht sieht man sich mal … Nun hab ich ja Ihre Adresse. Ihre Eltern besitzen gewiss einen Fernsprecher und stehen im Telefonbuch?“

„Schon. Aber mein Vater sieht es nicht gern …“

„Versteht sich. Sie sind ja auch noch so jung. Also, ich glaube Ihnen nicht ganz, dass Sie schon bald siebzehn werden, entschuldigen Sie. Nun, das ist egal. Es war reizend, Ihnen begegnet zu sein, Fräulein Reckwisch.“ Und dann, ganz plötzlich, beugte er sich über ihr Gesicht und drückte einen hastigen kleinen Kuss auf ihre Lippen, bevor er sich umdrehte und ziemlich schnell zur Taxe zurückging.

Jetta stand überwältigt da.

Jetzt war sie von einem erwachsenen Mann geküsst worden! Wenn auch ein bisschen sehr eilig. Hatte er nicht, bevor er sich umdrehte, dicht über ihrem Gesicht, noch leise etwas gemurmelt? Irgendetwas wie „Süße Kleine“? Das war himmlisch.

Sie drehte sich nicht um, sondern holte ihre Tasche hinter dem Stein hervor, während sie hörte, wie hinter ihr das Geratter und Geknatter des Wagens erst lauter wurde – als es wendete – und dann immer leiser.

Plötzlich empfand sie, wie weh ihre Zehen taten. Die ganze Zeit in zu engen Stiefeln, und sie hatte es bis dahin ganz vergessen …

Jetta kam rechtzeitig zum Mittagessen. Leider nur Graupen mit Weißkohl. Sie hatte sich noch schnell umziehen können und trug die gestreifte Schürze über dem Hauskleid, der Zopf hing brav auf ihrem Rücken.

„Wo warst du denn, Jetta? Du hättest mal ruhig helfen können mit dem Mittagessen. Immer muss Fiti alles alleine machen!“, beklagte sich Magda Reckwisch bei ihrer Jüngsten.

„Meine Lehrerin wollte noch mit mir reden“, verteidigte sich Jetta.

Nun schaute die ganze Familie sie an.

„Warum – hast du was ausgefressen?“, fragte Fritz mit seiner hohen Mädchenstimme. Er saß neben Elfriede, beide Zwillinge gleich hellblond. Da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Fiti hatte vom Vater die Farben und von der Mutter den Körper- und Gesichtsbau geerbt, unglücklicherweise. Sie war wenig hübsch, gelinde gesagt. Jeder, der die Reckwisch-Zwillinge nebeneinander sah, musste innerlich den Kopf schütteln über diesen Irrtum der Natur. Der zarte, feine Junge neben dem derben Mädchen mit zu viel Kinn und zu viel Nase und Schultern wie ein Bierkutscher. Was für ein Jammer.

„Nein, ich hab nichts ausgefressen“, antwortete Jetta und pustete auf ihren Löffel. „Frau Hagedorn hat mir noch was erklärt, wonach ich in der Stunde gefragt hatte. Und dann hat sie sich dran begeistert und nicht mehr aufgehört zu reden.“

Sie überlegte, ob die Szene glaubhaft klang, und tuschte noch aus: „Und einige andere sind auch stehen geblieben und haben zugehört, weil es ja auch sehr interessant war. Die kommen sicher auch alle zu spät zum Mittagessen.“

Himmel, Fritz machte ganz enge Augen. Das alte Ekel würde gleich fragen, welches Thema es denn gewesen sei. Jetta blieb die Fantasie stecken.

Aber da wollte ihre Mutter, nachdem sie das Kind aufmerksam betrachtete, plötzlich wissen: „Sag mal, Mädel, hast du etwa Schminke im Gesicht?“

Jetta blickte auf, die gekränkte Unschuld. „Was für Schminke soll ich denn wohl haben?!“

Nach Möglichkeit sah sie nur den Vater an, ihn und Erich. Beide konnten, im Gegensatz zu weiblichen Familienmitgliedern, ihrem Engelsgesicht nur schwer wiederstehen.

Fritz konnte – der hatte selber eins.

„Jetta sieht aus wie immer. Naturschön!“, entschied nun auch Erich, und damit war das Thema vom Tisch.

Der Stern der Elbe

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