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Und jetzt müssten sie wirklich weiter, sonst verderbe der Kuchen noch. Seitdem sie nichts mehr zu tun habe, backe sie selbst Kuchen. „Früher habe ich den von meinen Sekretärinnen besorgen lassen - . Und wenn ich mal eine Party hatte, haben mir Frauen aus unserer Kantine geholfen. Heute: alles selbst!“ Und nach einer Pause: „Hätte ich mir damals auch nicht vorstellen können - .“

Sie lachten.

Als der Wagen aus der tief eingefahrenen Wiese nach rechts in einen breiteren Weg einbog, lagen voraus plötzlich zwei Häuser. Anscheinend nicht groß, versteckt hinter Büschen, Bäumen. Helmut versuchte, sich zu erinnern, doch alles wirkte fremd. Er zuckte mit den Schultern, sagte: „Überhaupt keine Ahnung, wo wir sind - . Haben wir hier wirklich mal gelebt?“

Freya nickte, zu ihrer Zeit seien hier aber Wiesen, Ackerland gewesen. Später dann das Aufmarschgebiet der Panzer, Truppentransporter, Geschütze. Wenige hundert Meter weiter, den Berg hinunter, den sie eben gekommen seien, habe der Truppenübungsplatz der Russen begonnen. Einer der größten im Land, dreißig, vierzig Kilometer weit nach Norden offen. „Die konnten hier mit allem schießen: in Panzergefechten, mit schweren Geschützen, Raketenwerfern. In dem langgestreckten großen See unten, dem Großen Seutel, sollen sie ständig mit Amphibienfahrzeugen geübt haben, hat man mir erzählt. War hier natürlich totales Sperrgebiet.“

„Ist das etwa unser Haus dahinten?“

„Nein“, sagte sie mit ironischem Unterton, „nur die Vorwerke - .“

„Hat es die damals schon gegeben? Keine Erinnerung, nicht die geringste.“

Die habe es gegeben, bewohnt von vielen Flüchtlingen. Die Kinder dort seien aber weitaus jünger als sie gewesen. Jetzt seien es Ferienhäuser. Unten im Dorf werde erzählt, Stasileute hätten sie sich nach dem Abzug der Russen unter den Nagel gerissen. „Auf solche Gerüchte darf man aber nichts geben - ich selbst laufe bei denen auch unter Stasiprofiteur. Die fallen immer vom Hocker, wenn ich ihnen erzähle, dass das Haus von meinen Urgroßeltern vor über hundert Jahren gebaut worden ist, unser Opa hier bereits als Kind seine Ferien verbracht hat und wir als Familie in den Kriegs-, Nachkriegsjahren darin gelebt haben! Ich sei hier zur Schule gegangen - . Zum Glück gibt es noch ein paar alte Leute im Dorf, die mich von früher her kennen, meine Angaben bestätigen können.“ Was wichtig sei, da durch den wirtschaftlichen Niedergang sich regelrechter Verfolgungswahn breitmache: die alten Parteibonsen, raffgierige Wessis, Stasileute.

Sie schaute nach vorn, ihr Mund verkniffen. „Und da hinten kommt jetzt wirklich das Haus ... unser Haus.“

„Auch das erkenn ich nicht.“

„Es ist es aber“, sie lachte, „inzwischen sind natürlich jede Menge Büsche, Bäume gewachsen. Früher war alles kahl, nur der Garten drumrum.“ Das Auto bog in das offene, schief hängende Tor ein, auf dem Kies Knirschen der Reifen. Sie war beim Aussteigen, da hatte der Hund sich bereits an den Vordersitzen vorbei nach draußen gezwängt. Bellend rannte er nach hinten ums Haus, kam bellend an der anderen Seite wieder zum Vorschein.

Wenn mit dem Auto länger unterwegs gewesen, seien oft Rehe im Garten: das seine Hoffnung, sein voraus entworfenes Glück. Seine sich selbst entworfenen Glücksgefühle.

„Hat er schon mal eins erwischt -?“

„Nein, die sind viel zu schnell. Ich bin mir auch sicher, dass er ihnen nichts täte, nur sein Triumph, sie zu vertreiben. Dies hier ist sein Garten!“

Helmut ging ums Haus, kam auf der anderen Seite zurück. Noch immer keine Erinnerung, oder kaum. Sei das nicht größer gewesen -? In den Bildern seiner Erinnerung viel höher. Und das Dach: völlig anders!

Das könne sein. Große Zementpfannen habe es früher, zu Opas Zeiten, nicht gegeben. Die Pfannen hätten wohl irgendwann erneuert werden müssen, seien Jahrzehnte alt gewesen.

„Und hier haben wir wirklich alle gelebt?“

„Ja.“

„Wie viele waren wir?“

„Nach meiner Zählung bis zu zehn: später mit den Zwillingen, Tante Gerda, Onkel Willi. Im Krieg, als Oma noch lebte, fünf. Und das war ja unsere Chance, die wir gleich genutzt haben -. Als die aus Polen noch bei uns unterkrochen, aus Pommern. Sie kamen hinzu ... und wir verschwanden in unser Haus.“

„Zuerst ich!“ sagte Helmut. „Der Schuppen steht noch, habe ich eben ganz ergriffen festgestellt -.“

Wie früher, nur etwas verfallener. Sie gingen ins Haus, seine Schwester griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch. Das Rauchen habe sie immer noch nicht aufgegeben, allein ins Auto nehme sie Zigaretten nicht mehr mit. Eisern. Und sehr stolz, dass sie wenigstens das schon geschafft habe. Doch sie sei furchtbar nervös, müsse jetzt unbedingt rauchen.

„Meinetwegen brauchst du nicht nervös zu sein, Frey -.“ Er lachte, nahm sie in den Arm, streichelte ihren Rücken, Nacken.

„Ich weiß, weiß ... doch sieh mal die Hände. Mir schlägt das Herz bis in den Hals. Höher, höher - bis in Schläfen, Haarspitzen.“ Sie schaffte es mit dem Streichholz, nahm einen tiefen Zug, öffnete ein Fenster. Die Augen geschlossen, versuchte sie gleich, den Rauch nach draußen zu blasen. Sie zerdrückte die halbe Zigarette an der Fensterbank, warf sie nach draußen.

So … und jetzt habe er Hunger, sagte Helmut, setzte sich unaufgefordert an den gedeckten Tisch, Riesenhunger. Doch die Tischdecke kenne er! Nichts im Haus erkenne er wieder - doch die Tischdecke. Die sei bestimmt von Mutti.

„Ich mochte sie nicht wegwerfen -.“ Freya lachte, goss Kaffee ein, plauderte. Er überlegte, ob er um Tee bitten könne, da er Kaffee schlecht vertrug, ließ es.

Sei schon komisch, wie man in neuen Situationen plötzlich nach alten Verhaltensmustern suche. Sie überlege immer, wie Mutti das und das gemacht habe, wenn sich Besuch anmelde, gehe Jahrzehnte zurück in die Erinnerung. Das macht frau so ... das nicht ... dieses noch wieder anders. Sie habe auf hausfraulichen Gebieten kaum Erfahrung gehabt - habe natürlich als Kind, weibliches Wesen, von den vielen Frauen in diesem Haus alles lernen müssen. Doch später habe sie für solche Sachen ihre Leute gehabt. Und jetzt lerne sie über die Erinnerung wieder richtig/ falsch, obwohl ihr in den Jahrzehnten dazwischen wohl nichts so gleichgültig gewesen wie traditionelles Frausein. Wahrscheinlich sogar verächtlich gewesen sei. „Deshalb habe ich Muttis alte Kaffeetischdecke wieder rausgesucht -. Extra für dich! Und du hast sie sogar erkannt, was mich erfreut. Warm erfreut. Aber das Geschirr ist neu!“

Habe er natürlich bemerkt.

„Doch du wirst lachen“ - sie habe auch noch das alte Geschirr, irgendwo im Keller. Das alte Porzellan der Aussteuer ihrer Mutter, das sie damals von Opa Paul zur Hochzeit bekommen habe. Einigemal sogar wieder benutzt, als viele Leute im Haus gewesen seien, die vom Naturschutz, und große Teller, Schüsseln fehlten.

„Wann hatten die geheiratet?“

„Drei Jahre vor deiner Geburt.“ Mutti habe einige Zeit zuerst einmal ohne Kinder leben wollen, später oft erzählt, auch dass sie deswegen von der Verwandtschaft schon unter Druck gesetzt worden sei. Solch unnatürliches, egoistisches Verhalten einer Frau! Doch sie sei mit der Hochzeit ihrem fürchterlich strengen Vater entkommen gewesen, habe nicht sofort schon wieder Sklave anderer Lebewesen werden wollen.

So etwas habe sie ihr erzählt -?! Ihm nie, oder kaum je.

„Du wolltest ja auch nichts wissen ... hast dich immer gleich in die Büsche geschlagen.“

Geschrieben hat sie mir viel. Später. Auch Persönliches, Gefühlsträchtiges. - Unterschwellig immer mit sehr viel Gefühl.“

Ja. Später im Alter habe sie viel erzählt, auch Betrübliches. Dass sie zum Beispiel in den Zwanziger Jahren in Berlin als Mädchen, junge Frau aufgewachsen sei: - und von dieser tollen Zeit überhaupt nichts mitbekommen habe! Ihr Vater sie in Turnvereine gesteckt, anstatt in Tanzkurse, und jahrelang hatte sie in Höheren-Töchter-Schulen lernen müssen. Nähen, Kochen, Schneidern, Haushaltsführung. Geschneidert habe sie jedoch immer sehr gern.

„All das hat sie später bedauert?“

„Deshalb war sie so froh, dass ich es immer völlig anders gemacht habe. Sie war irgendwie stolz auf mich.“

Er auch. Helmut lachte. Sehr sogar! Wenigstens einer von ihnen, der etwas geworden sei.

„Ach. Ich war immer stolz auf dich, habe oft von dir erzählt. Das wussten alle meiner Freunde, dass du Schriftsteller geworden bist. Und wenn ich einen Brief von dir bekam, bin ich ausgeflippt -. Vor Glück. Auch das wussten viele, damals im Internat, Studium, im Büro - haben gelacht, mich geneckt. Etliche haben sich für mich auch gefreut, sogar hinten in Russland. Die Sonja, mit der ich in Kiew in einem Zimmer lebte. Der musste ich alles über dich erzählen!“

„Du warst mein einziger Leser - . Doch unbeirrbar treuer ... was ich hoch anrechne.“

Er mache sie wütend, schnaubte sie, wenn er sich selbst immer schlecht, klein mache. Was er sich getraut habe im Leben, hätte sie niemals gewagt. Mit Sicherheit nicht.

Helmut sah ihr in die Augen, wo wieder Tränen schimmerten, drückte die Finger aufs Tischtuch. „Nein, Frey ... diesmal ganz im Ernst. Ich bin zufrieden mit mir: dass ich das Schreiben ein ganzes Leben lang durchgehalten und so viele Bücher, Manuskripte geschafft habe. Doch auf der anderen Seite hätte ich mir natürlich etwas mehr Erfolg gewünscht, ganz prosaisch: etwas bessere wirtschaftliche Ergebnisse. Sprich geldlichen Verdienst, da in dieser Gesellschaft alles und jedes stets in Geld umgerechnet wird.“ Ihm fehle nichts, er müsse nicht hungern, habe keine materiellen Wünsche, die er sich nicht erfüllen könne. Doch wenn einer sich durch sein ganzes Leben viel Mühe gegeben habe, so viel gearbeitet wie er, müsse das eigentlich auch von außen als Wert bestätigt werden. Das habe aber wohl allein mit Gefühlen zu tun. Negativen, beleidigten Gefühlen.

Er sah sie lächelnd an, zuckte die Schultern. Sie legte die Hand auf seine, sagte, ihr ergehe es jetzt ähnlich. Seitdem sie die Arbeit verloren habe, den Beruf, spüre sie in sich, ganz tief drinnen, dieses unglaubliche Gefühl der Verletzung. Menschen müssten nun mal in der Gesellschaft bestätigt werden, über das Echo von außen, auch vor sich selbst. Als Wert, Werteinschätzung. Von den materiellen Werten ganz zu schweigen.

Ja ... nein -. Schwierig zu entscheiden. Klar sei auf jeden Fall, dass die Einzelnen von der Gemeinschaft integriert werden müssten. Aber auf der anderen Seite seien gerade die Besten lange Zeit außenvor geblieben und später dafür sogar geehrt, gefeiert worden. Eigentlich erstaunlich, dass im Grunde allein den Abweichlern, egal welcher Art, im historischen Rückblick später das Urteil Groß zugesprochen werde. „Nach meiner Erinnerung haben wir beide darüber schon als Jugendliche diskutiert ... abends in unserm Stall! Und sind immer noch nicht zu einem Ende gekommen -. Wenigstens nicht ich.“

Sie lachten. Seine Schwester zündete eine Zigarette an, legte das Streichholz in die Untertasse.

„Dass wir auch dieses Thema abgehandelt haben, weiß ich nicht ... aber wir waren beide gut! Die besten Gespräche meines Lebens habe ich schon sehr früh geführt - und mit dir.“

„Wir waren klasse, Frey -.“ Wie aber wohl alle Kinder klasse seien, bis man es ihnen schließlich ausgetrieben habe, meinte er lachend.

„Schließlich … endlich!“ erwiderte sie. Erst dann beginne eine Gesellschaft, ihre Kraft, Wucht zu entwickeln, oder wie man es nennen solle, und das sei das wirklich Teuflische. Ohne Klasse der Jungen, was ja im Grunde Widerstand gegen Althergebrachtes sei, komme es zu keinen positiven Weiterentwicklungen, doch allein mit Klasse, den Widerständen in einer Gesellschaft, gehe es in ihren direkten Untergang.

Wahrscheinlich, ja. Doch wenn alle untergebügelt würden, gehe es genau so schnell in den Untergang - . Wahrscheinlich die innere Balance, nüchtern: als Zahlen. Wenige die sich auflehnen - die meisten sich anpassend.

Weisheit des Schwarms -?

„Daran glaube ich nicht.“ Er kratzte sich sichtbar gewollt am Kopf. „Schwärme können verheerend irren - siehe Hitler, andre Politiker, die massiv umjubelt wurden. Das Freiheitsgerede bei uns: von Millionen, die Tag für Tag kaum über die Runden kommen oder sogar ganz arbeitslos sind. Die ständig neu aufkommenden Modewellen, Musikliedchenwellen, andere Wellen der Ergriffenheit. Oft sogar literarischen -.“ Er lachte. Ohne Schwarmverhalten sei wahrscheinlich sogar das ganze Literaturwesen oder -unwesen nicht zu verstehen. Einsicht seines fortgeschrittenen Alters. Doch ob so etwas mit Weisheit zu tun habe -?

Bei Tieren funktioniere es. Oft, manchmal.

Bei Fischschwärmen, Vogelschwärmen. Doch die gerieten auch häufig ins Verderben - bei Gebirgsüberquerungen, Wüstenüberquerungen. Die Vögel. - Der Unterschied zu Menschen sei wohl, dass Tiere dabei über sehr kurze Signale gesteuert würden, meistens wohl optischer Art. Reflexhaft von außen. Menschenschwärme jedoch über Gefühle.

Gefühle -?“ sagte Freya, stand auf. „Komm, wir hauen von diesem verdammten Kuchen ab.“

„Der hat wirklich gut geschmeckt!“ sagte Helmut, trank den Kaffee aus.

Sicher, und ihren gebackenen Kuchen lobten inzwischen auch alle. Nur sei er nichts, was auf Erden sie allein noch leisten möge -. Könne. Sie lachte. Eigentlich esse sie sogar nicht besonders gern Kuchen, wenn sie überhaupt gerne esse. Ihr Arzt sage, sie sei zu dünn, verdächtige sie sogar der Magersucht, doch etliches habe ihr nur den Hunger verschlagen. Vieles in der Welt, oder die Welt als ganzes. Oder auch, ihretwegen, das Schwarmverhalten in dieser Welt -. Zigaretten, das sei was, und Alkohol! Sie rauche zu viel, trinke zu viel - habe er wohl schon bemerkt.

„Am Trinken nicht“, erwiderte er. „Auf jeden Fall hat mir der Kuchen gut geschmeckt! Nur Kaffee ist nicht mein Fall ... davon kriege ich immer so‘n seltsames Aufstoßen.“

„Verdammt. Dabei habe ich bei dem Kaffee noch lange überlegt - was Mutti dazu gemeint, gesagt hat. Zu Kuchen gehöre allein Kaffee!, das ihr Urteil. Ich trinke auch eigentlich lieber Tee.“

„Gerda war eine ausgesprochene Kaffeetante.“

Ja, wie auch wieder ihre Mutter, Großmutter, wie eigentlich alle Frauen unserer Familie. Erkennungsmal des guten Bürgertums, bei ihnen im Land. In England könne es anders sein.

„Die größten Leiden der Frauen im Krieg: keinen richtigen Kaffee zu haben! Viel schwerer zu ertragen, als keinen Sex zu haben -.“

„Deinen ganz eigenen Humor hast du wirklich behalten. Daran erkenne ich, dass du bald wieder völlig gesund bist!“ Doch bei Kaffee allgemein, sagte sie, holte Gläser, eine Flasche, stellte sie auf den niedrigen Tisch zwischen den Zweiersofas, habe in letzter Zeit ein enormer Dreh stattgefunden. Heute werde der meiste Kaffee nicht mehr zu Hause, sondern in Büros, auf der Arbeit getrunken.

„Und im Auto! An den Tankstellen!“

Ja. Einmal sei er billiger geworden, aber es habe auch ein ganz eigenartiger Dreh stattgefunden: die Leute seien als Masse in Abhängigkeit geraten, benutzten Koffein nun, um den Stress von allen Seiten aushalten zu können. Den Anpassungsdruck. Sie müssten heute einfach nur noch durchhalten, und für dieses Ziel hätten sie ganz neue Strategien entwickelt. Ob willentlich, übers Gehirn, fraglich, wahrscheinlich habe sich ihr Körper selbstständig gemacht. Solches Verhalten gegen ihren Kopf erzwungen.

„Aus Angst. Den Anforderungen nicht gewachsen zu sein.“

„Den Anforderungen ihrer Welt.“

„Der sozialen Welt. Den Zwängen ihrer sozialen Umwelt!“ sagte Helmut. Es seien stets die Mitmenschen, die solche Zwänge in einem auslösten, und nicht die Welt als solche. Der Schneesturm für den Eskimo oder der Orkan auf dem Meer für den Seemann bedeute natürlich auch wahnsinnigen Stress, aber wahrscheinlich völlig anderen als im Büro. Dieser natürliche Stress, oder wie man es nennen wolle, erfordere alle Kraft, alle Fähigkeiten. Erzwinge alles Wissen, alles Denken! Ohne dass der Kapitän vorher Kaffee trinken müsse -.

„Den muss er aber wieder in Unmengen trinken, wenn er sich den Ärger, die Regressforderungen vorstellt, die zu Hause wegen verlorener Ladungen auf ihn zukommen -.“ Sie drehte den Verschluss der Flasche auf.

Er sah ihr lächelnd zu, meinte dann, sie sei richtig seriös geworden.

„Was hat Madeira ‚Rainwater‘ denn mit seriös zu tun -?“, wehrte sie ab. Nur ein kleiner Abschluss zum süßen Kuchen von vorhin. Schmecke immer gut finde sie, auch wenn es nicht regne.

„Das mein ich nicht, sondern wie du gehst, stehst.Deine Bewegungen. Die hatte ich völlig anders in Erinnerung.“

Sie zuckte die Schultern. „Weiß ich nicht -. Ich musste mich viel unter Menschen bewegen, da nimmt man bestimmte Haltungen an.“ Sie errötete. Gehöre wohl zum Imponiergehabe, da man nicht nur mit Worten auf andere wirke, sondern auch oder sogar sehr mit der Ausstrahlung des Körpers. Vor allem als Frau. Und besonders wenn man öffentlich sprechen müsse, vor Gruppen von Menschen. Habe sie sich wohl im Studium und später im Beruf angeeignet, ob als bewusste Strategie wisse sie nicht, wahrscheinlich über Versuch und Irrtum. „Und dann haben natürlich auch oft Professoren etwas gesagt oder Vorgesetzte, im Anfang: Mädchen, du musst gerade stehen, wenn du etwas vorträgst!, du musst die Leute ansehen, wenn du in den Raum kommst! Und so weiter. Oder Freunde haben es mir gesagt.“

„Das war mir gleich vorhin schon aufgefallen, als du mich fandst, hinten am Weg. Mein erster Blick auf dich spürte sofort, dass da eine Andere stand! Einen Augenblick, aber wirklich nur einen winzigen, war ich nicht sicher, dass du es seist, Frey -.“ Er lachte. „Wirklich. Und wenn ich seriös sage, meine ich es nicht ironisch … diesmal.“

Sie habe es aber so aufgefasst, da er solche Wörter in seinen Briefen, Büchern stets ironisch benutze. Fast stets.

„Diesmal nicht. Und diese Haltung, Bewegungen gefallen mir ausgesprochen gut an dir ... ziehen mich wahnsinnig zu dir hin.“ Er schloss die Augen. „Ein richtig warmes Gefühl. Ich möchte dich dann nur noch in die Arme nehmen ... ach, Scheiße.“

„Ich dich auch“. Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn.

Sie streichelten sich.

Bei ihm habe sie das gleiche Gefühl - trotz seiner entspannten, um nicht zu sagen wurstigen Haltung, meinte sie dann plötzlich. Außerdem dürfe man als beobachtender Wissenschaftler nicht die hohen Schuhabsätze der Damen vergessen! Die bestimmte Haltungen erzwängen. Wenn er als Mann Stöckelschuhe hätte tragen müssen, wäre wahrscheinlich vieles auch anders verlaufen. Obwohl sie es nie mit den ganz hohen versucht habe, nur mit mittel-, flachhohen.

Sie lachten.

„Das ist mir überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen: dass ich mit hohen Absätzen bei den Verlagen mehr Erfolg gehabt hätte! Auf was man als Schriftsteller in dieser Gesellschaft alles achten muss -.“

Sie schwenkte die Flasche, fragte, er wohl doch auch noch. Helmut nickte, aber nur ein Kleinbisschen. Und wenn es gehe, in einem breiten Glas, Whisky- oder Zahnputzglas. Eins das man richtig anfassen könne. Diese dünnen Stielchen zwischen zwei Fingern machten ihn immer nervös. Offiziell trinke er zwar nicht mehr seit seiner Erkrankung. Als der Befund endgültig gewesen, habe er damit rigoros aufgehört, um seinem Körper Gutes zu tun, ihn im Kampf gegen den Krebs zu unterstützen. Vorher habe er spanischen Wein getrunken, ganz zuletzt Gin, aber nur ein bisschen, zwei Finger hoch, pur, über Stunden abends beim Lesen. Und stets aus vernünftig breiten Gläsern!

Freya holte lachend andere Gläser, goss ein. „Finde ich aber schön, dass du mittrinkst. Trinken, Rauchen sind meine Schwachstellen, gehören eindeutig zu mir.“ Sei zwar irre unvernünftig, und sie wolle sich auch bessern, möglichst bevor davon krank geworden, aber im Moment brauche sie es, um über die Runden zu kommen.

„Es sind schlimme Phasen für dich, Frey, nimm, was dir guttut.“

„Und du hast wirklich den Alkohol aufgegeben -?“, bog sie ab.

Dies der erste Schluck seit fast einem Jahr, Madeira aber gut, habe er so gar nicht in Erinnerung gehabt. Das Trinken mit der Erkrankung aufgegeben, Schreiben wieder angefangen!: beides willentlich, über den Kopf. „Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich wieder an einem neuen Roman arbeite -?!“

„Nein“, rief sie aus, ihre Augen waren ganz bei ihm. In ihm drin.

„Doch. Und ganz bewusst. - Mir war klar, dass ich arbeiten, mich auf anderes konzentrieren musste, um nicht ständig an den Scheißkrebs zu denken. Und so habe ich einfach wieder angefangen, einen Roman zu dem ich schon vage Vorüberlegungen hatte. Bereits zwischen beiden Bauchoperationen, den Chemotherapien: eines Tages einfach hingesetzt und angefangen! Ganz willentlich, um mich auf anderes zu konzentrieren.“ Um sich zu retten ... wie er sich immer mit Schreiben gerettet habe.

Er schnaubte amüsiert.

„Du kennst mich ja, Schwesterchen -.“

Das finde sie sehr gut. Und wie verlaufe es -?

Bereits zig Seiten, an die hundert. Ob der Text etwas tauge, wisse er nicht, aber er denke nun viel konzentrierter an die Personen, Szenen des Romans als an die Krankheit. Selbst der Onkologe mit seiner einundneunzigkommasechsprozentigen Wahrscheinlichkeit sei weit weg -. „Irgendwie völlig unbedeutend, gegenüber den Sätzen, die ich morgens meinen Helden mit der Schreibmaschine sagen lasse.“ Und er schreibe mit der alten Schreibmaschine! - Viel besser!: das laute Klacken der Typenhebel lege irgendwie eine abschirmende Lautkulisse um ihn herum, als wenn man in einer riesigen Muschel sitze. Er höre dann besser die inneren Stimmen. Die Stimmen der Dialoge müsse er sinnlich agieren lassen, um den richtigen, falschen Klang schnell herausfinden zu können. Und auch in die Passagen außerhalb der sprechenden Personen müsse er sinnlich hinein: mit Nase, Ohren, Augen, Mund. Um die Echtheit zu finden. Den wahren Punkt. Der oft auf haarscharfen Linien liege. Trennungs-, Aussagelinien. Wörterlinien. - Bei Wörtern sei er fürchterlich altmodisch: er denke immer noch, dass die etwas bedeuteten -.

Wieder schnaubte er amüsiert.

Für das alles sei die abschirmend laute mechanische Schreibmaschine weitaus besser als sein Computer. - Und deren Druckpunkt! Dass er mit den Fingern größeren Druck aufwenden müsse, um einen Buchstaben zu schreiben. Der Text drücke dabei zurück in den Finger, seinen Körper: Druck gleich Gegendruck, physikalisch. So sei er gleich sinnlich drin in dem Zubeschreibenden - über dieses mechanische oder mechanistische Phänomen. „Verstehst du das? Wenn ich der Heldin in der mechanischen Schreibmaschine die Hand auf ihre Hand legen lasse, kommt über die Typenhebel sofort etwas zurück in meine Finger. Hier und jetzt, in diesem Augenblick! Als ob ich meine Hand tatsächlich auf die ihre lege: - so!“

Er legte die Hand auf ihre Hand, sah sie eindringlich an. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen.

„Was ist denn, verdammt?“

„Ach, Junge -“. Sie strich ihm mit den Fingerspitzen übers Gesicht, schloss die Augen, schwieg. Dann fuhr sie sehr ruhig fort: „Mir ist nur etwas hochgekommen -. So wie du das eben gesagt hast, habe ich es immer empfunden: wenn ich einen Brief von dir bekommen habe. Du warst immer ganz nahe bei mir.“ Wieder schwieg sie. „Deine Worte waren in mir! Du warst in mir drin ... völlig unabgelenkt. Und das hat mich immer wahnsinnig glücklich gemacht -.“

Sie heulte los, schnufte, suchte nach einem Taschentuch. Sie fand keins, wischte das Gesicht mit dem Sofakissen ab.

Sie schüttelte den Kopf, lachte nun, griff zum Glas. Er sei immer sehr präsent gewesen in den Briefen, und das über die vielen Jahre, wo sie sich nicht hatten sehen können. Sie habe sich schon häufig überlegt, wie er so etwas mache.

Das sei doch ganz einfach, sagte er: er habe sie zur literarischen Figur gemacht! - Für ihn sei sie noch immer Fünfzehn und davor das Kind: und genau das schmecke sie in seinen Wörtern! Durch sein Schreiben bekomme sie sich wieder selbst auf die Zunge des Gehirns ... und das lasse sie sich wohlfühlen! Sie sich selbst.

Er grinste sie an.

Nein. Das habe sie sich natürlich auch schon überlegt: dass er sie zur Heldin gemacht habe -. Sie lachte. Zur losgelösten, eigenständigen Literatur. - Nein, das sei es nicht. Die Verbindungen zu ihr, ihrem Leben seien stets sehr konkrete. Auch zu ihrem jetzigen Leben: mit seinen Problemen, Ärgern, Freuden. Wenn sie ihm vorher davon in ihren Briefen berichtet habe. - Doch irgendetwas Literarisches sei es: - habe wohl mit seiner wuchernden Phantasie zu tun.

„Nein ... ja.“ Er schloss die Augen, schmunzelte. „Wir beide sind sehr eng, lange zusammen aufgewachsen, Frey, in diesem Haus. Wir haben, um es mal abstrakt zu sagen, gleiche oder ähnliche Wissen gelernt. Nicht Wissen aus irgendwelchen Schulbüchern, sondern sehr konkrete, sinnliche Wissen: wie es war, wenn Mutti lachte oder die Wut kriegte ... wie Opa auf dem uralten Motorrad, mit dem offenen Motorschwungrad oder was es war, nach Berlin zur Arbeit fuhr ... wie dein Zimmer aussah, meins ... wie da das Bett stand, der kleine Tisch ... wie unser Ofen brannte, qualmte ... wie die Stürme hier im Winter über den Hang heulten -. Alles sehr sinnliche Erfahrungen, Wissen, wie sie jedes Kind macht oder doch machen sollte, und das Glück bei uns beiden war, dass es sehr einfache, gradlinige Wissen waren - oder wie man sagen soll. Nur wenige verschachtelte, überhäufte, wie sie, meine ich, die Kinder in den Großstädten heute vor allem machen. - Wir hatten das alles zusammen erlebt, als Wissen abgespeichert, und in unseren Briefen brauchte der eine davon nur etwas anzudeuten und sofort war beim anderen die Erinnerung da!“ Er hielt inne, befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze. „Nur winzig kleine Andeutungen - manchmal allein als kurzes, sogar einsilbiges Wort - und sofort ist beim anderen oder im anderen wieder die Erinnerung da. Das konkrete Wissen. Und - ganzganz wichtig! - mit jedem Wissen kommen auch Gefühle einher!“

Seine Schwester sah ihn lange an, überlegte, wiegte den Kopf.

„Doch … Frey! Nicht ständig, nicht immer, aber sie kommen oder gehen mit jeder Erinnerung. Verborgen, im Hintergrund, irgendwie zurück. Ich spreche lieber von Wissen. Jedes gelernte Wissen ist - irgendwie im Dunklen zurück! - auch mit Gefühlen verbunden worden: die plötzlich und manchmal sehr heftig hochsteigen können. In jedem von uns, in allen.“

Sie zog ein zweifelndes Gesicht.

„Nein, Helmut, so generell, wie du sie machst, stimmen die Aussagen nicht. Ich glaube es wenigstens nicht. Bei unseren gemeinsamen Erinnerungen aus der Kindheit könnte es stimmen, da unsere Erlebnisse fast immer auch mit vielen Gefühlen einherkamen. Damals schon, mit unglaublich überschießenden Gefühlen: Freude, Lachen, Wut, Zärtlichkeit, Liebe, auch Neid, Eifersucht, Hass. Und so weiter. Bei denen würde ich zustimmen, dass sie als Gefühlserinnerungen sofort wieder wach werden, in uns hochsteigen, wenn der andere mit Worten Brücken zurückschlägt.“ Das wolle sie zugestehen, habe dafür aber andere Erklärungen. Das das Wesen von Kindheit, jeder Kindheit, sei wohl allgemein: dieser unglaubliche Gefühlswirrwar, der auch gleichzeitig ungemein intensiv empfunden werde. Und genau der mache später die sentimentalen Erinnerungen aus zurück an die frühen Jahre: weil man als Erwachsener eben solch intensiven Gefühle verlernt habe.

„Oder sie einem ausgetrieben worden sind -. Von der Gesellschaft.“

Sicher, Freya lachte, doch das sei nun mal der Weg des Erwachsenwerdens. Jede Gesellschaft müsse Strukturen aufbauen, die zum Funktionieren führten: zu ihrem Erfolg. Und da gehe es nicht, dass die Leute von einem warmen Gefühlserlebnis ins nächste taumelten. Es bedürfe hoher Disziplin, pünktlich zur Arbeit zu gehen, wenn abends das Feiern schön lustig lang gewesen sei. „Man darf sich dann nicht allein von Gefühlen steuern lassen -!“

„Gefühle werden den armen Erwachsenen nur noch beim Sex zugestanden -. Als Ersatz. Wobei mir scheint, dass viele Gefühlsempfindungen der Kinder weitaus stärker sind - und wohl auch schöner - als später die in ihrem ach so dollen Liebesleben.“

Sie lachten.

Das komme auf den Einzelnen an -. „Manche haben nur wenige Erinnerungen an die Kindheit ... viele erleben ihre stärksten Gefühle im Liebesleben ... andere wiederum kennen überhaupt kaum Gefühlserlebnisse“, meinte sie. „Ich für mich möchte auch sagen, dass ich meine stärksten Gefühle in der Kindheit hatte ... und zwar - mal ganz genau! - in der Nähe zu dir. Nicht unbedingt mit dir, aber nahe zu dir. - Wir beide waren immer wahnsinnig sachkonzentriert: auf Dinge, Probleme außerhalb unserer Person gerichtet!“ Ständig mit Bauen, Arbeiten, Basteln beschäftigt. An irgendwelchen Dingen, aber sehr konkreten, die sich anfassen ließen, von gewichtiger Substanz gewesen seien. Sie hätten ständig zusammen gearbeitet, und die Ergebnisse - oder anvisierten, geplanten Ergebnisse - seien immer sehr sehr konkret gewesen. Und dieses sachliche Handeln - im Wortsinn: handeln, Hand - habe bei ihr die stärksten Gefühle ausgelöst. Auch noch zurück, in der Erinnerung.

Ja, meinte Helmut, das gleiche behaupte er doch auch. „Ich benenne sie nur anders - diese Phänomene. Ich muss dir das endlich mal schreiben, damit du es richtig verstehst.“

Flirrendes Licht

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