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4. Kapitel Im Apfelkeller

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Am Nachmittag nach ihrer Aufklärungsstunde waren die Reckwisch-Schwestern übereinstimmend schweigsam und gedankenverloren. Sie machten ernste Gesichter. Manchmal lächelten sie.

Fiti dachte dabei an Babys.

Jetta nicht.

Am späten Abend, schon im Bett, erzählte sie ihrer Schwester, sie hätte wieder Kopfweh und müsste unbedingt ein bisschen an die Luft. Zog ihr Nachthemd noch mal aus und in Eile Unterwäsche, Hauskleid und Stiefel an. „Schlaf einfach schon, Fiti. Ich bleib bestimmt nicht lange und ich komm ganz leise zurück …“

Fiti legte sich ergeben aufs Ohr. Manchmal brauchte die kleine Schwester eben vor dem Zubettgehen frische Luft, das kannte sie schon.

Jetta schlich über den Flur und die Treppe hinunter, langsam und konzentriert, um knarrende Stellen auszulassen. Magda musste ja nicht unbedingt auftauchen und ebenfalls mit den Kopfschmerzen ihrer Jüngsten vertraut gemacht werden. Unten angekommen huschte sie in den Garten, ganz zum Ende hin, bis zum Gartenzaun.

An der einen Hälfte des Grundstücks, wo Adolf und Nachbar Leu über dies und das miteinander zu plaudern pflegten, war dieser Zaun nur anderthalb Meter hoch. Die andere Seite allerdings, die man vom Reckwisch-Haus nicht einsehen konnte, grenzten höhere Bretter ab. Hier kletterte das Mädchen in die unteren Äste eines alten Kirschbaums, bis sie bequem zum Nachbarhaus hinüberschauen konnte, und begann ganz vorsichtig und verhalten zu pfeifen, die Melodie „Heimlich, still und leise kommt die Liebe“ aus der Operette Frau Luna. Übrigens lag in diesem Fall die Betonung ganz und gar nicht auf Liebe (von der war keine Rede), sondern erklärtermaßen nur auf „Heimlich, still und leise“.

Es dauerte nicht lange, da ertönte aus der sommerlichen Dämmerung die gepfiffene Antwort, ebenso sachte, und es raschelte in den Haselbüschen, durch die sich die stämmige Figur des Nachbarssohns Ludwig, der von allen nur Lutz genannt wurde, drängelte.

Ihr Gespräch fand beinah im Flüsterton statt.

„Jetta?“

„Ja. Hast du was für mich, Lutz?“

„Hab ich. Sogar was Gutes. Gott, ich dachte, du kommst nie mehr.“

„Ich hab dir doch gesagt, ich weiß nicht, ob es überhaupt geht. Nicht jeden Abend.“

„Jeden Abend! Ich war zehn Tage lang hier und hab gewartet. Kommst du rüber?“

Jetta kletterte noch ein Stückchen höher, gar nicht einfach in Stiefelchen und Rock. Andererseits tat sie das nicht zum ersten Mal. Sie rutschte vorsichtig mit beiden Beinen über die Zaunkante und fühlte warme, kräftige Hände, die ihre Waden umschlossen. Ein mutiger Hüpfer nach unten – Lutz hielt sie um die Taille fest, ein Stück in der Luft. Dann setzte er sie behutsam auf den Boden, so dicht, dass sie auf seine Füße trat, und ließ immer noch nicht los. Er war breiter, aber kaum einen halben Kopf größer als das zierliche Mädchen, was bedeutete, recht kurz geraten für seine siebzehn Jahre.

„Wo ist es denn, Lutz?“

„Im Apfelkeller, wo denn sonst? Es ist was Feines, Jetta. Smaragde, glaube ich.“

„Smaragde? Die sind furchtbar viel wert! Zeig mal!“

Die beiden schlängelten sich durch Gebüsch und Gestrüpp, huschten über ein Stück Wiese und durch Gemüsebeete. Das Haus lag im Dunkeln, Familie Leu ging früh schlafen.

Lutz öffnete mit unendlicher Langsamkeit die Tür zum Flur und dann die zum Keller – „Warte!“ –, suchte an der Wand herum, fand einen Kerzenhalter samt Kerze und riss ein Streichholz an. Die kleine Flamme erleuchtete ihre Gesichter mit orangefarbenem Licht. „Schön siehst du aus. Was du für Wimpern hast!“, flüsterte er.

Jetta lächelte und trippelte voran, die Steinstufen nach unten. Hier dufteten die Äpfel auf Regalen. Lutz suchte auf einem der Regale, weit hinten, und zog einen Holzkasten hinunter, den er öffnete – und zwar so, dass Jetta nicht hineingucken konnte. Behutsam angelte er etwas Kleines aus dem Behälter und verstaute ihn wieder. „Hier, Kind, möchtest du das haben?“

Smaragde waren es nicht, das erkannte Jetta sofort, obwohl die Kerze nicht besonders viel Licht spendete. Aber ganz entzückende Aquamarin-Ohrringe, in Gold gefasst. „Sind die hübsch!“

„Nicht wahr? Also – soll ich sie dir schenken?“

Jetta nickte. Ihr Herz schlug heftig – weniger wegen der Entdeckungsgefahr oder der Ohrringe, sondern vielmehr, weil sie wusste, was jetzt kam.

„Gut. Du sollst sie haben. Was bezahlst du mir dafür? Zehn Minuten?“

„Zehn Minuten? Du bist wohl toll! Das hatten wir noch nie. Ich muss ja wieder zurück. Und überhaupt … Gib die Ohrringe doch, wem du willst.“ Jetta strebte zur Treppe zurück und wurde festgehalten. Das alles gehörte zur gewohnten Verhandlungstaktik, wurde von beiden jedoch ganz ernsthaft betrieben. Nach einigem Hin und Her einigte man sich auf sechseinhalb Minuten.

Lutz Leu zog umständlich eine flache goldene Uhr aus der Hosentasche, die sein Großvater ihm vererbt hatte. Dabei handelte es sich um ein Wunderwerk, fähig, eingestellte Minuten anzuzeigen wie eine Eieruhr. Er stellte und drehte und schraubte, legte die Uhr mit aufgeklapptem Deckel auf ein Apfelregal und zog Jetta sehr heftig in seine Arme, um keine Sekunde zu vertun.

Nun wurde geknuddelt. Noch nie hatte Lutz sie geküsst. Er benutzte nur seine Hände, um Jetta, schwer atmend, zu drücken und zu kneten. Sie bemühte sich, ihre Abartigkeit (wie ihre Mutter es genannt hätte) zu verbergen, indem sie ein gelangweiltes Gesicht zog. Eigentlich war ihr die Bezahlung fast so lieb wie der Schmuck, sie war verschmust wie ein Kätzchen und ließ sich gern umarmen. Als die Uhr einige zirpende Geräusche von sich gab, war sie ebenso enttäuscht wie Lutz.

Sie sagte allerdings: „Ah, endlich! Lass los – willst du gleich loslassen? Ich muss zurück. So, gib mir die Ohrringe – danke. Die sind auch wieder von deiner Großmama aus Haseldorf?“

„Natürlich.“

„Wie kommt das bloß, dass du da immer so viel Schmuck findest?“

„Ach, gleich nach dem Krieg und schon in den letzten Kriegsjahren haben die Menschen ihr all so was gebracht, und auch Teppiche und Tafelsilber, gegen Eier und Schinken. Landwirte waren die einzigen, die noch was hatten. Teilweise hat sie’s einfach in Schubladen geworfen. Es lohnt sich, in ihrem Haus ein bisschen zu suchen. Sie weiß überhaupt nicht mehr, was sie alles hat. Und seit sie so krank ist und im Bett liegt, interessiert es sie auch nicht mehr. Sie freut sich, wenn ich ihr vorlese. Und wenn sie schläft, guck ich ein bisschen herum …“

Sie stiegen die Kellertreppe hinauf und schlichen in den Garten. Inzwischen war der Mond aufgegangen. Man sah also mehr, konnte jedoch auch leichter entdeckt werden. Sie liefen diesmal nicht quer über die Wiese, sondern lieber seitlich im Baumschatten zum Zaun.

Jetta wurde von Lutz hochgehoben, bis sie auf dem Zaun saß, schwang sich zurück in den Kirschbaum und kletterte nach unten.

Gleich darauf glitt sie auf Zehenspitzen durch die immer noch halb geöffnete Tür ins Mädchenzimmer. Sie konnte an den tiefen Atemzügen hören, dass Fiti schlief. Den ergatterten Schmuck steckte sie, in ein Taschentuch gewickelt, zu seinesgleichen ganz hinten in ihre Nachtschrank-Schublade. Zog die Kleider aus und ihr Nachthemd an und schlüpfte unter die kühle Bettdecke. Immer noch etwas außer Atem legte sie den Kopf auf ihr Kissen, schob eine Hand darunter und blinzelte durch den Gardinenspalt in den Mond. Hätte Magda sie jetzt gesehen, hätte sie schon wieder hohes Fieber befürchtet, denn Jettas Gesicht glühte ganz genau wie am Vorabend, als sie aus der Autodroschke mit Rudolf kam. Küssen war himmlisch. Aber so durchgeknuddelt zu werden auch.

All dies gefiel ihr: die Heimlichkeit, das Allein-unterwegs-Sein in der Nacht, das Verhandeln mit Lutz, seine Bewunderung, sein heftiger Atem, wenn er sie umklammert hielt, die Macht, die sie über ihn hatte. Warum glaubte ihre Mutter, ein Mann wäre nicht im Zaum zu halten?

Im schlimmsten Fall brauchte sie nur zu sagen: „Hör auf oder ich hab dich nicht mehr lieb!“ – dann ließ er los.

Jetta schloss zufrieden die Augen und schlief fast sofort ein.

Irma, am Kellerfenster unter ihr auf den Zehenspitzen, stieg ebenfalls wieder in ihr Bett neben dem der schlafenden Amalie. Sie starrte in die Dunkelheit und dachte darüber nach, was Jetta wohl gemacht hatte in der vergangenen halben Stunde ganz hinten im Garten.

Adolf Reckwisch war ein ansehnliches Mannsbild, daran änderte auch der fehlende Arm nichts. Es gab weibliche Kaffeegäste, die kamen überhaupt nur seinetwegen, und Addi konnte sogar charmant sein, hin und wieder. Er plauderte und scherzte mit den Gästen, zeigte beim Lachen seine sehr hübschen Zähne.

Dann kam Magda herein und brachte neuen Kaffee oder ein bestelltes Stück Kuchen. Und dann fragten sich die Gäste, wie um Himmels willen dieser Mann bloß zu dieser Frau gekommen war.

Magda wunderte sich ja selber über so viel Glück.

Kürzlich hatte das gute Malchen sich beim Kuchenbacken getraut zu fragen: „Wie haben Ihr Mann und Sie sich eigentlich kennengelernt, Frau Reckwisch?“

Da lächelte Magda, während sie das Mehl mit dem Backpulver mischte und auf die mit Margarine verschlagenen Eier siebte, versonnen vor sich hin und erzählte: „Das ist jetzt schon zwanzig Jahre her, Malchen, 1899 war das. Meine Eltern besaßen eine Gärtnerei in Rellingen. Ich bin das einzige Kind gewesen und hab natürlich geholfen. An einem Sonntag sind wir in eine Gastwirtschaft in der Nähe gegangen, nach einem Spaziergang, weil mein Vater Durst auf ein Bier hatte. Und da hat mein Mann – also Herr Reckwisch – gekellnert. Er war ja noch sehr jung …“, fügte sie ehrlicherweise hinzu. Sie wäre nicht auf die Idee gekommen, zu behaupten: Wir waren noch sehr jung. Immerhin hatte sie ihrem Mann neun Jahre voraus.

Wirklich hatte Addi, als sie ihn zum ersten Mal erblickte, noch jünger ausgesehen, als er war. Beinah wie Fritz jetzt. Die zarte weiße Haut, die großen blauen Augen, das weiche, glänzende blonde Haar …

Magda erinnerte sich daran, wie Adolfs Anblick sie verzaubert hatte. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass ausgerechnet sie eines Tages …

Ihr Lächeln wurde verträumter, sie hörte auf, den Teig zu rühren und schaute aus dem Fenster. Als ihr bewusst wurde, dass Malchen (und ihre kleine Tochter, die mit offenem Mund am Spülstein stand und abwusch) sie anstarrten, gab sie sich einen Ruck und rührte energisch weiter. „Und bereits am Montag darauf stand er doch vor mir und hat sich einen Rosenstock gekauft! Er hatte sich erkundigt, wer und wo wir waren, und ist in die Gärtnerei gekommen. So fing das an. Wir sind spazieren gegangen, er hat mich zum Tanzen mitgenommen. Und dann hat es nicht lange gedauert, bis er Papa um meine Hand gebeten hat.“

Magda blickte wie in nachträglicher Verwunderung auf diese große, kräftige Hand, die den Holzlöffel hielt.

In der Tat hatte Addi sich damals genau erkundigt, erfahren, dass Magda die einzige Tochter und Erbin war, und ihr mit einer gewissen Verzweiflung seinen Namen angetragen. Er war hoch verschuldet, ihm stand das Wasser bis zum Hals. Im Grunde sah er nur zwei Alternativen für seine Zukunft: Selbstmord begehen oder einigermaßen reich heiraten. Insofern hatte Magda ihm das Leben gerettet.

Wie er gehofft hatte, half der gemütliche Schwiegervater ihm, nachdem er seine betrüblichen Umstände beichtete, aus der Patsche. Klopfte ihm auf die Schulter und empfahl, in Zukunft umsichtiger zu sein.

Adolf Reckwisch gab sich Mühe. Er brachte seine Arbeitskraft in die Gärtnerei ein, das machte er nicht schlecht für jemanden, der von Pflanzen keine Ahnung gehabt hatte. Er betrog Magda höchst umsichtig, so diskret war er im Leben noch nicht gewesen. Sie war keine schlechte Ehefrau. Sie machte keine Vorwürfe, sie jammerte nie, sie wollte nie reden. Was er tat, war in ihren Augen recht getan.

Und dann erbte sie auch noch, mitten im Krieg, die Gastwirtschaft an der Elbe von irgendeinem Onkel. Von so was hatte Addi sein Leben lang geträumt, Gastronomie war sein Leben. Zum Krug stand auf dem Schild über der Tür. Doch an dem Abend, als er Heimaturlaub hatte und sie gemeinsam das Gebäude in Nienstedten besichtigten, stand der Abendstern groß und hell direkt über dem Haus am Pepermöhlenweg, beinah so aufdringlich wie auf Weihnachtsbildern der Stern von Bethlehem über dem Stall.

„Guck mal, Magda! Als ob er uns Glück bringen will! Wir nennen unsere Gastwirtschaft Zum Stern, was meinst du?“

Magda hatte, wie immer, zugestimmt.

Adolf verkaufte sofort die Gärtnerei – Magdas Eltern waren inzwischen beide verstorben – und steckte das Geld in die Renovierung der Gaststätte Zum Stern. Dann fuhr er nach Afrika und ließ sich den Arm abschießen. Was, bei Licht betrachtet, auch eine Art Glück gewesen war. Denn so kam er fast ein Jahr vor Kriegsende nach Hause, lebendig so weit, und konnte sich selbst um seinen Stern kümmern und über sein Reich herrschen.

Im Krieg musste er Befehle entgegennehmen (wenn auch teilweise von einem so wunderbaren Menschen wie Lettow-Vorbeck). Hier in Nienstedten war er der absolute Despot. Jeder kuschte vor ihm – ausgenommen sein ältester Sohn. Aber da beide keinen Wert darauf legten, diese Rebellion an die große Glocke zu hängen, blieb sie weitgehend unbemerkt.

Erich Reckwisch war ein nüchterner Mensch. Er hatte keine Träume, er machte Pläne. Sein Verstand eignete sich hervorragend für Zahlen, und er berechnete die Zukunft. Manchmal verrechnete er sich natürlich.

Eines Tages wollte er ein eigenes, großes Warenhaus besitzen. Und Claire Bruhn, die Tochter seines Ausbilders, die sich ja bisher jedenfalls nichts aus ihm machte.

Claire passte nicht recht in eine Zeit, in der die Frauen gertenschlank und nervös-energisch herumliefen. Sie war ein bisschen üppig, ja, zwischen ihrer Kinnlinie und dem Hals saß schon etwas wie ein angedeutetes Doppelkinn, ein behagliches kleines Polster.

Claire wirkte wie ein warmer, schläfriger Sommernachmittag. Das rotblonde Haar zweigte immer einige kleine Strähnen aus der Frisur, die weich in ihre Stirn oder den Hals hinunterhingen und dazu einluden, sie hochzuheben und die warme Haut darunter zu küssen. Erst recht regten ihre sehr vollen, blassrosa Lippen zu solchen Gedanken an. Die passten schon gar nicht in die Zeit: kleine, schmale dunkle Münder galten als Schönheitsideal.

Während Erich in der Kurzwarenhandlung ihres Vaters Stoffhandschuhe sortierte (denn Bruhn verkaufte nicht nur Garnröllchen und Reißverschlüsse, sondern auch Gürtel, Strümpfe und eben Handschuhe), seufzte er innerlich: Ach, Claire … Er hatte Sehnsucht nach ihr, als wären sie durch Meere getrennt. Dabei lag sie ein Stockwerk höher auf dem Sofa und spielte mit ihrem fetten Angorakater. Außerdem war er aber auch wütend auf sie, denn sie benahm sich ihm gegenüber absolut aufreizend: abwechselnd kühl, schmollend, abweisend, oder richtig arrogant.

Vorhin hatte sie ihn angefahren, weil er, als sie vor dem Laden stand, nicht sofort herbeigestürzt war, um ihr die Tür zu öffnen. Dabei war nicht deutlich ersichtlich gewesen, ob sie überhaupt eintreten wollte. Hätte er eilfertig geöffnet, hätte sie ebenso gut fragen können: „Was ist denn mit Ihnen los, Herr Reckwisch? Brauchen Sie frische Luft?“ Genau das hatte sie nämlich schon einmal gemacht.

Der alte Bruhn strich misstrauisch durch den Laden. Seine Einstellung zum jungen Reckwisch war zwiespältig. Einerseits handelte es sich hier um seinen besten Mitarbeiter, seiner Jugend zum Trotz, ordentlich, zuverlässig, tüchtig in jeder Beziehung. Und doch … Erich war dem Chef zu groß, zu intelligent, zu selbstbewusst (wo gab es denn so etwas! Ein Kerl von gerade achtzehneinhalb, der nie unsicher war, nie rot wurde, der mit voller, tiefer Stimme sprach und auch noch immer recht hatte!)

Erich benahm sich höflich und gut erzogen – doch er lächelte selten, er duckte sich nicht vor Herrn Bruhn, er verzichtete darauf, sich angenehm zu machen.

Wozu war man Chef, wenn ein auszubildender Jüngling nicht ein wenig auf dem Bauch kroch?

Vielleicht hätte Erich sich wirklich verbindlicher gegeben, wenn er geahnt hätte, dass auch Claire sein Selbstbewusstsein nicht behagte. Sie war schon gewohnt, dass die Angestellten und Lehrlinge von Papa sie anschmachteten. Bloß, dieser junge Mann (ein halbes Jahr jünger als sie selber!) schmachtete ja nie. Er blickte sie aus seinen kalten graubraunen Augen in dem kantigen Gesicht eigentlich immer so an, als wollte er ihr befehlen, sich jetzt mal hinzulegen. Das war zwar einigermaßen aufregend und jagte ihr auch einen Schauer über die Arme – aber beängstigend blieb es eben doch. So rettete sie sich, indem sie ihn schnippisch und von oben herab behandelte.

Die Bewegungen, mit denen Erich die Handschuhe hinlegte, verrieten ein wenig seine Wut. Bruhn blieb stehen, schaute sich das an und bemerkte: „War ein langer Tag, was, Reckwisch? Da können die Handschuhe aber auch nix für. Na, seit drei Minuten ist Feierabend. Lassen Sie man liegen und machen Sie morgen früh weiter. Ich schließ ab, jetzt kommt keiner mehr.“

Erich ging zu Fuß nach Hause, ziemlich tief in Gedanken. Trotzdem bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass eine Frau neben ihm fast auf die Fahrbahn getreten wäre, während gerade ein Automobil vorbeiratterte. Er schnappte nach dem Arm der Dame und hielt sie fest: „Vorsichtig, passen Sie auf!“

Ihr Korb fiel zu Boden, Kartoffeln kollerten heraus, halb auf das Straßenpflaster und halb auf den Gehweg.

„Hab ich mich verjagt! Aber danke – ich hab den gar nicht kommen sehen.“

Erich sammelte Kartoffeln und legte sie in den Korb: „Na, laut genug sind die Maschinen doch wohl?“

Sie hockte neben ihm und sammelte mit. „Natürlich, stimmt schon … Ich hab geträumt, glaube ich …“

Sie lachte ihn an, ein hübsches Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und tiefen Grübchen in den Wangen, eine Blondine. Die Frau war sicher schon dreißig, aber, wie sein Freund Siegmund bestimmt gesagt hätte: „Sehr proper“.

Erich tat, was er bei Bruhns so gut wie nie machte: Er lächelte. Gleich darauf war er zum Kaffee eingeladen und trug ihr den Korb nach Hause. Und ob er so nett sein könnte, ein bisschen Holz für sie zu zerkleinern? Sie gab ihm gerne fünf Mark dafür …

Hannelore Lenz wohnte um die Ecke, am Rand von Nienstedten, in einem ziemlich kleinen eigenen Haus.

„Das Obergeschoss hab ich vermietet. Von irgendwas muss ich ja leben, seit mein Mann gefallen ist. Ich war immer traurig, dass wir keine Kinder hatten, inzwischen bin ich froh. Mit einem Kind wäre das alles noch viel schwieriger.“

Während Erich im Hof den Rest seiner Wut auf Claire Bruhn am Holz ausließ, kochte Frau Lenz den Kaffee, und zwar echten, wie es ihn auch im Stern gab.

Etwas später saß Erich auf einem unbequemen Küchenstuhl, schlürfte vorsichtig aus seiner Tasse und beobachtete die Witwe, die Geschirr in den Schrank stellte. Ein bisschen mollig war sie, und das gefiel ihm ja gut, obwohl es nicht der gerade herrschenden Mode entsprach.

Hannelore plapperte und plauderte und lachte viel mit ihren Grübchen. Es war deutlich, dass sie ihn nett fand. (Das tat Erich in der Seele wohl nach dem letzten Auftritt von Claire.) Sie erzählte auf drollige Art von ihren verschiedenen Schwierigkeiten als alleinstehende Frau, zum Beispiel mit ihren Untermietern, zwei Herren und einer älteren Dame.

Erich stellte die leere Tasse hin und stand auf.

„Ach! Wollen Sie schon gehen?“, fragte Frau Lenz mit enttäuschtem Blick.

Er schüttelte den Kopf. „Eigentlich würde ich gern bleiben.“

Sie schauten sich eine Weile an, während sie ein rotgewürfeltes Küchenhandtuch zu einer Schnur drehte. Dann lief sie auf ihn zu, er brauchte nur die Arme auszubreiten und sie festzuhalten.

Das ging jetzt aber wirklich schnell!, dachte er überrascht. Das Küchenhandtuch fiel zu Boden und die Frau begann zu weinen. Vielleicht fand sie, dass es zu schnell ging?

Sie schluchzte an seiner Brust, sie bäumte sich richtig, hielt jedoch die Arme fest um seinen Hals geschlungen.

Erich murmelte: „Es ist ja gut. Es ist doch gut. Jetzt bin ich ja bei dir, meine Kleine.“

Und sie sah auf, mit nassem Gesicht, schon wieder die Grübchen in den Wangen. „Ach, ich dumme Gans – entschuldige … Ich weiß gar nicht … Ich bin nur so froh, weißt du? Ich bin ganz froh, dass du bleiben willst …“

Der Stern der Elbe

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