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Er hörte das Auto, dann abruptes Rutschen auf Steinen. Türreißen, steinige Geräusche, Frauenstimme die schrie: „Sitz!“ Eine sich überschlagende Frauenstimme: „Sitz! ... sitz!“

Langsam öffnete er die Augen, sah unten auf den Steinen, dem Sand einen Hund sitzen. Knapp vor seinen Füßen einen Hund und eine Frau, die ihn, weit vorgebeugt, am Hals festhielt. Mit der linken Hand, hinten am Halsband. Eine irgendwie elegante Frau, in heller Bluse, grau, - auch wenn sie ihn mit weit aufgerissenen Augen, verzerrtem Mund anstarrte. Mit den rechten Fingerspitzen stützte sie sich auf die Erde, um nicht zu fallen.

Helmut schloss wieder die Augen, sagte sehr langsam: „Hallo ... Hund -!“

Schluchzen, Geräusche wie Weinen. Die Frau kniete jetzt im Sand, fasste ihn am Kopf von beiden Seiten, drückte die Stirn gegen seine Stirn. Fest, sehr fest, drehte die Stirn hin, her. Sie küsste ihn, weinte. „Ich dachte ... dir wäre was passiert - .“

Er richtete sich auf, stützte den Ellbogen auf den Rucksack. „Nein - dot bin ich noch nich‘. Hab nur geschlafen.“ Er streichelte ihren Kopf, küsste die Stirn. Und auf einmal war der Hund da, lautlos, ganz vorsichtig schob er seine Nase zwischen ihrer beider Gesichter. Die Nase war kalt und feucht.

Sie lachten, saßen in der Böschung, Freya hielt seine Hand. Mit den linken Fingern streichelte er den Hund, der das anscheinend mochte. Ein Terrier mit rauhem, irgendwie hartem, drahtigem Fell, das sich gut anfühlte.

„Ach, Helmut -“, wieder schluchzte sie, „ich dachte, dir sei was passiert. Mein Gott.“ Tränen liefen übers Gesicht, alles nass. „Ich muss fürchterlich aussehen ... dabei hatte ich mich extra schön gemacht für dich.“

Er sah sie lächelnd forschend an. „Du siehst prima aus.“ Mit einem Taschentuch aus der Hose trocknete er ihr das Gesicht ab. Nur der Lidschatten oder wie das heiße sei ein bisschen verlaufen, das Schwarze vom Augenlid, - rieb ihre Wange, feuchtete den Tuchzipfel mit der Zunge an, rieb noch einmal. „Wieder perfekt!“ sagte er, lachte.

„So verkrümmt, wie du auf der Erde lagst -. Auf der nackten Erde ... ich dachte...“

Er liege beim Schlafen immer verkrümmt, unterbrach Helmut sie, das sei seine embryonale Ruhestellung. Er sei auf einmal müde geworden: die Wärme, der lange Weg bergauf. Und plötzlich sagte er dann: „Mach mal die Augen zu!“, langte um sie herum nach einem Apfel im Gras.

Gehorsam hatte sie die Augen geschlossen, er bewegte den Apfel dicht unter ihrer Nase. „Was riechst du?“

Freya zog mit der Nase tief Luft ein, entließ sie gleich drauf mit Schluchzen durch den Mund. „Ich weiß nicht -.“

„Los, gib dir Mühe!“

„Ein Apfel -?“

„Nicht nur ein Apfel“¨, sagte er überlaut begeistert, „ein Sommerapfel, Roggenapfel oder wie die hießen.“ Auf die sie immer so scharf gewesen seien, um diese Jahreszeit. Die ersten neuen Äpfel im Jahr! Er biss hinein, schluckte, berührte mit dem abgebissenen saftigen Rand ihre Lippen, benetzte sie.

Sie lachte, biss auch in den Apfel, öffnete wieder langsam die Augen.

„So gefällst du mir besser“, schnauzte er. „Die hab ich extra für dich gesucht ... diesen großen Haufen hier! Reif und ganz dick.“ Sie sah zu, wie er die gesammelten Äpfel in den Außentaschen des Rucksacks verstaute. „Sag mal“, sagte er dann leise, „hattest du immer grüne Augen -?“

„Ich glaube.“ Sie lächelte.

Er strich ihr übers Haar, erhob sich abrupt, nahm den Rucksack mit der rechten Hand hoch. „Los, kommt endlich ... wo ich jetzt nicht mehr laufen muss.“

Auch der Hund sprang auf, bellte, kletterte durch die offen stehende Tür ins Auto. Sie lachten. Der sei ganz verrückt aufs Autofahren, meinte seine Schwester, obwohl erst ein Jahr alt. Noch nicht mal ein Jahr, aber Autofahren bereits gelernt. Helmut legte den Rucksack in den Kofferraum, drückte den Deckel zu.

„Ich kann hier nicht drehen“, sagte sie, er fand das Schloss des Sicherheitsgurts, hakte ein. Sie fuhr weiter bergab, setzte unterhalb der Grashaufen rückwärts in den abgehenden Forstweg, wendete. Helmut hatte den linken Arm um die Lehne gelegt, berührte den Hund, und der spielte mit, biss ihn in die Hand, knabberte. Aber sehr vorsichtig, nass.

Helmut erkundigte sich nach den riesigen Grasbergen. Irgendwie ungewöhnlich riesige, habe er sich vorhin schon Gedanken drüber gemacht.

Die seien dabei, Trockenrasen zu machen, sie lächelte ironisch. All dies sei jetzt Naturschutzgebiet, ihre rechte Hand machte eine Bewegung durchs ganze vordere Auto, und deshalb kippten sie das gemähte Gras immer unten vorm Wald ab.

„Das sieht fürchterlich aus.“

„Das sieht nicht nur aus, das ist fürchterlich. Das Zeug fault, und die ganze Brühe läuft in den Wald. Da stinkt‘s nur noch. - Eigentlich wollen sie alles auf Sondermülldeponien entsorgen, doch wer soll das bezahlen.“

Sondermüll -?, sagte Helmut entsetzt.

„Ja, die heben alle ab. Bei so etwas dreht sich mir natürlich der Magen um -. Ich habe schon zig mal gefordert, die Flächen richtig zu mähen und wie früher Heu zu machen! Die verpackten Ballen könnten sie den Rinderzüchtern schenken oder den vielen Pferdehaltern, die es jetzt gibt. Die würden sich das Heu sogar selbst abholen, mit Kusshand, für umsonst. Oder sie könnten es sogar verkaufen.“ Sie hatte sich in Erregung geredet, hielt an. „Aber nein! Sogar der Ansgar, mit dem ich wirklich gut kann, lacht nur, wenn ich mich so aufrege. Ich müsse immer groß denken!, sagt er nur stets. Der Ansgar ist hier zuständig, für den Naturschutz. Aus Süddeutschland, irgendwo unten vom Bodensee, spricht noch markanten Dialekt. Groß denken! sagt der immer, Naturschutz muss denen etwas kosten. Viel! Sonst nehmen sie das nicht ernst. Je mehr er kostet, desto wertvoller werde er ihnen: - und desto mehr Geld würden sie anschließend dafür noch herausrücken.“

Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Er sah sie von der Seite an. „Ja -.“

„Nicht ja ... nein! - Ich sei immer noch viel zu sehr Ossi, denke zu kleinräumig. Ich hätte das geltende Prinzip noch immer nicht richtig kapiert! Groß denken -. Wenn die Grashaufen endlich groß genug geworden seien, würden sie entsorgt werden, zur Sondermülldeponie. Das erzählt mir ständig der Ansgar - wenn ich mich über das Gras aufrege -, und mit dem verstehe ich mich inzwischen wirklich gut. Inzwischen verstehen wir uns gut.“

Sie lachten. Freya schüttelte noch immer den Kopf, atmete schwer.

„Verdammt, ich war Ökonomin!“ sagte sie bitter. Sie hatte die Hände schlaff auf dem Lenkrad, sah nach vorn ins Weite. Irgendwie weit in die Weite, Helmut sah sie von der Seite an. Der Hund biss auf seiner linken Hand herum, nicht mehr auf einzelnen Fingern, sondern auf der halben Hand. Vorsichtig, ohne dass es wehtat, doch begeistert.

„Ich wusste gar nicht, dass du mit so vielen Männern zusammenlebst“, sagte er plötzlich nachdenklich, ernst, „hätte ich das gewusst, würde ich mir wirklich überlegt haben zu kommen.“

Sie fuhr herum. „Ich lebe mit keinen Männern zusammen, Helmut, ich bin allein. Ich lebe in dem Haus ganz allein!“

„Da bin ich mir nicht mehr sicher“, sagte er traurig.

„Der Ansgar ist nur ein guter Freund, ein ferner Freund, ach, Bekannter. Der ist fünfundzwanzig Jahre jünger als ich, der hat Frau und Kinder. Wir waren fürchterlich aneinander geraten, im Anfang, und jetzt arbeiten wir zusammen. Beim Naturschutz. Diese ganze riesige Fläche ist Naturschutzgebiet geworden. Weil ich hier nun mal wohne, fand ich es sinnvoll, da mitzumachen. Doch auch sonst. Ich finde es sinnvoll, sich um die Umwelt zu kümmern, sehrsehr sinnvoll. Und nötig. Wir haben nur gleiche Interessen, müssen uns ständig austauschen, abstimmen, wie wir weiter vorgehen. Zu uns gehören noch zig andere Leute, wir sind eine richtig gute Gruppe, und weil ich hier wohne, am Rande des neuen Naturparks, treffen wir uns häufig bei mir. Manchmal ist das Haus ganz voll. Da wird dann richtig geschrien, diskutiert. Gestritten!“

Das Gesicht in Eifer verzogen, ihre Pupillen groß.

Er wiegte den Kopf, murmelte: „Ich weiß nicht -.“

Sie hob wieder heftig an zu erklären, als sie bemerkte, dass etwas nicht stimmte, sah seinen rücklings verdrehten Arm, den kauenden Hund, lachte. „Ach, Helmut ... an deinen Humor muss ich mich auch wirklich erst wieder gewöhnen - .“

Sie schlug mit der Stirn gegen seinen Kopf, traf links oberhalb der Schläfe.

„Au ... dass das ein Mann ist, ein sehr Liebe bedürftiger, wirst du wohl nicht abstreiten!“ sagte er streng.

„Das ist Kalle. Ich hatte dir von ihm erzählt.“

„Hast du nicht.“

„Mit Sicherheit habe ich dir von ihm geschrieben. Oder am Telefon erzählt, mit Sicherheit.“

Er könne sich nicht erinnern.

Doch! Eigentlich habe sie überhaupt keinen Hund haben wollen, doch Freunde von früher hätten sie überredet. Wenn sie in dieser Wildnis wohne, brauche sie einen Hund. Und ein Freund, mit dem sie zusammen Examen gemacht habe, züchte nun Hunde. Davor sei er Hauptmann gewesen. Jetzt seien sie zurück nach Rügen, woher sie ursprünglich stammten, er züchte Terrier und sie habe da oben eine eigene Praxis aufgemacht. Zum Glück sei sie Zahnärztin gewesen. Halbwegs liefe es jetzt mit ihnen, nur habe er auf einmal Prostatakrebs bekommen. „Irgendwie logisch“, sagte sie.

Er wiegte zweifelnd den Kopf. „Klingt zwar logisch - aber im Grunde weiß keiner, woher so etwas kommt. Da streiten sie sich noch.“

„Sicher ... keine Kausalitäten, nicht: so etwas kommt mit Sicherheit von dem da. Doch ein Mann in den besten Jahren, dem plötzlich alles genommen wird: sein Beruf, das bisherige Leben, die ganzen täglichen Abläufe. Und er war mit Leib und Seele Soldat. So etwas muss doch auf die Eier gehen, auf die Prostata.“

„Genau weiß das keiner -.“ Er zog die Nase kraus. „Prostata ist bei Männern inzwischen die häufigste Krebsart, bei Frauen Brust, und all diese Männer sind keine plötzlich entlassenen Soldaten.“

Egal - wenn es auch nicht wirklich egal sei. Doch seine Hunde seien gut: Irische Terrier! „Die sollen ganz tollkühn sein, unglaublich mutig. Gradezu irre mutig, sollen es sogar mit Löwen aufnehmen. Ich weiß zwar nicht, woher man das weiß, da es hier keine Löwen gibt, aber vielleicht haben die Engländer früher diese Hunde mit in ihre Kolonien genommen -. Unglaublich tollkühn, tapfer ... der Kalle soll mich verteidigen bis aufs Blut!“ Sie machte Kunstpause. „Bisher weiß ich aber eigentlich nur, dass er immerfort gestreichelt werden will - .“

Jetzt lachte sie, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

„Der ist noch sehr jung ... kein Jahr alt, sagtest du.“

„Sicher. Er ist wahnsinnig anhänglich, und ich hänge auch an ihm. Wahnsinnig.“ Doch sie wolle alles richtig machen. Da sie wenig Ahnung von Hunden gehabt habe, sei sie mit ihm in die Welpenschule gegangen, danach in die Grundausbildung, jetzt in noch etwas anderes ganz Wichtiges. Die Frau von der Hundeschule habe bei ihnen auch früher irgendetwas ganz Anderes gemacht, sehr sympathische Frau, sie möge sie. Sehr belesen in Hundedingen. Und diese Frau sage ihr oft, wenn sie sie beide beobachte, den Hund, sie, ihr gemeinsames Verhalten, den Umgang miteinander: „Der nimmt sie nicht ernst! - Und das ist korrekt. Das wirklich Schlimme ist nur, dass es mich im Stillen freut, wenn er nicht richtig gehorcht - . Natürlich spreche ich dann streng zu ihm, schimpfe, wenn er nicht macht, was er soll, doch in Wirklichkeit freue ich mich. Ganz tief im Inneren freue ich mich dann - wenigstens ein bisschen.“

Sie lachten.

„Du merkst an meinen Reden über Hunde gleich meine psychiatrische Vergangenheit“, sagte sie lächelnd, „psychoanalytische, psychologische Vergangenheit, habe wirklich einiges gelernt. Und jetzt endlich weiter!“

Die Räder des Autos knirschten auf Steinen. Rechts, links auf den leicht erhöhten Wegerändern nur Gras.

„Das war das mit Kalle. Und als Mann darf er auch neben mir auf dem Sofa liegen, wenn ich lese. Weil das Thema Männer der Ausgang unseres Gesprächs war. Ab und zu auch in meinem Bett - aber unten auf dem Fußende, und nur auf. Obendrauf auf dem Bett.“

„Wusste ich doch -“, sagte Helmut traurig, „fremde Männer.“

„Du siehst gut aus, sogar die Haare sind wieder gewachsen!“ Sie wuschelte ihm mit der rechten Hand übern Kopf.

„Mir geht‘s auch gut ... du siehst, ich bin den ganzen langen Weg gelaufen, zwar langsam, aber immerhin.“

„Du hättest dich vom Taxi gleich bis oben bringen lassen sollen! Oder mich dich vom Bahnhof abholen lassen“, sagte sie streng. „Ich habe eine ganze Stunde gebraucht, um dich endlich zu finden. Um die verschiedenen Wege zu mir abzufahren.“

Nein, er könne sich nicht einfach einfliegen lassen. Er müsse das Land zuerst langsam sehen, um anzukommen. Die Erde unter den Füßen spüren, den Wald riechenı, die Äpfel, Brombeeren. Sie riechen. Besonders nach dieser langen Zeit. Deshalb als erstes den Weg zu Fuß gehen wollen, den sie früher immer gegangen seien.

„Diesen Weg sind wir aber selten gegangen, Helmut -.“ Sie hielt wieder an, lächelte.

„Nicht - ? War das nicht der Schulweg?“

„Nein. Unseren Schulweg zeige ich dir gleich. Den Weg eben sind wir hinuntergelaufen, wenn wir Pilze suchen wollten oder Bucheckern. Da unten am See gab es große Buchen. Dieses eine Jahr, wo es so wahnsinnig viele Bucheckern gab - Siebenundvierzig. Oder Sechsundvierzig. Wir hatten uns aus Kaninchendraht Siebe konstruiert, Sammelsiebe für die Bucheckern, und sind jeden Tag losgezogen. Für zehn Kilo Bucheckern gab es ein Liter Öl. Mutti hat sich immer wahnsinnig gefreut, wenn wir die Eimer voll Bucheckern brachten.“

„Ja -“, sagte er langsam, „ich weiß noch, wie die feuchte Buchenerde roch. Hab ich irgendwie noch immer in der Nase. Doch diese Rahmen waren gut, mit dem aufgenagelten Kaninchendraht, wir haben richtige Sammelrekorde aufgestellt!“

Sie sahen sich an, ihre Blicke gingen hindurch, weit weg.

Doch Kilo -? Komme ihm ein bisschen viel vor. Nicht Pfund? Ein Liter Öl für zehn Pfund.

„Ich meine Kilo ... egal - .“ Plötzlich fasste sie ihn seitlich im Haar, küsste ihn, rieb die Stirn gegen seine Stirn. „Du siehst wieder gut aus.“ In ihren Augen standen Tränen. „Du hast fürchterlich ausgesehen, als ich dich im Krankenhaus wiedersah.“

„Doll dürfte ich nicht ausgesehen haben … zwei schwere Bauchoperationen, plus Chemotherapien. Du hättest nicht kommen sollen. Immer erst warten, bis der Held wieder Held geworden ist -.“

„Du sahst fürchterlich aus. Ich habe die ganze Zeit geheult, im Zug. Auf der Rückfahrt.“

„Könnte es sein, dass du in letzter Zeit zu viel heultst, Frey -?“ sagte er, grinste.

Sie schloss die Augen. „Ja. - Doch ich musste kommen. Als ich da im Krankenhaus anrief, um mich zu erkundigen, wie die Operation verlaufen war, bekam ich gleich den Arzt an den Apparat, der dich operiert hatte. Den verantwortlichen Oberarzt, Chefarzt, und der war ganz high. Wirklich high. Er schrie direkt, lachte ins Telefon - ‚Ihr Bruder ist geheilt!, geheilt!‘ schrie er immer wieder. Der war über seinen eigenen Erfolg total high, ein noch junger Arzt von der Stimme. Und da musste ich sofort kommen!“

Helmut lachte. Die Ärzte da habe er wirklich high gemacht - die seien richtig glücklich gewesen, tagelang. Doch er selbst habe keine Erinnerung an ihren Besuch: nur Schemenhaftes, aber nicht vor Augen, sondern dem Ohr: dass da irgendwas gewesen war. Irgendwer gewesen war. Und wahnsinnige Müdigkeit ständig die Augen geschlossen habe. „Ich hab es dir geschrieben: dass ich an deinen Besuch überhaupt keine Erinnerung habe.“

„Ich musste kommen! Und du sahst fürchterlich aus: an all den Drähten, Schläuchen, ganz bleich, keine Bewegung, nur Zucken in den Augen. Unter den Augenlidern.“

Da sei er noch halb in Narkose gewesen. Acht Stunden Operation, ursprünglich habe sie über elf dauern sollen, mit zehn Liter gebunkertem Blut - . Doch jetzt gehe es ihm nicht schlecht, wie sie sehe. Er grinste.

„Hinterher habe ich nur noch geheult.“

„Du warst zu früh.“

Vorher wolltest du mich nicht sehen!“ sagte sie heftig. „Ich wollte vor der Operation kommen, aber du hast mich abgewimmelt.“

Er hob nicht wissend die Schultern.

„Das vergesse ich nie! Ich wollte dich vorher besuchen - und da hast du mich ganz brutal abgewimmelt.“

„Ich erinnere mich wirklich nicht.“

„Weißt du, was du gesagt hast?!: ‚Wenn du kommst, verliere ich die Ruhe zum Sterben‘. Wörtlich, am Telefon. - Das vergesse ich dir nie!“ sagte sie, schlug ihm mit den Faust gegen die Brust.

Er hielt ihre Hand fest, grinste. „Nicht! Der Hund beißt mich ... der wird schon ganz komisch.“

„Der soll dich beißen!“

Sie lachten, rieben die Köpfe aneinander.

Sei schon spannend gewesen -, meinte er, wirklich. Bis dahin nie mit Krankenhäusern zu tun gehabt. Wochenlange Untersuchungen im ersten kleinen Krankenhaus, bis sie schließlich den Bauch aufgeschnitten, um nachzusehen. Und gleich wieder zugeklappt! „Wie in den bekannten Stammtischgesprächen: - aufgeschnitten und gleich wieder zugeklappt! Hoffnungslos. - Weil‘s aber ein sehr seltenes Gewächs war - ein Leiomyosarkom - wurde ich ins nächste größere Haus weitergereicht.“

Er schloss die Augen.

Da zuerst einmal Chemotherapien, um den Tumor zu schrumpfen. In Abständen, von Wochen. Dann weitergereicht in die Medizinische Hochschule nach Hannover.

„Da warst du sehr lange, hast mir unentwegt geschrieben“, sagte sie.

Eines Tages habe alles zueinander gepasst: keine schweren Unfälle, die vorgezogen werden mussten, die eingeplanten Operateure frei - den Bauch zum zweiten Mal aufgeschnitten. Riesenschnitt. „Und dann haben sie plötzlich gesehen, dass der Tumor überhaupt nicht dort saß, wo die ersten Operateure meinten: nicht in der Bauchspeicheldrüse, sondern darunter, in der Vena cava. Der Großen Hohlvene.“

„Du hast wirklich Glück gehabt.“

„Die muss ich richtig glücklich gemacht haben -. Obwohl natürlich nichts von all dem mitgekriegt. Junge Leute, in den Dreißigern. Kurz danach musst du angerufen haben! Wenn das wirklich Bauchspeicheldrüse gewesen wäre, wär ich schon lange nicht mehr da.“

„Der war völlig aufgeregt, stammelte am Telefon, freute sich wie ein Kind, schrie in den Hörer. Und da bin ich sofort gekommen … mit seiner Genehmigung.“

Die Ärzte tagelang aus dem Häuschen, ständig Sätze wie: ‚Mein Gott, haben Sie ein Glück gehabt!‘ Und da erst habe er begriffen, was für eine gefährliche Operation es gewesen sei.

„Du hast unheimliches Glück gehabt!“

„Heute weiß ich das. Nur die ganze Zeit in den Krankenhäusern, es waren Wochen, Monate, hatte ich nie das Gefühl, todkrank zu sein. Oft gedacht: Was reden die bloß alle -. Natürlich nie etwas laut gesagt, nur still vor mich hingedacht. Wenn man wirklich stirbt, müsste man das eigentlich merken ... und ich spürte nichts. Bis auf die dicken Beine, mit denen ich ständig herumlief, um die fremde Krankenhauswelt zu erkunden.“

Gefühle könnten täuschen - , meinte sie, kenne sie von sich selbst zur genüge.

„Sicher, wusste ich auch damals schon, habe ich ständig in Erwägung gezogen, sozusagen als Gegenprobe. Doch ständig überwog in mir das Gefühl, welchen Unsinn da die Ärzte redeten.“

Sie lachte. „Du hast dich weggedacht ... wie du das immer gemacht hast -. In heile Welten hinein.“

„Mädchen, ich hatte recht!“ protestierte er. „Und dann der letzte Tag ... hab ich das dir schon erzählt?“

Wisse sie nicht, aber bestimmt habe er es ihr geschrieben. „Erzähl!“

Schon nach vier, fünf Tagen sei er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die hätten freie Betten gebraucht, ihn rausgeschmissen. Mit Riesenwunde von Scham- bis Brustbein. Vorher natürlich gefragt, ob er sich schon stark genug fühle. Und eine Stunde vor der Abfahrt sei dann der Onkologe gekommen -.

Er lächelte, seine Zungenspitze benetzte die Lippen.

„Junger Mann Mitte Dreißig, in Jeans, T-Shirt, gar nicht wie ein Arzt. Wirkte irgendwie intellektuell, bestimmt Habilitierter oder kurz davor. Der fing so an, ohne Einleitung: ‚Darüber müssen wir uns klar sein: mit einundneunzigkommasechsprozentiger Wahrscheinlichkeit kommt diese Krankheit zurück!‘ Warum das so sei, darüber stritten die Leute, einige meinten, es seien die zurückgebliebenen Krebszellen im Blut, andere glaubten eher an Prädestination des Körpers für Krebserkrankung. Doch ich sei jetzt einundsechzig, habe ein Leben gehabt. Meine Chance sei das Messer! Sobald irgendwo neue Tochtergeschwülste auftauchten, sofort herausschneiden!“

„Das hat er wirklich gesagt?“

Helmut nickte „Und ganz zum Schluss hat er gegrinst und gesagt: ‚Doch vielleicht haben Sie auch Glück ... und gehören zu den zehn Prozent, bei denen der Krebs nicht wiederkommt.‘ Das so ungefähr der letzte Satz, bevor er ging, und ich nach Hause fahren durfte.“

„Die müssen natürlich dafür sorgen, dass die Patienten auch später noch funktionieren, die Nachsorgen exakt einhalten“, meinte sie nachdenklich.

„Sicher … ich bin dem auch nicht böse. Und bei mir hat er es wirklich prima hingekriegt: die einundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit sitzt mir seitdem wie eingeschossen im Gehirn.“

Sie lachten.

Flirrendes Licht

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