Читать книгу Entscheidung auf Sardinien - Dietlinde Beerbom - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеKerstin ist vor 5 Tagen 50 geworden. Aus diesem Anlass kommt sie mit ihren Freundinnen Anja und Sabine zum Frauentreff – oder wie sie selber es respektlos nennen: Weibertreff – zusammen. Zu ihren Geburtstagen laden sie sich immer gegenseitig einige Tage nach dem eigentlichen Jubeltag ein, um ohne andere Gäste so richtig schön über das Leben herzuziehen. Sie lassen dabei nichts aus: Arbeit, Männer, Freundinnen, gemeinsame Bekannte, Politik, Prominente, Zukunftsträume und was ihnen sonst noch in den Sinn kommt. Den jeweiligen Treffpunkt bestimmt das Geburtstagskind und Kerstin hat dieses Mal Lust auf ihren Lieblings-Italiener, wo sie bereits vor Wochen einen Tisch reserviert hat. Dort ist es zwar nicht gerade preiswert, aber anlässlich so eines besonderen Geburtstages, kann man auch mal so richtig die Korken knallen lassen. Vor einigen Jahren haben sie abgemacht, dass das Geburtstagskind, sozusagen statt eines Geschenks, an diesen Abenden eingeladen ist.
Wenn man die Tür zu Vivaldi's öffnet, empfängt einen, wie bei jedem guten Italiener, der Duft köstlicher Speisen mit einer Mischung aus südlichen Gewürzen, frisch gebackenem Brot, Pizza und einem Hauch Knoblauch, so dass einem bereits am Eingang das Wasser im Mund zusammenläuft. Was die Freundinnen an diesem Lokal aber besonders schätzen, ist die Innenausstattung. Das Restaurant ist in viele intime, individuell gestaltete Nischen unterteilt, die mit leiser, schmeichelnder Musik erfüllt sind. Die Musik hat genau die richtige Lautstärke, um eine Unterhaltung zu ermöglichen, ein Mithören durch andere Gäste aber zu verhindern.
Kerstin und Sabine sind pünktlich eingetroffen und da Anja noch fehlt, bestellen sie sich schon mal einen leckeren Prosecco, um sich einzustimmen. Mit der Auswahl des Essens warten sie auf ihre gemeinsame Freundin.
„Gut, dass Anja noch nicht da ist. Da kann ich dir schnell noch etwas erzählen!“, eröffnet Kerstin das Gespräch. „Gestern bin ich in der Stadt gewesen, um ein Geburtstagsgeschenk für Karsten zu kaufen. Als ich an Anjas Büro vorbei kam, konnte ich durch das Fenster sehen, dass ihr Kollege Christoph gerade bei ihr am Schreibtisch stand. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass ich unbemerkt vor dem Fenster stehen bleiben konnte, um zu sehen, was dort vor sich ging. Erst dachte ich, die beiden streiten sich, aber dann nahm Christoph Anja plötzlich ganz lieb in den Arm und sie kuschelte sich eng an ihn. Wie können die so etwas nur tun, vor allem dort, wo sie wirklich jeder hätte beobachten können? Was wohl Rainer dazu sagt?“
„Nun mach aber mal halblang, Kerstin! Was du immer gleich denkst! Vielleicht gab es einen ganz harmlosen Grund für diese Umarmung.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Du hättest mal sehen sollen wie die sich umarmt haben. Da passte kein Blatt Papier mehr dazwischen.“
„Was ist denn danach passiert?“
„Keine Ahnung.“ Man konnte Kerstin den Frust über den verpassten Ausgang der Geschichte deutlich ansehen. „Weil eine Bekannte vom Step-Aerobic auf mich zu kam, musste ich leider meinen Beobachtungsposten verlassen. Es wäre mir schon peinlich, wenn ich so offensichtlich beim Spannen erwischt würde. Meinst du Anja hat schon lange Etwas mit Christoph?“
„Ich glaube überhaupt nicht, dass sie Etwas mit ihm hat. Der ist doch auch verheiratet.“, entrüstet sich Sabine.
Doch Kerstin lässt sich nicht einschüchtern. „Als ob das ein Hindernis wäre!“
„Stimmt! Aber ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. So etwas macht Anja nicht. Die ist doch total verknallt in ihren Rainer.“
„Woher willst du...Oh, hallo Anja, Schätzchen! Da bist du ja endlich. Wir haben uns schon mal einen Prosecco genehmigt. Der haut ganz schön rein auf nüchternen Magen. Mensch, hab ich einen Hunger!“
Zum Glück hat Anja nicht mitbekommen, worüber sich die beiden gerade unterhalten haben und begrüßt ihre Freundinnen mit Küsschen rechts und links. Dann fällt sie auf einen freien Stuhl und stöhnt: „Ich hab auch einen Riesenhunger. War das wieder ein anstrengender Tag!“
„Lass uns erst mal etwas bestellen und dann erzählst du uns von deinem Tag“, sagt Kerstin und zwinkert Sabine heimlich zu.
Drei Köpfe verschwinden in den Speisekarten. Kurz darauf winkt Kerstin ihrem Lieblingskellner zu. Mit einem verführerischen Augenaufschlag sagt sie: „Enrico, ich kann mich gar nicht entscheiden. Es hört sich alles so gut an. Kannst du uns etwas empfehlen?“
Enrico zuckt nicht einmal mit der Wimper, denn diese Form der Bestellung hat sich schon zu einem festen Ritual zwischen ihm und Kerstin entwickelt. So hat er natürlich auch schnell die Empfehlung des Hauses parat: „Wir aben eute wunderbare, friesche Muscheln in einer Knoblauch-Kräuter-Marinade. Dazu kann isch den Damen einen Salate des Hauses und unsere leckere Ciabatta empfehlen. Dann noch eine wunderschöne Bardolino – natürlisch nischt so schön wie ihr, aber trotzdem gutte.“, gurrt Enrico in seinem absichtlich italienisch angehauchten Deutsch. Wenn er will, kann er völlig akzentfrei reden, aber so meint er, verführerischer zu wirken und das ist gut für das Geschäft. „Zum Abschluss noch eine kleine Tiramisu und ihr werdet das Lokal sähr glücklisch verlassen. Aber zuerst bringe isch eusch meine beste Grappa auf Kosten des Hauses.“
„Das hört sich wunderbar an. Du weißt doch immer genau, was gut für uns ist.“, schnurrt Kerstin.
„Ah, das Beste ist gerade gutte genug für meine Lieblings-Gäste!“, gibt Enrico charmant zurück.
„Hat der nicht einen wirklich sexy Hintern?“, fragt Sabine ihre Freundinnen, sobald Enrico außer Hörweite ist.
„Allerdings, den würde ich nicht von der Bettkante schubsen!“, behauptet Anja, woraufhin Kerstin und Sabine schon wieder einen heimlichen Blick austauschen.
„Was ist denn mit dir los?“, hakt Kerstin gleich nach. „Ich denke, du bist so glücklich mit deinem Rainer-Schatzi.“
„Man wird doch wohl mal gucken dürfen!“
„Was sagt Rainer dazu, wenn du anderen Kerlen hinterher schaust?“
„Was hast du immer mit Rainer? Der muss doch nicht alles wissen. Erzählst du denn Karsten, wenn du einen heißen Typen gesehen hast oder guckst du immer weg?“
„Hey!“, fährt Sabine dazwischen. „Lasst uns erst mal in Ruhe essen, bevor ihr euch an die Gurgel geht.“
„Genau!“, stimmt ihr Kerstin zu. „Dann haben wir auch mehr Kraft zum Zudrücken!“, behauptet sie mit todernster Miene.
Daraufhin lachen alle drei und die leichte Anspannung löst sich wieder auf.
Während sie das umwerfende Menü genießen, sprechen sie nur über belanglose Dinge wie das Tagesgeschehen, das Wetter, die neuesten Modetrends, denn sie wollen sich auf das Essen konzentrieren. Da würden ernsthafte Gespräche, die viel Aufmerksamkeit erfordern, nur stören. Außerdem haben sie noch den ganzen Abend Zeit.
Nach dem Dessert legen sie sich entspannt in ihren Stühlen zurück und halten sich die gut gefüllten Bäuche. „Noch einen kleinen Absacker?“, fragt Kerstin ihre Freundinnen.
Da gibt es erwartungsgemäß keinen Widerspruch und Enrico darf zum wiederholten Male, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, die visuellen Wünsche der Damenrunde zufrieden stellen.
„Meine Güte, der ist aber auch wirklich ein Sahneteilchen!“, haucht Anja ganz verzückt.
Ein willkommener Anlass für Kerstin, um wieder zum Thema zurückzukehren. „Sag mal, Anja, wie läuft es so bei euch zu Hause?“
„Woher kommt dein plötzliches Interesse an meiner Ehe?“, fragt Anja statt einer Antwort.
Kerstin nimmt kein Blatt vor den Mund. „Ich will ehrlich zu dir sein. Als ich gestern an deinem Bürofenster vorbei kam, habe ich gesehen, wie du und Christoph in inniger Umarmung versunken wart. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Rainer das gutheißen würde. Läuft da etwas bei euch?“
„Gut, dass du mich und nicht Rainer darauf ansprichst. Mit so einer blöden Geschichte kann man eine Menge Unfrieden stiften, nur weil man die Tatsachen völlig falsch interpretiert – wie du es anscheinend getan hast. Ich hätte nicht erwartet, dass du so dumm bist, voreilig falsche Schlüsse zu ziehen. Aber gut, ich denke, eine ehrliche Frage verdient eine ehrliche Antwort: ja, wir haben uns in den Arm genommen, aber nein, wir haben nichts miteinander. Ich hatte Christoph erzählt, dass meine Schwester beim Putzen von der Leiter gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat. Er hat mich nur in den Arm genommen, um mich zu trösten.“
„Ach, so ist das. Tut mir leid, dass ich so vorschnell geurteilt habe, aber es sah wirklich so innig aus, dass mir gar keine harmlose Erklärung in den Sinn kam. Ich war total verwirrt. Warum hast du uns denn nicht erzählt, dass deine Schwester von der Leiter gefallen ist?“
„Weil ich noch nicht die Gelegenheit dazu hatte. Es ist erst gestern Morgen passiert und ich sah keine Veranlassung, euch deswegen anzurufen, wo wir doch sowieso für heute verabredet waren. Sie ist schließlich nicht gestorben, sondern hat sich nur den Arm gebrochen.“
„Na, immerhin war es so schlimm, dass du dich von Christoph trösten lassen musstest.“ Diese Bemerkung kann sich Kerstin einfach nicht verkneifen.
„Ja. Ihr kennt doch meine Schwester. Der Armbruch an sich ist nicht so schlimm, aber das zieht natürlich einen Rattenschwanz nach sich. Da der Arm von oben bis unten eingegipst ist – sie macht schließlich keine halben Sachen, sondern hat ihn gleich an zwei Stellen gebrochen – kann sie sich in der nächsten Zeit nicht alleine versorgen. Nun ratet mal, wer die Ehre hat, sie bis zu ihrer Genesung bei sich aufzunehmen?“
Kerstin und Sabine stöhnen mitleidig auf und antworten wie aus einem Mund: „Du Arme!“ Sabine fügt noch an: „Ausgerechnet deine nun wirklich ziemlich anstrengende Schwester. Was hat sie überhaupt geputzt, dass sie eine Leiter benutzen musste?“
„Immer, wenn sie unzufrieden ist, fängt sie an alles zu wienern, was außer ihr kein Mensch abstauben würde. Dazu gehören dann auch so ausgefallene Dinge wie die Abdeckdosen der Lampen unter der Decke. In ihrem Wohnzimmer hat sie gleich zwei davon und weil sie der Meinung war, dass sie bestimmt beide in einem Durchgang säubern könnte, wenn sie die Leiter in die Mitte der beiden Dinger stellt, hat sie sich so weit zur Seite lehnen müssen, dass sie mit der Leiter umgekippt und ins Wohnzimmer geknallt ist. Dort ist sie zwischen ihrem Sofa und einem kleinen Beistelltisch auf dem Fußboden gelandet. Zum Glück hatte sie genau an der Stelle ein paar dicke Bodenkissen gestapelt, die als zusätzliche Sitzgelegenheit dienen können, wenn Besuch kommt. Die haben ihren Sturz abgefangen und Schlimmeres verhindert. Ich darf mir gar nicht vorstellen, was alles hätte passieren können, wenn sie mit dem Kopf auf der Tischkante gelandet wäre oder so. Nicht zu fassen, wie blöd manche Leute sind. Nur um ein paar Minuten einzusparen bzw. die Leiter nicht verschieben und zweimal hochklettern zu müssen. Im schlimmsten Fall hätte sie tot sein können.“
„So gesehen hast du nochmal Glück gehabt. Sie hätte schließlich auch einen Hirnschaden davon tragen und für die nächsten 20 Jahre lallend und sabbernd auf deinem Sofa sitzen können. Spaß beiseite, dass du sie jetzt eine Weile an der Backe hast, ist bestimmt kein Zuckerschlecken. Ich wäre schon nach einem Tag mit deiner Schwester bereit, freiwillig Dienst im Altenheim zu schieben, um nicht mehr länger in ihrer Nähe sein zu müssen.“, sagt Kerstin mitfühlend.
„Das kannst du wohl sagen. Das erste Mal hat sie mich schon genervt als sie mich anrief statt gleich einen Krankenwagen anzurufen. Aber ich bin ja ein netter Mensch und hab mich sofort auf die Socken gemacht, um mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Als ich bei ihr ankam, war sie am Boden zerstört und jammerte und jaulte, als ob sie sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen hätte. Da tat sie mir noch so richtig leid. Als wir dann aber im Krankenhaus ankamen und ein netter, recht gut aussehender Arzt sich um sie kümmerte, war sofort alles Gejammer verflogen und sie fing an, aus allen Geschützen Flirt-Versuche auf den armen Kerl abzufeuern. Gott, war das peinlich! Das Ganze spitzte sich dann zu, als sie merkte, dass der Arzt nicht auf sie ansprang, sondern mich fragte, ob ich nicht mal mit ihm ausgehen wollte. Da ist Nicole völlig ausgerastet.“
„Der Arzt hat dich angebaggert, während Nicole versuchte mit ihm zu flirten?“ Sabine reißt erstaunt die Augen auf.
„Ich glaube, das hat er nur gemacht, um Nicole endlich mundtot zu machen. Vorher hatte er ihr schon ein paar Mal signalisiert, dass er kein Interesse an ihr hat. Aber ihr kennt ja Nicole! So etwas ignoriert sie einfach bis sie entweder ihr Ziel erreicht oder richtig einen vor den Latz bekommt. Das hat sich der Knabe dann wohl auch gedacht und hat deswegen mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehe.“
„Und, was hast du ihm geantwortet?“, will Kerstin mit unverhohlener Neugier wissen. Zwar hatte sich ihre Vermutung bezüglich einer Affäre zwischen Anja und Christoph als Windei erwiesen, aber diese Sache hatte schließlich auch ein gewisses Potential.
„Der hätte mein Sohn sein können!“, erwidert Anja empört.
„Na und? Viele Männer nehmen sich eine jüngere Frau und keiner findet das unanständig. So ein junger Mann kann einem bestimmt sehr gut tun.“, grinst Kerstin.
„Willst du mich zum Ehebruch anstiften? Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich daran auch nur im Geringsten interessiert sein könnte? Ich bin mit Rainer glücklich verheiratet.“
„Glücklich verheiratet hört sich an, als ob du erzählst, dass dir der Braten ganz gut gelungen ist.“
„Was soll das denn nun schon wieder heißen? Wie würdest du es denn bezeichnen, wenn du mit deinem Mann – so du denn einen hättest – zufrieden wärst?“
„Eben: zufrieden. Wie hört sich das denn an? Mein Auto läuft, ist aber nicht sonderlich toll oder was? Wo ist denn die Leidenschaft geblieben, die wir früher mal empfunden haben? Da haben wir die Dinge nicht nur gemacht, weil sie ganz ok waren, sondern weil wir sie geil fanden. Kommt das in eurem Leben heute noch vor?“
Sabine hat die ganze Zeit schweigend und leicht amüsiert zugehört, doch nun bekommt das Gespräch eine Wendung, der auch sie sich nicht mehr entziehen kann. „Ich bin froh, dass du das mal ansprichst. Anlässlich meines demnächst anstehenden runden Geburtstages, habe ich mir nämlich genau diese Frage gestellt. Manchmal fühlt es sich so an, als ob das Leben schon vorbei wäre und wir uns in einem zwar nicht unbequemen, aber sehr unspektakulären Raum eingerichtet haben.“
„Genau.“, stimmt Kerstin ihr zu. „Und wenn ich mich nicht irre, geht es sehr vielen anderen Menschen genauso wie uns. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass vor allem Frauen in unserem Alter in eine Phase kommen, wo sich sehr viel in ihrem Leben ändert. In den letzten Jahren waren die meisten damit beschäftigt, sich um die Familie zu kümmern und die wenigen anderen mit ihrer Karriere. Dabei wurden auch früher wichtige Dinge wie das Liebesleben mal mehr oder weniger auf Eis gelegt. Nun fällt die Aufgabe, sich um andere zu kümmern weg und plötzlich kann man sich wieder mit sich selbst und seinen eigenen Wünschen beschäftigen. Das eigentliche Leben ist scheinbar an einem vorbei gelaufen. Und die Sehnsucht nach mehr Action und Leidenschaft kommt hoch. Jedenfalls ist das bei mir so.“
„Das hast du gut auf den Punkt gebracht. Ich glaube, das hat nicht wirklich etwas mit Midlife-Crisis zu tun, also mit dem Alter, sondern damit, dass wir uns selbst für viele Jahre in den Hintergrund gerückt haben und uns jetzt aus dieser Ecke wieder hervor zerren müssen, weil nichts anderes mehr da ist, das unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Wenn ich mir anschaue, was für ein mickriges Häufchen ich bei mir unter einem Berg von Staub gefunden habe, bin ich nicht besonders stolz auf mich. Wie ist das bei dir, Anja?“
„Um ehrlich zu sein, habe ich bisher nicht so intensiv darüber nachgedacht, aber ich glaube, ich kann das auch nicht so ganz von mir weisen. Jahrelang hat sich mehr oder weniger alles um Rainers beruflichen Aufstieg und um die Kinder gedreht. Die sind jetzt langsam so weit, dass sie ihre eigenen Wege gehen und ganz nebenbei das Hotel Mama in Anspruch nehmen. Wäsche waschen und putzen ist aber wirklich keine Erfüllung. Allerdings möchte ich dazu auch anmerken, dass meine Ehe mit Rainer wirklich ganz gut ist und ich mir bis heute keine Gedanken gemacht habe, ob das schon alles war. Hoffentlich habt ihr da jetzt nicht irgendetwas in mir in Gang gebracht, was ich gar nicht will. Natürlich ist so eine Ehe nach über 20 Jahren nicht mehr wie frisch verliebt, aber dieses Gefühl nutzt sich auch in einer neuen Beziehung ab. Und ob dann noch so viel übrig bleibt, wie es bei Rainer und mir der Fall ist, das halte ich doch zumindest für fragwürdig.“
Diese Bemerkung lässt das Trio in ein nachdenkliches Schweigen fallen, das Sabine schließlich bricht. „Ich hoffe auch, dass wir bei dir jetzt nicht ein Samenkorn für den Zweifel gelegt haben. Wenn du bisher mit deinem Leben zufrieden warst, solltest du dir wirklich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dann sei froh, dass es so ist. Es muss doch auch positive Beispiele für die Ehe geben. Vielleicht seid ihr beide das ja.“
„Ja, aber reicht „vielleicht“?“, fragt Anja nachdenklich.
„Das muss wohl jeder für sich selbst beantworten.“
Wieder versinken alle in ihren eigenen Gedanken. Nach einer Weile bricht Kerstin das Schweigen: „Habt ihr noch Sex?“
Die Köpfe der anderen beiden schießen hoch als hätte Kerstin einen Revolver abgefeuert.
„Meinst du nicht, dass das ein bisschen indiskret ist?“, fragt Sabine empört.
„Nein, im Gegensatz zu euch finde ich, dass man über solche Dinge mit seinen besten Freundinnen durchaus sprechen kann, ohne intime Details auszuplaudern. Aber keine Sorge, ich möchte gar keine Antwort darauf haben, sondern möchte euch einfach mal dazu anregen, das für euch selbst zu überlegen. Meiner Meinung nach ist das ein ziemlich wesentlicher Bestandteil einer glücklichen Beziehung. Bei mir war es jedenfalls immer so, dass sich mit dem Sex auch das Gefühl des Glücks aus meinen Beziehungen verabschiedet hat.“
„Oh!“, antworten Sabine und Anja unisono und werden zu Kerstins Begeisterung rot. Die beiden haben manchmal wirklich etwas Verklemmtes an sich, weswegen Kerstin es auch liebt, sie zu provozieren. Sie will es aber nicht übertreiben und hakt lieber nicht genauer nach.
Nach einer nachdenklichen Pause nimmt Anja das Gespräch wieder auf: „Ich glaube, du hast nicht ganz unrecht, Kerstin. Wir sollten wirklich jede für sich genauer darauf schauen, wann Beziehungen bei uns gekippt sind. Nun aber genug von der inneren Nabelschau. Zu einem gemütlichen Abend gehört bei uns doch auch immer ein bisschen Klatsch und Tratsch. Also, habt ihr schon gehört, dass sich Rosie und Fred trennen wollen?“
„Rosie und Fred wollen sich trennen? Das gibt’s doch nicht. Die machten doch immer voll auf glückliches Paar.“, wirft Kerstin verwundert ein.
„Da kann man mal sehen, dass Dinge oft ganz anders sind als sie scheinen.“, bemerkt Sabine trocken. „Weißt du, warum die sich trennen wollen, Anja?“
„Wenn ich richtig informiert bin, hat Fred sich anderweitig orientiert. Ist aber nur ein Gerücht, keine Garantie für diese Information.“
„Hat er 'ne Jüngere?“
„Muss es denn immer eine Jüngere sein?“, lacht Anja. „Soweit ich weiß, ist es eine Frau aus seinem Büro. Damit erfüllt er natürlich auch jedes Klischee. Scheint so, als ob es wirklich gefährlich ist, seinen Mann arbeiten zu lassen. Vielleicht sollte ich Rainer mal lieber zum Hausmann ummodeln?“
„Das hört sich aber auch nicht nach einer zufriedenstellenden Lösung an. Außerdem könnte er etwas mit deiner heißen Nachbarin anfangen. Zeit genug hätte er dann allemal.“, stichelt Sabine.
Anjas Stimme überschlägt sich fast vor Panik: „Spinnst du?“
„Nein, ich wollte nur sagen, dass einsperren wohl auch keine Lösung ist und nicht davor schützt, wenn jemand sich anders orientieren will.“, widerspricht Sabine.
„Sprichst du da aus Erfahrung?“, ätzt Anja.
„Kann sein!“, räumt Sabine geheimnisvoll ein.
Anja und Kerstin reißen die Augen auf. Das sind doch mal ganz neue Aussichten und das bei der so selbstsicheren Sabine. Ob da was dran ist? „Willst du darüber reden?“, fragt Anja.
Sabine muss es wohl endlich mal loswerden, denn sie antwortet ohne zu zögern: „Wahrscheinlich habe ich es schon viel zu lange in mich hinein gefressen und ich denke immer wieder darüber nach, ob meine Beziehung damals zu retten gewesen wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte. Dieser Gedanke lässt mich einfach nicht los. Schuldgefühle können sich wirklich lange halten und seltsamerweise geht mir diese Sache neuerdings wieder ständig durch den Kopf. Der Auslöser dafür ist vermutlich, dass ich Christian und seine Frau mit ihren süßen Zwillingen neulich gesehen habe. Da dachte ich plötzlich, dass ich jetzt so mit ihm durch die Stadt laufen würde, wenn ich damals nachsichtiger mit ihm gewesen wäre. Sie sahen so glücklich aus.“
„Das mit dir und Christian ist doch schon Lichtjahre her. Ich dachte immer, ihr hättet euch getrennt, weil seine Mutter dauernd dazwischen gefunkt hat und dich nicht leiden konnte. Der war aber auch ein elendes Muttersöhnchen.“, meint Anja angewidert.
„Das war unsere offizielle Version, weil die Wahrheit für mich damals viel unerträglicher war und ich mich geschämt habe, dass ich nichts bemerkt habe, bevor es zu spät war. Ihr wisst ja, dass Christian damals der Meinung war, er bräuchte eine Auszeit vom Beruf und da ich gut verdiente, sah ich keinen Grund, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Nachdem er eine Weile zu Hause alles auf dem Laufenden gehalten und mich in jeder erdenklichen Form verwöhnt hat, dachte ich, dass es eine gute Entscheidung war. Es war toll, dass sich jemand um mein Wohlbefinden kümmerte und mir den Rücken für meinen anstrengenden Job freihielt. Ich brauchte mich zu Hause um nichts zu kümmern. Wenn ich von der Arbeit kam, war der Haushalt erledigt und das Essen stand auf dem Tisch. Christian war wirklich ein guter Hausmann mit erstaunlichen Fähigkeiten, die ich vorher nicht bei ihm vermutet hätte. So konnte ich mich voll und ganz auf meine Karriere im Verlag konzentrieren, die damals auch wirklich sehr positiv verlief. Wie ihr wisst, bin ich ziemlich schnell zur Verlagsleitung aufgestiegen. Die jüngste Verlegerin Deutschlands und Christian war total stolz auf mich. Er gab überall damit an, wie gut ich in meinem Job sei und was für eine tolle Frau er hätte.
Ich war absolut glücklich und so sehr auf mich selbst fixiert, dass ich nicht mitbekam, dass er zwar stolz auf mich war, aber auch darunter litt, dass ich erfolgreich war, während er „nur“ Hausmann war. Er hat auch nie etwas in der Richtung gesagt. Irgendwann merkte ich, dass er sich zu Hause langweilt und ermunterte ihn, doch etwas für sich zu tun und einen Kurs zu belegen, der ihm Spaß machen würde. Nach einigem Überlegen entschied er sich, eine Foto-Safari mitzumachen, die von einem bekannten Fotografen geleitet wurde. Da er schon immer gerne fotografiert hat, fand ich die Idee super, zumal es quer durch Afrika gehen sollte, wo er schon lange einmal hin wollte. Da ich nicht die Absicht hatte, jemals nach Afrika zu fahren, konnte er sich so gleich zwei Träume unabhängig von mir erfüllen und das sollte für eine Beziehung doch gut sein. War es dann aber nicht. Zu der Safari-Truppe gehörten sowohl Männer als auch Frauen. Es dauerte nicht lange und das enge Miteinander der Truppe brachte den ganzen Haufen einander näher als mir lieb war. Als Christian aus Afrika wiederkam, war er braun gebrannt, glücklich und ich Single.“
„Hat er eine Tussi aus dem Fotokurs abgeschleppt?“ Kerstin ist ganz gebannt von Sabines Enthüllung. Mann, dass solche Dinge im wahren Leben passieren und Sabine bisher nichts davon erzählt hat.
„So ist es! Sie hatten sich eines Abends gelangweilt, es gab nicht sehr viel andere Zerstreuung in den Lodges und so kamen er und eine Frau aus dem Kurs auf die Idee, gegenseitig Fotos von sich im schwindenden Tageslicht zu machen. Das Licht verschwindet sehr schnell in Afrika und so verlegten sie ihre Foto-Session kurzerhand in Christians Bungalow. Bei Fotos blieb es dann nicht.“
„Oh je, du Arme!“, bemerkt Anja mitfühlend.
„Ich habe euch die Geschichte nicht erzählt, um bedauert zu werden. Viel mehr dachte ich, wir könnten daraus etwas darüber lernen, wie Beziehungen laufen, was wichtig ist, um zusammen zu bleiben. So eine schlimme Zeit wie nach der Trennung von ihm will ich nicht noch einmal erleben. Außerdem schäme ich mich irgendwie immer noch, weil ich damals so blauäugig war, ihn alleine fahren zu lassen.“
„Dafür musst du dich nicht schämen. Du wolltest ihm damit ein wunderbares Geschenk machen, um das ihn viele Leute beneiden würden und dieser Mistkerl hatte nichts Besseres zu tun, als dein Vertrauen zu missbrauchen!“, ereifert sich Kerstin.
„So einfach ist es glaube ich nicht. Wenn eure Beziehung in Ordnung gewesen wäre, wäre es nicht passiert. Dann hätte er die Reise machen können, ohne über die nächstbeste Frau zu klettern.“, behauptet Anja.
„Über unsere Beziehung haben wir nie wirklich gesprochen. Christian gab mir hinterher die Schuld, weil ich seine Bedürfnisse nicht geteilt hätte. Er sagte, wenn ich mehr Interesse für seine Wünsche gehabt hätte, hätte er sich seine Selbstbestätigung nicht woanders suchen müssen.“
„Wow, was für ein Arsch!“, schäumt Kerstin. „Erst treibt er es hinter deinem Rücken auf einer Reise, die du ihm bezahlt hast, mit einer anderen und dann schiebt er dir die Schuld in die Schuhe. Das ist ja wirklich der Hammer! Und du plagst dich seitdem mit Schuldgefühlen? Warum hast du uns denn nicht eher davon erzählt? Ich dachte, wir wären Freundinnen.“
„Wir sind Freundinnen, Kerstin, aber ich habe mich so geschämt, weil Christian mir eingeredet hat, dass ich alles leichtfertig aufs Spiel gesetzt hätte, indem ich so dämlich gewesen bin, ihn alleine mit anderen Frauen nach Afrika fahren zu lassen. So wie er argumentiert hat, konnte ich nicht anders als ihm zuzustimmen. Es war mir so peinlich, dass ich unsere Beziehung kaputt gemacht hatte, weil ich immer nur an meine Bedürfnisse gedacht habe. Ich wollte nicht, dass das jemand erfährt und deswegen haben wir gemeinsam beschlossen, seine nervige Mutter als offiziellen Trennungsgrund vorzuschieben.“
„Himmel, ich hätte nie gedacht, dass du dich dermaßen vorführen lässt. Ich dachte immer, du stehst mit beiden Beinen im Leben, bist klug und selbstbewusst. Und dann lässt du Christian damit durchkommen, dass er sein Fehlverhalten auf dich projiziert. Wenn er sich wirklich so unverstanden gefühlt hat oder sich gewünscht hätte, dass du seine Interessen teilst, hätte er doch mit dir darüber sprechen können anstatt die nächstbeste Schlampe flachzulegen. Glaub mir, wenn einer Grund hat sich zu schämen, dann nicht du, sondern dieser Blödmann. Ich wünschte wirklich, du hättest es uns früher erzählt. Nicht, weil ich neugierig bin, sondern weil dir dann viel Leid erspart geblieben wäre. Am liebsten würde ich zu diesem Mistkerl fahren und ihm mal so richtig die Leviten lesen.“ Kerstin ist wirklich außer sich. Sie hat zwar immer ein lockeres Mundwerk, aber so aufgebracht haben ihre Freundinnen sie selten erlebt.
Ungläubig starren sie Kerstin an bevor Anja ihre Meinung beisteuert: „Ich finde auch, dass Christian es sich auf deine Kosten sehr bequem gemacht hat. Das bestätigt aber auch, was ich vorhin gesagt habe. Mit eurer Beziehung war etwas nicht in Ordnung. Wahrscheinlich wäre sie früher oder später sowieso den Bach runtergegangen. Wenn man Probleme nicht offen anspricht und stattdessen ein anderes Ventil sucht, hat man keine Chance an den Problemen zu arbeiten. Ich muss Kerstin rechtgeben, der Fehler liegt nicht bei dir und du hast keinen Grund dich zu schämen. Hätte Christian mit dir geredet, hättet ihr nach einer gemeinsamen Lösung suchen können. Um diese Möglichkeit hat er dich betrogen. Aber warum beschäftigt dich diese Sache noch heute so? Du bist doch schon lange mit Thomas zusammen. Trauerst du Christian immer noch hinterher?“
„Nein, natürlich will ich Christian nicht wirklich zurück haben und ich bin auch sehr glücklich mit Thomas. Trotz allem habe ich mich manchmal gefragt, ob ich nicht immer noch mit Christian glücklich wäre, wenn ich damals besser aufgepasst hätte. Das tue ich nicht ständig, aber als ich ihn und seine Familie so glücklich gesehen habe, kam alles wieder hoch und ich frage mich, ob ich überhaupt in der Lage bin, einen Mann zu halten.“
„Natürlich bist du das. Wie ich schon sagte, es gehören immer zwei dazu und Christian hat dir keine faire Chance gegeben, eure Beziehung in Ordnung zu bringen, sondern hat es vorgezogen, sich ohne Diskussion aus dem Staub zu machen. Du bist schon in Ordnung so wie du bist.“
„Danke, dass ihr so viel Verständnis habt. Ich wünschte wirklich, dass ich es euch eher erzählt hätte. Es hat doch die ganzen Jahre irgendwie immer an meinem Ego genagt und ich habe mich deswegen schlecht gefühlt. Irgendwie konnte ich es euch aber nicht erzählen, weil ich nicht wollte, dass ihr mich für dämlich haltet. Es schien so, als ob ihr immer genau wüsstet, wie es mit Männern so läuft. Da wollte ich mich nicht als Depp outen. Aber nach dem Kerstin vorhin zugegeben hat, keine Expertin auf diesem Gebiet zu sein, habe ich beschlossen, euch mit meiner Christian-Trennungs-Version nicht länger etwas vorzumachen.“ Sabine sieht ihre Freundinnen mit Tränen in den Augen und einem dankbaren Lächeln auf den Lippen an.
Damit es nicht zu emotional wird, resümiert Kerstin und gibt damit dem Gespräch eine neue Wendung: „Also, keine Anstellung als Hausmann für Rainer, Anja! Sonst findest du ihn noch mit nichts als einer Schürze bekleidet auf deiner Nachbarin vor. Wobei es bestimmt kein schöner Anblick ist, wenn so ein behaarter Männerhintern in einer derart unwürdigen Position zur Schau gestellt wird.“ Bei dieser Vorstellung brechen alle drei in Gelächter aus und die düstere Stimmung löst sich wieder auf. Genau das wollte Kerstin mit ihrer drastischen Beschreibung erreichen.
Als ob er nur auf das Stichwort „Männerhintern“ gewartet hätte, kommt Enrico und bringt noch einen Grappa auf Kosten des Hauses.
„Ah, ihr abte aber gutte Laune heute! Das gefällte mir. Isch abe ier noch eine leckere Grappa für die schönsten Damen der Stadt. Isch bin sischer, dass die Grappa geholfen hat bei eure Schönheit. Und das soll sich doch nischt ändern.“
„Danke, Enrico!“, sagen die Damen im Chor.
„In Italien trinken die Filmstars nur Grappa und ihr wisst, wie schön sie sind. Zum Glück kann isch misch daran erfreuen, dass ihr genauso gutte ausseht, weil isch eusch immer Grappa gebe!“
„Wenn das nur am Grappa liegt, sollte ich vielleicht jeden Tag eine ganze Flasche trinken!“, sagt Kerstin.
„Biste du verruckte? Willst du misch machen blind? Isch abe schon überlegt, ob isch so übschen Frauen überaupt noch Grappa bringen darf! Aber zwei Gläser pro Tag dienen nur der Erhaltung von die Schönheit, nischt die Verbesserung. Verbesserung iste bei eusch nischt möglisch.“
„Gib schon her, wir stellen uns dem Selbstversuch! Und falls du dann unseretwegen erblindest, kaufen wir dir einen Blindenhund!“, lachen die nun wieder gut gelaunten Freundinnen.
Als er den Tisch verlässt, sollten ihm die lustvollen Blicke der Frauen auf seine wirklich sehenswerte Kehrseite eigentlich ein Loch in die Hose brennen.
„So, Anja, jetzt schuldest du uns aber noch deinen Bericht aus der Arbeitswelt.“, erinnert Kerstin sie.
Anja hatte sich vor einigen Jahren zusammen mit ihrem Kollegen Christoph selbständig gemacht und betreibt eine kleine Agentur, in der sie Internet-Bestellungen für andere Leute aufgibt. Es gibt so viele Leute, die sich entweder gar nicht mit dem Internet beschäftigen wollen oder keine Lust haben, selbst nach dem günstigsten Angebot zu suchen. Diese Marktlücke hatten Anja und Christoph mit ihrer Agentur gefüllt. Sie suchen nach dem besten Angebot, bestellen die Waren und lassen sie an die gewünschte Adresse liefern. Dafür bekommen sie eine Provision. Das Angebot wird gut angenommen und sie haben sehr gut zu tun.
„Ach, nach den ganzen Gesprächen heute, kommt er mir schon fast wieder langweilig vor. Dabei hatte ich den ganzen Tag über das Gefühl im Hamsterrad zu stecken. Es ist auch nichts wirklich Spektakuläres passiert. Die Kunden waren den ganzen Tag wie im Ausnahmezustand und wollten die unmöglichsten Dinge. Manche Leute glauben, Internetbestellung sei gleichbedeutend mit Lieferung bis gestern. Heute schienen sich die Ungeduldigen miteinander abgesprochen zu haben. Es ist selten, dass so viele Leute im Büro erscheinen und sich aufregen, dass die gestern bestellte Ware noch nicht eingetroffen ist. Natürlich gab es dann noch die normalen Dinge, wie Umtauschwünsche, Retouren, Reklamationen usw. Die Krönung war schließlich eine Frau, die sich blind bei uns bewerben wollte. Bei der vielen Arbeit, die wir im Moment haben, könnten wir eine Unterstützung ganz gut gebrauchen, auch wenn wir uns noch nicht zu einer aktiven Suche weiterer Mitarbeiter entschlossen hatten. Deswegen hörten wir uns an, was diese Frau zum Vorstellungsgespräch bewogen hatte. Und dann kam es mal wieder dicke: Ihre einzige Qualifikation war, dass sie schon einmal bei ebay etwas bestellt hatte und sie wollte gerne bei uns arbeiten, weil sie es total schön findet, dass unser Büro nach Feng Shui eingerichtet ist. Dazu kam noch, dass diese Person in Leggins, Gesundheitslatschen und Schlabber-Pulli unterwegs war. Was denken sich die Leute eigentlich, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben?“
„Und, habt ihr diese engagierte Fachkraft gleich eingestellt?“, grinst Sabine.
„Klar doch! Nein, mal im Ernst: diese Episode hat immerhin dazu geführt, dass Christoph und ich nun wirklich nach einer Mitarbeiterin für unser Büro suchen werden. Wir sind uns nur noch nicht ganz einig, über das Aufgabengebiet. Wahrscheinlich werden wir uns eine Teilzeitkraft suchen, die uns die alltäglichen Dinge abnimmt, damit wir den Kopf für die spannenden Aufgaben frei haben. Schließlich sind wir nicht selbständig, um die uninteressanten Dinge zu erledigen und andere Leute für die tollen Aufgaben zu bezahlen. Nach dem heutigen Erlebnis bin ich schon gespannt, was uns da so alles ins Haus schneit, um sich vorzustellen.“
„Das könnte lustig werden. Halt uns bloß auf dem Laufenden!“
„Mal sehen. Vielleicht wird es ja so lustig, dass man darüber ein Buch schreiben kann.“ Typisch Anja, immer noch etwas Komisches an so einer Situation zu finden. Es war wirklich eine gute Idee gewesen, dass sie diese Agentur mit Christoph gegründet hatte. Manchmal schien es so, als ob Stress Anja erst zu Höchstleistungen antrieb und sie sich nach Erledigung der unmöglichsten Aufgaben wie eine satte Katze zurücklehnte und den Erfolg genoss.
Enrico erscheint nochmals an ihrem Tisch und sagt bedauernd: „Es tute mir leid, meine Damen, aber wir schließen gleich. Möschtet ihr noch eine kleine Absacker?“
Da erst bemerken die Frauen, dass sie wohl schon seit geraumer Zeit die letzten Gäste sind. Es ist ihnen ein bisschen peinlich, dass der arme Enrico nur ihretwegen Überstunden schieben muss. Sie nehmen den angebotenen Absacker und entlohnen Enrico mit einem großzügigen Trinkgeld für seine Geduld und auch ein bisschen für die heimliche Besichtigung seiner Kehrseite.
Vor der Tür verabschieden sie sich herzlich voneinander und versprechen, dem heutigen Abend bald eine Fortsetzung folgen zu lassen. Mit einem Lächeln auf den Lippen machen sie sich getrennt voneinander auf den Heimweg.