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„Nein!“ schrie sie. „Sprechen! Jetzt bist du bei mir: sprich!“

Er sei ein furchtbarer Redner, sprechen falle ihm äußerst schwer.

„Quatsch, du redest klar, sehr verständlich. Weiter!“

Wenn er rede, habe er immer das Gefühl, dass die Wörter mit ihm machten, was sie wollten, - doch wenn er schreibe, mache er mit den Wörtern, was er wolle. Um genau zu sein, brauche er deshalb das Schreiben. - Das habe mit seiner Hyperventilation zu tun. „Wirklich schlimm ... mein ganzes Leben. Wenn ich vor Menschen reden musste, geriet ich sofort unter Hyperventilation, so dass ich kaum weiterreden konnte. - Wie ich es heute sehe, war es wohl die Hyperventilation.“

Er rede hier nicht vor Menschenmassen, sondern vor ihr: Freya. Einzelperson!

„Habe ich auch schon bemerkt -,“ er grinste, „dass du einzelartig bist. Deshalb fällt mir das Reden auch schon leichter, vor dir. Aber nur ein bisschen.“

„Du redest wie ein Buch.“

„Ich habe aber schon richtige Stiche in der Brust“, jammerte er.

Sie sah ihn forschend an. „Stiche -?“

Vorne, quer rüber. „Richtigen Druck auf der Brust ... wie in dem Märchen! Eiserner Gustav oder wie das hieß.“

„Gustav -? Du meinst den Eisernen Heinrich, den Froschkönig.“

„Ja, den Eisernen Heinrich. Heinrich, der Wagen bricht ... nein, nein, der Wagen nicht ... nur ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen -. Oder wie ging das?“

„Junge -“, sie lachte, trommelte leicht mit den Fingern auf den Tisch, „an dich muss ich mich aber auch wirklich erst wieder gewöhnen.“

Er habe wirklich Stiche, sagte er mit immer noch jämmerlicher Stimme. Von seiner Hyperventilation her oder der jetzt aufgehörten, oder weil er zu wenig trinke. Der Madeira sei ihm zu süß.

„Willst du etwas Richtiges?“

„Etwas mehr Wässriges. Im Ernst, Frey: ich rede zuviel, bin ich gar nicht mehr gewöhnt.“

Nicht zuviel! rief sie über die Schulter, sie brauche das, seine Stimme, sein Sprechen. Als sie zurückkam, hatte sie mehrere Flaschen, Gebäcktütchen im Arm. „Nachher essen wir noch richtig!“

Helmut drehte an der Mineralwasserflasche, bis sie sich schließlich zischend öffnete, goss ihr zwei Finger hoch ins Glas, dann sich. Sie schwenkten das Wasser, um die Süße des Madeira zu tilgen, tranken. Er füllte die Gläser wieder.

„Willst du verdünnen?“ fragte sie, hatte Gin in der Hand.

„Mein Lieblingstropfen: Gin ... aber früher. - Verdammt: ein ganz Kleinbisschen!“

Sie gab einen winzigen Schuss ins Glas, sich selbst einen größeren. Müsse man wenigstens schmecken können … die Kräuter, Gewürze - all das Gesunde.

„Pass mal auf, Frey -“, sagte er, nahm einen Schluck, der eine Spur anders als Wasser schmeckte, „was ich vorhin mit dem Ganzen sagen wollte. - Übrigens toll, wie schnell ich wieder bei meinem Problem gelandet bin!“ Er lachte, schüttete sich mehr Gin ins Glas. Die Gefühle -: sein Thema! Seit Jahrzehnten! Er habe immer behauptet, Menschen würden in ihrem Leben - in ihrem Handeln, Sein, etcetera - fast allein durch Gefühle gesteuert - und nicht über Vernunft, Verstand und so weiter, wie das die bürgerlichen Gesellschaften vor sich behaupteten. In ihren Tempeln der reinen Lehre. Vernunft, Verstand trete fast nicht auf, höchstens minimal, in Spuren, und wenn - als Steuerung - dann beide zusammen, wahrscheinlich auch nur in Form von Gefühlserregung. „Über das Empfinden von Gefühlssignalen! Du verstehst? - Soweit bin ich aber noch nicht ... in meinen Überlegungen. Bei Vernunft, Verstand.“

Er sah sie an, ohne sie zu sehen, sah in sich hinein.

Das sei mit Sicherheit so, erwiderte sie, dass alle im Leben hauptsächlich über Gefühle gesteuert würden. „Wir: du und ich auch, alle! Und das wird seit ewig gewusst, Helmut, seit tausenden von Jahren. Genau das ist wohl immer der Kern in all den Erziehungen, Bildungen, Schulen, der Pädagogik: die überschießenden Gefühlsreaktionen der Kinder unter Kontrolle zu kriegen. Wenigstens etwas, unter ihre Eigenkontrolle.“ Sie dachte nach, fuhr dann langsam fort: „Und vielleicht ist an dieser Stelle genau der Punkt, wo die Gesellschaften, Staaten beginnen: - erst wenn es geschafft worden ist, die wilden Gefühlsreaktionen ein wenig zu steuern, kann so etwas wie Gesellschaft entstehen. Die staatliche Gesellschaft natürlich - der Beginn ihrer Entstehung liegt hier.“

Helmut nickte.

„Es geht immer um Kultivierung der Gefühle durch Denken! Oder wie man es nennen will.“

„Und durch Wissen. Durch Lernen von Wissen!“

„Meinetwegen auch das ... kultivieren durch Denken und Wissen.“ Freya dachte nach, lachte plötzlich los. „Übrigens sind wir auf diesem Weg weitaus weiter gekommen als ihr -!“

Sie konnte vor Lachen nicht weitersprechen, wischte sich Tränen ab, trank. Helmut lachte mit.

„Und ... und deshalb wahrscheinlich kaputtgegangen -. Genau daran kaputtgegangen!“

Sie lachten.

Vielleicht ... könne sein -, meinte Helmut. Sie hier hätten immer versucht, den Leuten ihre Gefühle auszutreiben, besonders die althergebrachten: die mit Besitz, Geld, Gier, Rivalisieren, Übertrumpfen, Besser-als einhergekommen seien. Während sie drüben vor allem nur die Gefühle bedienten. Fast allein die Gefühle. - Das vielleicht das Wesen von Kapitalismus, streng auf Gefühlsebene betrachtet: schluckenschlucken, kaufenkaufen, besserbesser - gleich: schmeckenschmecken. Auf Zunge! Und so etwas sei auf verkürzten Wegen zu erreichen, also materiellen. Was dann wohl heiße: gefühligen Wegen. Von Gefühlen gesteuerten.

„Und die Kunst des Marketings ist, auf die von den Produkten losgelösten Gefühle zu zielen! Den frei vagabundierenden -.“ Sie lachte. „Merkst du was? Wir reden schon wieder wie früher, an unseren langen Winterabenden, vor dem Ofen. Auf deinem Bett.“

„Mit gleicher Begeisterung. Nur dass wir damals dabei nochTee getrunken haben.“

„Ja“, schrie sie, „Mate!“

Am Rio de la Plata!“

Mate-Tee, den Vater habe schicken müssen -, sagte sie versonnen. Karl May gelesen und danach unbedingt diesen Tee gebraucht.

„Solchen Tee trinken ... aus Kalebassen.“ Er leckte sich albern die Lippen. „Kalebasse -: dieses Wort!“

„Hast du mal wieder Mate getrunken?“

Nie wieder. Er sei Schwarztee-Trinker geworden, völlig extremer, literweise.

„Ich schon. Mate ist im Moment sehr in, in bestimmten Kreisen. Bei Umweltschützern, Buddhisten, Yoga-Leuten.“

„Und mit welcher Begeisterung wir damals diskutiert haben -!“ sagte Helmut. „Darauf wollte ich hinaus: die Begeisterung! Und das meint wohl auch Gefühle ...den Gefühlsdruck im Hintergrund. - Ich vermute inzwischen, dass jedes Wissen mit Gefühlen verbunden ist. Nicht unbedingt offenen, aber irgendwie stets im Hintergrund. Im Untergrund.“

Manches ja - aber jedes?, zweifelte sie. Er mache, glaube sie, den Fehler, solche Zusammenhänge absolut zu setzen. - Sie dache nach. Das meiste Wissen werde heute weitgehend abstrakt in den Schulen, Universitäten, übers Fernsehn, Radio und so weiter gelernt, gelehrt. Bei diesen rationalen Erkenntnissen zur Anwendung im täglichen Leben, gehe es aber gerade darum, die Gefühle als mögliche Fehlerquellen zurückzudrängen! - Könne sie als Ingenieurin übers Gefühl gute Brücken bauen -? Oder leistungsfähigen Stahl schmelzen? - um mal bei ihrem Job zu bleiben. Dem früheren. „Was haben mathematische Erkenntnisse mit Gefühlen zu tun -?!“

„Viel“, sagte er, nahm einen Schluck. „Pass mal auf, Frey -. Zwei plus zwei ist vier - okay?“

In Ordnung … ja.

„Wenn ich dir jetzt gegenüber behaupte, zwei und zwei ist fünf!, zuckst du zusammen, sagst entschieden: Nein! - Du spürst, dass meine Aussage falsch ist. Etwas zuckt in dir durch deinen Körper - nicht so sehr durchs Gehirn wie durch deinen Körper -, dass meine Behauptung nicht stimmt! Irgendein winziger Reflex.“

Ja -, sagte sie langsam.

Wenn er fortfahre mit seinen Behauptungen, zwei plus zwei sei fünf, reagiere sie belustigt, amüsiert. Im Stillen denke sie vielleicht: was ist das denn für ein Trottel -? Belustigt, amüsiert zu sein, seien jedoch Gefühlsreaktionen: bei ihr ... in ihr!

Sie dachte nach, schloss die Augen.

Und wenn er noch weiter fortfahre mit seinen Behauptungen, immer so weitermache, werde sie schließlich zornig, einen Wutanfall bekommen, vielleicht schreien: Mensch, bist du ein Idiot! - Wut und Zorn seien jedoch massive Gefühlsreaktionen. Wieder: in ihr!

„Darüber muss ich erst einmal in Ruhe nachdenken können“, sagte sie langsam. „Jetzt nicht!“

„Oder was ist mit deinem Marx, Frey?!“ sagte er schnell. Er erinnere sich an die vielen begeisterten Briefe, die sie ihm damals geschrieben habe, wenn ihr wieder neue Erkenntnisse gekommen seien. Alles, was er über Marx wisse, durch sie gelernt! Durch ihre begeisterten Briefe und ihre Promotion. „Was ist mit deinem Marx?!“

Freya strich sich fest über die Stirn, schloss die Augen. Er sah, dass die Lider nass wurden. „Was soll damit sein -? Weg … vorbei -. Ausradiert.“

„Schlimm“, sagte er, „schlimme Gefühle.“

„Das hat mich richtig krank gemacht. Alles plötzlich weg.“

„Ist jedoch auch unglaublich komisch, Frey ... lach drüber -.“

„Zum Lachen war mir nicht zu Mute, Helmut. Damals nicht, heute schon eher. Wenn ich über die Freiheit der Märkte nachdenke, mit ihren Millionen Arbeitslosen, den Ungleichheiten zwischen den Vermögen, Einkommen, ihrer angeblich rationalen Steuerung und was es sonst noch so gibt an Highlights. Da war der alte Marx schon irgendwie besser - auf jeden Fall weniger ideologisch.“ Dann sagte sie schnell: „Aber jetzt mache ich erst einmal das Abendbrot!“

Er stand mit auf, trug die Gläser, Teller, und während sie in die Küche gingen, meinte er, sie habe es wohl verstanden, dass er Gefühle eng an gelernte Wissen gekoppelt sehe. Das ergebe völlig neue Sichten! Habe ihn immer als Schreiber interessiert, seit Jahrzehnten.

„Und bist du damit durchgedrungen?“

So ganz nicht … richtig durchgedrungen sei er ja überhaupt noch nicht, mit nichts -. Er schnaubte. Nur spüre er, dass dieses Feld sehr wichtig sei, verlange aber völlig andere Schreibe als bisher. Und sei gefährliches Gelände. Seelenleben äußerst gefährlich. Weil seit ewig zementiert, als Erklärungsmodell! Durch die Religionen, fast allen, und ihren angehängten Machtsystemen. Die Seele -: immer und überall heiliger Bezirk, vermintes Gelände. Undurchschaubare Kräfte, völlig richtungslos!

Sie lachte, während sie Käse, Wurst aus dem Kühlschrank auf die Platten legte. „Ich merke schon, wie lange dich das beschäftigt hat.“

„Ja ... unglaublich wie stark Seelen noch immer ihr Unwesen treiben -.“ Er goss das siedende Wasser auf den Tee.

„Das könnte ich wirklich nicht sagen. Es sind doch nur Wörter, Diskussionen auf der Wortebene. - Ich wüsste wirklich nicht, dass wir ans alte Seelenleben geglaubt hätten ... die Psychischen Erklärungsmodelle sehen doch heute ganz anders aus.“

„Aber bei uns nicht! Direkt unheimlich, wie oft da ‚Seelenleben‘, ‚Seele‘ auftauchen - wenn man drauf geeicht ist, genau hinzuhören. In den Zeitungen, dem Fernsehn, Radio, bei Politikern, Wissenschaftlern ... nicht nur bei Pastören, Bischöfen. Ich hatte schon den Verdacht, dass auch dieses Feld gezielt dem Marketing des Freien Marktes unterworfen wird -.“ Er schnaubte auf. „Um deren Verkauf abzusichern!“

Aber das sei doch schon lange bekannt, meinte sie, dass die Religionen, ihre Repräsentanten immer enorm mitgeholfen hätten, die jeweiligen materiellen Herrschaftsbereiche abzusichern. Sei es nun die des Adels, Großbürgertums, anderer Gruppen. Bekannt seien die Versuche, die Erfolge des Kapitalismus mit den rigiden Regeln des Kalvinismus zu erklären.

Das wisse er, habe es noch anders gemeint: - die Erklärungsstrukturen des sogenannten Freien Marktes seien verteufelt ähnlich denen des sogenannten Seelenlebens. Überall freie Triebkräfte am Werk! Erst einmal - die gleiche Richtungslosigkeit.

Wieder kicherte er.

„Das kann ich nicht beurteilen.“

„Denk doch mal nach! Die Richtungslosigkeit im sogenannten freien Markt ... nix mit Plan, Planwirtschaft. Und auch im freien Seelenleben! Der Freie Wille. - Prädestination ... haben sich die Leute schon vor Jahrhunderten den Kopf drüber zerbrochen, wie so etwas funktionieren kann: frei zu denken, zu entscheiden - wenn Gott vorher alles erschaffen hat. Und immer noch weiter entscheidet.“

Seine Schwester sah ihn an, ohne ihn zu sehen.

„Wenn man jedoch jedes Wissen mit Gefühlen koppelt, irgendwo im Untergrund, dann bekommt das Ganze plötzlich Richtung! Oder viele Richtungen, da der Mensch natürlich unendlich viele Wissen lernt, abspeichert. Und die dann aufsteigenden Gefühle hätten mit dem sogenannten Seelenleben zu tun ... wieder dasselbe Wort: aber plötzlich andere Richtung drin! Oder Richtungen.“

Sie war jetzt dicht bei ihm. Er spürte, wie sie ganz dicht bei ihm war.

„Und das alles beschreibst du … in deinem neuen Roman -?“, sagte sie langsam.

Nein, dies seien Überlegungen, die ihn seit Jahrzehnten beschäftigten. Seit er damals in der Bildungsstätte mit den Kindern gearbeitet, sich über seine Kollegen geärgert habe - sie erinnere sich, schon ewig her. Der Roman, an dem er gerade schreibe, sei eine Liebesgeschichte. Aber tragisch schöne, er schmunzelte. „Ganz willentlich bewusst angefangen ... um die Scheißkrankheit aus dem Hirn zu kriegen, mich auf Anderes zu konzentrieren! Ich hatte es dir eben erzählt. Das mit der einundneunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit des Rückfalls -. Deshalb muss ich schnell auch wieder zurück, um weiterzuschreiben!“

„Tu mir das nicht an, Helmut!“ sagte sie erschrocken. „Wo wir uns nach dieser wahnsinnig langen Zeit endlich mal wieder getroffen haben -!“

„Du, ich muss! Ich merke, wie irre ich schon wieder an den Krebs denke. Seit Stunden rede ich von nichts anderem als von meinen verdammten Krankheiten -!“

Das stimme überhaupt nicht. Sie hätten über vieles gesprochen, genau wie früher. „Ich fühle mich so verdammt gut, wie schon ewig nicht mehr. Tu mir das nicht an, Helmut, dass du schon wieder abhauen willst!“

Auf einmal sah sie eingefallen aus, traurig. Er strich ihr über die Nase, schloss die Augen. „Ich fühl mich auch wie früher - wenn ich auch kribbelig, nervös bin.“ Doch sie solle ihn sofort auf die Füße treten, wenn er wieder von den Krankheiten anfange! Das sei Gift für ihn.

„Und du trittst zu, wenn ich wieder von den verlorenen Berufen anfange! Das darf ich nicht. Ich soll spontan sein: nur nach vorn blicken.“ Sie lachte. „Sagt meine Psychiaterin.“

Und plötzlich fasste sie ihn an den Ohren, küsste ihn auf den Mund. Er erwiderte den Kuss, lange.

„Wegen der verlangten Spontaneität.“

Flirrendes Licht

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