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Not, Gemeinheit, Mord Hugo Bettauer und »Die freudlose Gasse«

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Wien, Herbst 1923. Die Erste Republik hat ihre zweiten Nationalratswahlen hinter sich: Die Christlichsozialen erhalten 82 Mandate, die Sozialdemokraten 68, die Deutschnationalen 15, Prälat Seipel bleibt Kanzler. In der Bundeshauptstadt ist das Kräfteverhältnis genau umgekehrt: Der Sozialdemokrat Karl Seitz tritt sein Amt als Bürgermeister an; der Gemeinderat beschließt das ehrgeizige Wohnbauprogramm des Roten Wien, das die Errichtung von 25 000 Sozialwohnungen binnen fünf Jahren vorsieht. Die Zahl der Arbeitslosen hat die 50 000 überschritten, die Inflation erreicht ihren Höhepunkt, 40 000 Kronen zahlt man für ein Kilo Schweinefleisch. Allenthalben schießen Bankfilialen aus dem Boden, vor den Wechselstuben bilden sich Menschenschlangen, die die täglichen Kurszettel studieren, in den Tanzbars amüsieren sich die Spekulanten, »Radio Hekaphon«, Österreichs erster Rundfunksender, verbreitet die Stimmen von Burgschauspieler Raoul Aslan und Bundespräsident Michael Hainisch, Arthur Schnitzler tritt an die Spitze der frischgegründeten Österreich-Sektion der Schriftstellervereinigung PEN.

Am 17. Oktober 1923 kündigt das Wiener Nachrichtenblatt »Der Tag« einen neuen Fortsetzungsroman an: »Die freudlose Gasse«. Autor ist der 51jährige Hugo Bettauer, der schon im Jahr davor mit seinem Bestseller »Stadt ohne Juden« für Aufsehen gesorgt hat. Selber Jude, doch mit 18 zum Protestantismus konvertiert, greift er in seiner makabren »Zukunftsversion« eines der Themen der Zeit auf: den bedrohlich um sich greifenden Antisemitismus, der »die Juden« für die triste Wirtschaftslage der Republik verantwortlich macht. 250 000 Exemplare setzt der Buchhandel von dem heftig umstrittenen Roman ab, in dem sich nicht nur das »arische Wien« attackiert sieht: Auch der Sache der Juden wird mit Bettauers klischeegespickter Darstellung ein Bärendienst erwiesen.

Nun also »Die freudlose Gasse«: Auch der vom 18. Oktober bis zum 16. Dezember 1925 im »Tag« vorabgedruckte und ein Jahr später in Buchform verbreitete »Wiener Roman aus unseren Tagen« ist ein echter Bettauer: Grelle Zeitschilderung, mäßig verschlüsselte Gesellschaftskritik und schwüle Erotik sind in flotter Erzählweise und anspruchsloser Sprache zu jenem Typ Kolportagestory zusammengemixt, der zu jeder Zeit auf das voyeuristische Interesse der Lesermassen rechnen kann.

Hauptfigur ist die junge Grete Rumfort: Typ der kleinen Sekretärin aus verarmter alt-österreichischer Offiziers- und Beamtenfamilie, die, den Lockungen eines prächtig florierenden Absteigequartiers heroisch widerstehend, in einen spektakulären Kriminalfall – Juwelendiebstahl und Mord – verstrickt wird, dessen überraschende Aufklärung in ein deus-ex-machinaartiges Happy-End mündet. Ort der Handlung ist ein kurzes Straßenstück im 7. Wiener Gemeindebezirk, in dem Kleinbürgertum und Nachkriegsnot, Parvenü-Luxus und Edelprostitution zu einer Art zeittypischem Großstadt-Mikrokosmos verschmelzen.

Aus den Wegbeschreibungen der Akteure ist unschwer abzuleiten, daß mit der »freudlosen Gasse« (die Autor Bettauer Melchiorgasse nennt) die damals wie heute unter dem Namen Neustiftgasse bekannte Verbindung zwischen Volkstheater und Lerchenfelder Gürtel gemeint ist:

»Wiens Entwicklung ist unorganisch, ohne Ziel und Zweck vor sich gegangen. Wien ist wohl die einzige Großstadt, die keine City, kein Wohnviertel hat, sondern ein Kunterbunt von Villen, Luxusbauten, Palästen, Mietkasernen, verfallenen Häusern, Baracken und Armeleutequartieren bildet. In ein und derselben Straße hausen Millionäre und Proletarier, stehen uralte niedrige Häuser mit Gärten und protzige fünfstöckige Talmipaläste mit Lift und Dampfheizung, Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert und abscheulich moderne Miethäuser mit ein- und zweizimmerigen Wohnungen für kleine Leute.«

So gesehen, repräsentiert die Melchiorgasse in Hugo Bettauers Augen die ganze Stadt:

»In ihr leben Markthelfer und Gemüsehändler, die um 2 Uhr morgens mit ihren Karren alte Häuser, hinter denen endlose Höfe mit Stallungen sich verbinden, verlassen, um auf den Markt zu fahren, in ihr rollen fürstliche Automobile vor die hohen geschlossenen Portale feudaler, wenn auch von außen unscheinbarer Paläste, es gibt da Zinshäuser aus der Gründerzeit und moderne Bureaugebäude, die keine Wohnungen enthalten.«

Als Grete Rumfort in der Schlußszene des Romans ihrem künftigen Gefährten, dem von Bettauer mit deutlich autobiographischen Zügen ausgestatteten Redakteur Otto Demel, in ein neues Leben (und das heißt: in ein Einfamilienhaus mit Garten im Nobelbezirk Hietzing) folgt und der »häßlichen, freudlosen Melchiorgasse« für alle Zeiten den Rücken kehrt, tut sie dies mit durchaus gemischten Gefühlen:

»Not, Elend, Gemeinheit, Mord und düstere Verbrechen birgt sie in sich – und doch auch Menschlichkeit und Liebe. Sie ist mir zum Symbol geworden für eine ganze Stadt, die ganze Welt und das ganze Leben.«

Drei Häuser sind es im wesentlichen, in denen Hugo Bettauer die Handlung des Romans abrollen läßt: Melchiorgasse 55, 56 und 58. Die Nr. 55 ist der Mord-Schauplatz: »Typus des neueren Wiener Miethauses mit finsteren Korridoren, stockdunklen Nebenräumen, abgestohlenen Badezimmern, schäbigem Talmiluxus und einer Fassade voll von abscheulichen, angeklecksten Ornamenten aus Kalk und Mörtel.«

Um die Jahrhundertwende erbaut, entstammt es einer Zeit, da in Wien Hausbesitzer zu sein einem Lebensberuf gleichkommt:

»Man war Hausherr, wie man Advokat oder Fabrikant war. Die Frau des Hausbesitzers war die Hausbesitzersgattin, der Sohn ein Hausherrensohn. Unter allen Großstadtdrohnen war der Hausbesitzer die stärkste und brutalste. In anderen Städten war ein Haus sichere Kapitalanlage, in Wien oft ausschließlicher Erwerb. Es galt, aus einem Haus soviel Profit wie möglich herauszuschlagen, also mit schlechtem Material zu bauen, mit jedem Quadratzentimeter Raum zu sparen, Öfen aufzustellen, die nichts kosteten und auch nicht heizten, die Luft und das Licht in Kabinette zu verwandeln, aus einem Loch, das kaum für eine Speisekammer genügen würde, ein Schlafzimmer zu machen. Modernen Wohnungsluxus, wie ihn andere Städte haben, gab und gibt es in Wien nicht, er beschränkte sich auf einige Dutzend Mietpaläste, die nur für die ganz Reichen in Betracht kamen.«

Vis-à-vis, auf Nr. 56, geht die mit allen Wassern gewaschene Frau Greifer ihrem düsteren Gewerbe nach, führt ihren »Salon«, für dessen Bordellbetrieb sie auch die arglos-ahnungslose Grete Rumfort anheuern will. Es ist »ein kleines, ebenerdiges Haus mit winzigen Fenstern, in die man, wenn sie nicht immer verschlossen wären, bequem von der Straße aus einsteigen könnte«. Hat man den Toreingang passiert, so gelangt man »in einen großen, rechteckigen Hof mit einem alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Ziehbrunnen und einem Kastanienbaum. Links und rechts ist der Hof von Türen und Fenstern flankiert, die in kleine, aber nicht unbehaglich erscheinende Wohnungen führen. Und verläßt man den Hof nach rückwärts durch ein zweites Tor, so kommt man wieder in einen Hof und von diesem in einen dritten. Überall Wohnungen, Werkstätten, Ställe. Feuchte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Geranien und Levkojen in zerbrochenen Töpfen vor den Fenstern, Lärm, Hämmern, Musik aus heiseren Grammophonen, Kinderweinen, Zanken, mitunter ein gellender Aufschrei, das Dröhnen dumpfer Schläge, rauhes Lachen, ein sentimentales Lied mit obszönem Kehrreim.«

Und schließlich die Nr. 58: das Nebenhaus, wo im 3. Stock Grete Rumfort wohnt. Dieses – so auf den ersten Blick zu erkennen – hat dazumal bessere Zeiten gesehen, stammt aus den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts:

»Die Zimmer groß, hoch, die Küchen geräumig, die Kachelöfen breit und behaglich. So dick und massiv waren damals die Mauern, daß diese Häuser die Entwicklung der Gasbeleuchtung nicht hatten mitmachen können, da es kaum möglich gewesen wäre, die Rohre einzuziehen. Erst kurz vor dem Krieg hatte der Hausherr, der einer alten Wiener Familie angehörte und ein wenig Herz für seine Parteien besaß, elektrisches Licht einführen lassen.«

Jede der drei Etagen beherbergt drei Parteien – Wohnzimmer, Schlafkabinett und Küche mit Dienstbotenkammer: »Die Namen auf den Türschildern bewiesen, daß die neue Zeit hier noch nicht ihren Einzug gehalten hatte. Ein Generalmajor a.D., ein Hofrat aus dem Verkehrsministerium, ein pensionierter Sektionsrat, ein Privatgelehrter und ein aktiver Universitätsprofessor – das waren die ersichtlich soliden Bewohner eines Hauses, das bescheidenen Wohlstand auszuatmen schien. Die bittere Armut, die hinter den starken Mauern herrschte, die hoffnungslose Verzweiflung über eine Zeitentwicklung, der man nicht gewachsen war, kannte nur der Eingeweihte, in erster Linie der alte Hausmeister und dessen redselige brave Frau, die beide mit Schrecken miterlebt hatten, wie ihre ›Herrschaften‹ in einem Zeitraum von nicht einmal zehn Jahren in abgrundtiefes Elend geraten waren. Und immer wenn der Altwarenhändler wieder aus irgendeiner Wohnung einen Perserteppich, eine köstliche Biedermeiergarnitur, eine seltsame Standuhr, ein Gemälde oder gar eine Kiste mit Büchern fortschleppte, seufzte der Hausmeister tief auf, stieß den braunen Daumen in den Pfeifenkopf und sagte zu seiner Frau:

›Du, Alte, der Hunger geht um im Haus.‹«

Hier, in einer der Wohnungen des dritten Stocks, vegetieren hinter dem Türschild »Alois von Rumfort, k.k. Regierungsrat«, auf dem das »von« und das »k.k.« durchgestrichen sind, Grete Rumfort und die Ihren: die verwitwete Mutter, die jüngeren Geschwister, der greise Großvater. Im Film, der im Jahr darauf – Premiere: Mai 1925 – der Buchversion folgt, wird diese Grete Rumfort, Prototyp der verfolgten Unschuld, von einer bildschönen Schwedin verkörpert, die mit bürgerlichem Familiennamen Gustafsson heißt und nun unter dem Pseudonym Greta Garbo am Beginn ihrer Weltkarriere steht. Es ist die erste größere Rolle der 21jährigen; der Wiener Regisseur Georg Wilhelm Pabst hat sie in einem schwedischen Stummfilm entdeckt, ist von ihrem ausdrucksvollen Gesicht fasziniert und holt sie zu den Dreharbeiten nach Berlin, wo im momentan leerstehenden Zeppelin-Hangar die Szenerie der »Freudlosen Gasse« nachgebaut wird. Für die weiteren Rollen engagiert Pabst die Schauspieler-Asse Asta Nielsen, Werner Krauß und Valeska Gert. Die Drehbuchfassung des Streifens besorgt der aus Prag stammende Kritiker und Essayist Willy Haas, der sich 35 Jahre später – in seinem Lebensrückblick – genau an das Projekt erinnern wird:


Greta Garbo in der »Freudlosen Gasse« (hinter der sich die Wiener Neustiftgasse verbirgt)

»Ich las das Buch. Es war ein miserabler Kriminalroman, ein Reißer aus der Wiener Inflationszeit. Aber ich wußte sofort, was G. W. Pabst mit seinem untrüglichen Flair fürs Zeitgemäße reizte: Es war das grelle soziale Bild der Inflation, der Bankrott der alteingesessenen patrizischen Beamten- und Akademikerkreise, die Korruption, der moralische Zerfall, wie wir sie auch in Berlin erlebt hatten. Wir einigten uns sofort, daß der Film aufs Soziale abgestellt sein und das Kriminalistische ganz zurücktreten müsse. Fast nur der Titel sollte stehenbleiben, den Pabst für attraktiv hielt.«

Gertrude Pabst, die Gattin des Regisseurs, die ihrem Mann als Assistentin zur Seite steht, lädt die Hauptdarstellerin zum Nachtmahl ein. »So ein Gesicht gibt’s nur alle hundert Jahre!« schwärmt Pabst, der die noch unbekannte Garbo in Berlin vom Zug abholt und seiner Frau vorstellt. Auch diese erliegt der starken Ausstrahlung der jungen Schwedin: »Ich konnte mich nicht sattsehen an ihrer vollkommenen Schönheit, vergaß darüber das Essen aufzutragen – mein Mann gab mir einen Fußtritt unterm Tisch. Dazu ihr reizvolles Deutschschwedisch – in ihren Filmen hat sie ja immer nur englisch gesprochen.«

Um so enttäuschender die Probeaufnahmen: Verzweifelt kehrt G. W. Pabst vom ersten Drehtag heim. »Sie zittert vor Nervosität!« berichtet er seiner Frau. Alle Versuche, der Anfängerin die Aufregung auszureden, sie könne ihre Szenen, so oft sie wolle, wiederholen, niemand werde ihr daraus einen Strick drehen, sind vergeblich – nach Ablauf einer Woche steht fest: Die Aufnahmen sind unbrauchbar, die Rolle muß umbesetzt werden.

»Da kam meinem Mann die rettende Idee – per Zufall. Es ging um eine kleine, aber wichtige Szene: eine Aktentasche, die deutlich sichtbar zu Boden fällt. Der Vorgang kam im Bild nicht kräftig genug zur Geltung, also entschloß man sich, ihn in etwas gedehnterem Tempo zu drehen – mit einem Anflug von Zeitlupe. Und genau dies war die Lösung für Greta Garbos Nervositätsproblem: Nun, auf den langsamer gedrehten Bildern, wirkte sie auf einmal völlig ruhig. Noch Jahre später, als mein Mann einmal in Hollywood zu tun hatte, klagte ihm einer der dortigen Produzenten, wie mühsam es sei, mit der hypernervösen Garbo zu filmen, und mein Mann verriet ihm daraufhin sein Rezept.«

Der Stummfilm »Die freudlose Gasse« wird ein Erfolg, der weit über den Tag hinausreicht: Keine deutsche Produktion hält sich so lange in den französischen Kinos wie »La Rue sans joie«, die Cineasten werden in späteren Jahren das Werk unter die Klassiker des Genres einreihen, die in Wiener, Berliner, Londoner und New Yorker Archiven gehüteten Kopien gelten als Kostbarkeiten, die Stadt München ist stolz darauf, das Original des Drehbuchs zu besitzen.

Doch zurück zu Hugo Bettauer. Daß seine Romane so enorm beim Publikum einschlagen, hat nicht nur mit seinem feinen Gespür für Stoffe zu tun, die den Leuten unter die Haut gehen, sondern auch mit seiner Manier, die Dinge klar beim Namen zu nennen, und das gilt nicht zuletzt für die von ihm verwendeten Schauplätze. Ob es der Hohe Markt oder die Gumpendorferstraße, der Arenbergring oder die Goldschmiedgasse, die Pötzleinsdorfer Herrschaftsvilla oder der Türkenschanzpark, das Hotel Bristol oder das Restaurant Eisvogel, Burgtheater oder Konzerthaus, der Trabrennplatz Krieau, das Landesgericht oder die Bellaria sind, die er an passender Stelle in die Romanhandlung der »Freudlosen Gasse« einfügt: Das Wiener Publikum, mit all den Örtlichkeiten vertraut, fühlt sich auf diese Weise ins Geschehen einbezogen, kann sich gleich viel leichter mit den Figuren identifizieren. Hinzu kommt, daß Bettauer auch, was den die Handlung beherrschenden Kriminalfall betrifft, auf ein tatsächliches Geschehnis zurückgreift, das kurz zuvor in der Wiener Presse Schlagzeilen gemacht hat. Eine der beteiligten Personen, Frau eines Bankdirektors, unternimmt sogar gerichtliche Schritte gegen die Verbreitung des Buches, ohne allerdings mit ihrem Begehren nach einstweiliger Verfügung durchzudringen.

Nur bei der Benennung des Hauptschauplatzes entscheidet sich der Autor für Verschleierung: Aus der Neustiftgasse macht er eine Melchiorgasse – wohl, um deren Ambiente zu neutralisieren, ins Allgemeine zu erheben. Daß seine Wahl auf ein Modell im 7. Wiener Gemeindebezirk fällt, dürfte damit zusammenhängen, daß er sich hier besonders gut auskennt: Seit 1914 in der Wallrißstraße im Nobelviertel von Währing ansässig, hat Hugo Bettauer zuvor in der Florianigasse gewohnt, also im Nachbarbezirk der »freudlosen Gasse«, und mit der Redaktion der von ihm gegründeten Wochenschrift »Er und Sie«, die ihren Sitz Lange Gasse 5–7 hat, wird er sogar noch näher an die Neustiftgasse heranrücken. Ein interessanter Straßenzug ist sie allemal: Hier hat Alexander Girardis skandalumwitterte Gattin, die Schauspielerin Helene Odilon, gewohnt, hier hat Otto Wagner, die Nr. 1 der Wiener Jugendstilarchitektur, eines seiner Häuser errichtet, und hier unterhält seit 1903 die nachmals weltberühmte »Wiener Werkstätte« ihre Ateliers. Übrigens gilt Bettauers Beschreibung der »freudlosen Gasse« mit gewissen Abstrichen noch immer: Gründerzeit und Jugendstil in wirrem Durcheinander. Sogar, was der Autor über den Status der Hausbesitzer von anno dazumal äußert, klingt da und dort bis heute an – etwa, wenn man auf einem der beim Portal angebrachten Klingelbretter die antiquierte Bezeichnung »Hausinhabung« lesen kann.

Es wird Zeit, ein paar Daten zur Biographie des Autors der »Freudlosen Gasse« nachzutragen – um so mehr, als die breite Öffentlichkeit mit dem Namen Hugo Bettauer heute kaum noch etwas anzufangen weiß. Am 18. August 1872 kommt er in Baden bei Wien zur Welt; der Vater stammt aus Lemberg, ist ein wohlhabender Börsenmann, stirbt jung. Der Hauptwohnsitz der Familie ist Wien, hier besucht Hugo das Franz-Joseph-Gymnasium an der Stubenbastei, im dritten und vierten Schuljahr sitzt er in einer Klasse mit dem anderthalb Jahre jüngeren Karl Kraus. Die Gründe dafür, daß er mit Erreichen der Volljährigkeit aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft austritt und sich evangelisch taufen läßt, liegen wie so vieles bei Bettauer im dunkeln. Der Dienst bei den Tiroler Kaiserjägern, zu denen er als Einjährig-Freiwilliger einrückt, ist ihm zu beschwerlich, auch kommt es zu Streitigkeiten mit den Vorgesetzten: Unser »Held« desertiert. Ein Semester Philosophie an der Universität Zürich, Eheschließung mit einer Jugendliebe, Tod der Mutter: Bettauer tritt das väterliche Erbe an. Auf der Fahrt nach Amerika verliert er sein Vermögen an einen Bankrotteur, und da er in den USA nicht so leicht Arbeit findet, kehrt er bald wieder nach Europa zurück, versucht sein Glück in Berlin. Heftige Angriffe gegen die Polizei, deren Chef er Korruption, Protektionismus und Unfähigkeit vorwirft, bringen ihn um seinen Posten als Lokalredakteur der »Berliner Morgenpost«: Wegen »Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit« wird der 28jährige »als lästiger Ausländer aus dem Gebiete des preußischen Staates ausgewiesen«. In München versucht sich Bettauer als Kabarettist, in Hamburg als Herausgeber des gastronomischen Fachblattes »Küche und Keller«.

Nach dem Scheitern seiner Ehe sogleich eine zweite eingehend, nimmt der inzwischen 31jährige neuerlich Anlauf auf die Neue Welt, und diesmal klappt es. Als Reporter der »New Yorker Staatszeitung« entdeckt Hugo Bettauer eine Marktlücke: Er schreibt Fortsetzungsromane für Amerika-Auswanderer aus dem deutschsprachigen Raum. Es ist schon der gleiche Typus zeitkritischer Kolportageliteratur, mit dem er ab 1920, unter Nutzung der aus Anlaß des Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs verkündeten Amnestie, nun wieder in Österreich ansässig, auch in der Heimat Erfolg haben wird. Vor 1914 als Wien-Korrespondent des »New Yorker Morgenjournals«, während des Krieges als Salonredakteur der »Neuen Freien Presse« und in den Nachkriegsjahren neuerlich für amerikanische Blätter tätig, macht er sich in der Folgezeit selbständig, schreibt bis zu fünf Romane pro Jahr, darunter »Die freudlose Gasse«, und entfesselt schließlich mit der Gründung und Herausgabe einer »Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik« einen solchen Proteststurm der Biedermänner, daß es seinetwegen zu wüsten Schlägereien im Wiener Gemeinderat, zur Beschlagnahme und Einstellung des Blattes und im September 1924 auch zu einer Anklage wegen Pornographie und Kuppelei kommt. Ausgerechnet sein unerwarteter Freispruch wird Bettauer zum Verhängnis: Die Medienhetze seiner nun erst recht wütenden Gegner aus dem nationalen Lager nimmt bald auch unverblümt antisemitische Züge an, ein arbeitsloser Hitzkopf stürmt das Redaktionsbüro von »Er und Sie« und streckt den »Schandliteraten« und »Kloakendichter« mit fünf Pistolenschüssen nieder, an deren Folgen der 52jährige zwei Wochen darauf stirbt.

Seiner drastischen literarischen Mittel wegen auch von wohlmeinenden Kollegen nie mit Samthandschuhen angefaßt (Anton Kuh wirft ihm »Anti-Courths-Mahler-Gesinnung in der Courths-Mahler-Sprache« vor), ist es kein Geringerer als Robert Musil, der in seinem Nachruf Hugo Bettauer gerecht zu werden versucht; er schreibt:

»Eine Zeit, welche nicht auf das Wort des Schriftstellers hört, sondern auf das Schlagwort, hob ihn in den Mittelpunkt eines Streites, dem er zum Opfer fiel. Impulsiv, empfänglich, hatte er die Gabe, das auszusprechen, was Tausende fühlten. Er sprach es genau in der Weise und mit den Mitteln aus, welche man heute anwenden muß, um zu wirken. Persönlich leitete ihn niemals das Verlangen nach persönlichen Vorteilen, denn dieses hätte der beliebte Schriftsteller viel bequemer befriedigen können, sondern es leitete ihn die ehrliche Überzeugung, zu bessern.«

Wege, die man nicht vergißt

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