Читать книгу Entscheidung auf Sardinien - Dietlinde Beerbom - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеAnjas Gedanken wandern zurück zu der Zeit als sie Rainer kennengelernt hatte. Damals konnten sie die Finger nicht voneinander lassen und nutzten auch unter den unmöglichsten Voraussetzungen jede Gelegenheit, um sich nahe zu sein.
Sie hatten sich kurz vor dem Abi in einem Projekt für Ökologische Gewässer zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, obwohl sie schon seit vielen Jahren dasselbe Gymnasium besuchten. Später konnte keiner von ihnen mehr sagen, warum sie sich nicht eher füreinander interessiert hatten. Das spielte aber auch nicht wirklich eine Rolle. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass sie nun gemeinsam an einem Projekt arbeiteten, bei dem sie sehr viel Zeit damit verbrachten, in kleinen Gruppen Aufgaben zu erledigen. Schon nach kurzer Zeit hegte Anja den Verdacht, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Es konnte kein Zufall sein, dass Rainer so häufig in der gleichen Gruppe arbeiten musste wie sie. Allerdings sollte noch eine ziemlich lange Zeit vergehen, bis sie herausfand, wie Rainer das eingefädelt hatte. Das verriet er ihr aus Angst, dass sie wütend darüber sein könnte, erst, als sie bereits längere Zeit ein Paar waren. Als er ihr erzählte, dass er die Mitschülerinnen zum Tausch der Arbeitsgruppe gebracht hatte, indem er ihnen androhte, die ekligsten Tiere, die er während des Projektes fand, püriert unter ihre Pausenbrote zu schmuggeln, fand Anja das jedoch rührend. Den männlichen Gruppenmitgliedern versprach er schlicht und einfach, sich bei Gelegenheit mit einem Gefallen zu revanchieren. Die Herren waren einfacher zufriedenzustellen.
Ein Paar waren sie seit dem Tag, als sie für das ökologische Projekt eine Kläranlage besuchten. Der Geruch dort schlug Rainer gewaltig auf die Magennerven und er musste sich hinter einem etwas abseits stehenden Baum übergeben. Anja hatte als einzige bemerkt, wie er grün im Gesicht wurde und sich beiseite schlich. Unbemerkt war sie ihm gefolgt und hatte ihn anschließend mit Taschentüchern und Mineralwasser versorgt, damit es ihm wieder besser ging. Ihr einziger Kommentar war: „Du solltest eine ausgewogenere Ernährung anstreben! Was du da ausgespuckt hast, sieht nicht besonders gesund aus.“ Danach platzierte sie ihn unter einem anderen Baum im Schatten und ging wieder zurück zu ihrer Gruppe, damit wenigstens einer von ihnen informiert war. Niemand bemerkte Rainers Missgeschick und dafür war er ihr wirklich dankbar. Ab diesem Tag wich er nicht mehr von ihrer Seite.
Nach dem Abitur verbrachten sie einen herrlichen Sommer, in dem sie gemeinsam mit einem Interrail-Ticket quer durch Europa fuhren. Sie hatten nur wenig Geld, schliefen entweder in Jugendherbergen oder in Scheunen, die ihnen die meisten Bauern bereitwillig als Gegenleistung für ihre Hilfe auf dem Hof kostenlos überließen. So hatten sie ganz nebenbei noch eine Menge über Landwirtschaft gelernt.
Anja konnte sich noch gut daran erinnern, wie romantisch es war, als sie und Rainer das erste Mal in einer Scheune in der Provence miteinander schliefen. Damals kümmerten sie sich nicht darum, ob eventuell noch ein weiterer Übernachtungsgast eintreffen könnte oder dass das Heu pikte. Als sie von ihrer Reise zurückkehrten, war es selbstverständlich für sie, dass sie an der gleichen Universität Biologie studierten. Offiziell nahmen sie sich aus finanziellen und praktischen Gründen („das ist doch viel billiger als alleine zu wohnen und da man den Mitbewohner kennt, gibt es auch keine unangenehme Überraschung mit den WG-Mitbewohnern“) eine gemeinsame Studentenbude. Tatsächlich hatten sie damals gedacht, dass ihre Umwelt sich dadurch täuschen ließe. Es sollte noch niemand wissen, dass sie ein Paar waren. Irgendwie hatten sie befürchtet, dass ihre Eltern mit der Partnerwahl nicht einverstanden wären, weil Anjas Familie ziemlich reich war, während Rainer aus einer Arbeiterfamilie stammte. Sie waren sehr überrascht, als ihre Eltern ihnen später erzählten, dass sie von Anfang an Bescheid wussten.
Während ihrer Reise durch Europa, hatten sie sich so ziemlich an jedem Strand, an den sie kamen, eine einsame Düne oder ein Gebüsch gesucht, in dem sie ungestört ihre Liebe genießen konnten. Auch ihre Studenten-Wohnung hätte einige Geschichten über ihr Sexualleben zu erzählen gehabt, wenn sie hätte sprechen können. Dabei hatten sie sich auch keine Gedanken darüber gemacht, was ihre Nachbarn in dem hellhörigen Haus vielleicht mitbekamen. Sie lebten auf einer Insel der ungestörten Zweisamkeit und liebten sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Sie probierten alles aus, was ihnen einfiel. Heute wäre das unvorstellbar für sie. Warum eigentlich?
Wann war das alles den Argumenten wie „Die Kinder könnten ins Zimmer kommen.“ oder „Ich hatte einen anstrengenden Tag.“ oder „Mir ist heute nicht danach.“ gewichen? Schlimmer noch, inzwischen war das Verlangen so selten geworden, dass es nicht mal mehr einer Ausrede bedurfte.
Wenn tatsächlich mal einer von ihnen auf die Idee kam, die Hand nicht auf seiner Seite des Bettes zu belassen, hielt man sie einfach fest und schlief ein. Wenn sie ehrlich war, kam es nur noch sehr selten zu einer Erwiderung der Annäherungsversuche. Und selbst dann war es meistens eher unspektakulär. An das letzte Mal Sex außerhalb ihres Schlafzimmers konnte sich Anja beim besten Willen nicht mehr erinnern. Das musste Lichtjahre her sein.
Scheinbar hatte sie sich einfach eingeredet, dass das eben normal sei, wenn der Alltag in eine Beziehung einkehrte. Sex wurde total überbewertet. Oder nicht? Seit langem spürte sie zum ersten Mal wieder, wie sich etwas in ihrem Körper regte. Am liebsten hätte sie Rainer aufgeweckt, um ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu stillen. Aber das traute sie sich nicht.
Auch komisch: da ist man ewig miteinander verheiratet, glaubt sich gegenseitig gut zu kennen und traut sich dann nicht einmal, seinen Ehemann aufzuwecken, um ihn an die „eheliche Pflicht“ zu erinnern. „Eheliche Pflicht“ - wer hatte sich so etwas ausgedacht? Allerdings muss Anja zugeben, dass dieser Ausdruck eigentlich perfekt für ihr Liebesleben während der letzten Jahre ist. War das bei anderen Paaren wohl auch so? Himmel, sie fühlt sich wie ein Teenager. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Was hat Kerstin da nur mit so einer einfachen Frage angerichtet?
Hm, wenn sie ehrlich ist, hat eigentlich Kerstin gar nichts angerichtet. Sie hat nur den Anstoß gegeben, über etwas nachzudenken, was scheinbar nicht in Ordnung ist. Wenn sie mit ihrem Liebesleben zufrieden wäre, hätte diese Bemerkung sie wohl kaum aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch wenn es unbequem ist, muss sie sich dieser Tatsache doch stellen.
Wie will sie nun damit umgehen? Wenn sich erst mal Unzufriedenheit ausbreitet, ist es wahrscheinlich unklug, sie einfach zu ignorieren. So viel hat sich aus Sabines Bericht über ihre Beziehung zu Christian ergeben. Anja möchte nicht den gleichen Fehler machen und eine Beziehung zerstören, nur weil nicht miteinander gesprochen wird.
Also erste Frage: Liebt sie Rainer noch? Nach kurzem Überlegen ist sie sich sicher, dass die Antwort JA lautet. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass sie aktiv werden muss, um diese Liebe nicht im Alltag ersticken zu lassen.
Nächste Frage: Warum haben sie kaum noch Sex, wenn sie Rainer noch liebt? Vielleicht liebt er sie ja nicht mehr? Finden sie sich gegenseitig noch attraktiv? Diese Frage kann sie nur für sich beantworten. Rainer hat während ihrer Ehe immer auf sein Äußeres geachtet. Er ist noch fast genauso schlank wie am Anfang ihrer Beziehung. Auch über nachlässige Kleidung oder mangelnde Körperhygiene kann sie sich nicht beklagen. Das Alter hat zwar seine Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen, aber das macht ihn eher noch interessanter. Ja, sie findet Rainer noch immer sehr attraktiv. Ach, und warum hat sie dann Enrico auf den Hintern geschaut? „Marktanalyse und sexuelle Unterforderung!“, stellt sie sich selbst die Diagnose.
Da Rainer sehr auf sich geachtet hat, wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn mit Kittelschürze und Staubmopp zu empfangen. Regelmäßiger Sport und ein gepflegtes Äußeres sind für Anja ein absolutes Muss. Auch in ihrer Firma ist das Äußere bedeutsam. Natürlich hat der Zahn der Zeit ein wenig an ihrem Körper genagt, trotzdem findet sie, dass sie durchaus noch gut aussieht. Ja, sie und Rainer sind wirklich ein schönes Paar. Ob Rainer das genauso empfindet, muss er ihr beantworten. Sie nimmt sich fest vor, ihn danach zu fragen. Allerdings muss das warten, bis Nicole wieder verschwunden ist, damit sie Ruhe für ein Gespräch finden. Mit diesem Vorsatz schläft sie endlich ein.