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Wien Servus Erste Schritte in Wien
ОглавлениеWien, Herbst 1957. Vor zweieinhalb Jahren hat Österreich seine Unabhängigkeit wiedererlangt, fünf Monate darauf haben die letzten Besatzungssoldaten das Land verlassen. Auch sonst stehen alle Zeichen auf Normalität: Staatsoper und Burgtheater spielen wieder in ihren Häusern, erstere unter der Direktion von Herbert von Karajan. In den Straßen hört man viel Ungarisch: Von den 115 000 Flüchtlingen, die Österreich nach dem Volksaufstand vom vergangenen Jahr über die Grenze gelassen hat, ist rund ein Zehntel im Transitland geblieben.
Unter den Toten des Jahres sind Bundespräsident Theodor Körner (den sein Parteifreund Adolf Schärf abgelöst hat), der aus Wien stammende Schauspieler und Regisseur Erich von Stroheim oder der Operettenkomponist Ralph Benatzky. In den Nachrufen auf Käthe Dorsch ist auch in den deutschen Zeitungen die alte »Watschengeschichte« aufgewärmt worden: Die aus Nürnberg stammende Burgtheater-Lady hatte den gefürchteten Starkritiker Hans Weigel auf offener Straße zur Rede gestellt und geohrfeigt.
1957 ist auch das Jahr der Wiederentdeckung eines lange vergessenen Doppelgenies: »Der Gaulschreck im Rosennetz«, eines der Hauptwerke des Maler-Dichters Fritz von Herzmanovsky-Orlando, erobert den Buchmarkt; das Kabarettensemble Qualtinger/Bronner/Kreisler/Martini eilt von Erfolg zu Erfolg.
Wien entdeckt die Rolltreppe: Eröffnung der Opernpassage (1955)
Ein Problem, das ich auch von Deutschland her kenne, bilden die vor allem große Städte verunsichernden »Halbstarken«; der Wiener Polizeipräsident kündigt erstmals »Maßnahmen« gegen den sich ausbreitenden Furor an. Auch auf dem Bausektor hat sich einiges getan: Die Ringstraße erhält ihre ersten Fußgängerpassagen, die Wiener lernen mit Rolltreppen umzugehen.
In dieser Zeit – exakt: am 23. Oktober 1957 – treffe ich in der österreichischen Hauptstadt ein (ohne im geringsten zu ahnen, daß dies für immer sein wird). Ich komme mit dem Nachtzug an, sehe mich auf dem Westbahnhof nach der Gepäckaufbewahrung um: Es ist ein Schalter, noch kein Schließfach. Weg mit dem Koffer, in keinem Hotel fände ich zu so früher Stunde Einlaß. In der Wechselstube tausche ich mein bißchen Geld um; die Umgewöhnung von D-Mark auf Schilling habe ich schon während der Zugfahrt geübt.
Den Weg vom Bahnhof zu meiner provisorischen Bleibe, dem mir empfohlenen Billighotel zwischen Fleischmarkt und Schwedenplatz, habe ich noch daheim auf meinem Stadtplan markiert; ich lege die halbstündige Strecke – quasi zur Probe – zu Fuß zurück, versuche eine erste grobe Annäherung an die mir fremde Stadt. Ich lasse mir dabei Zeit, nehme bewußt auch Umwege in Kauf, schaue genau hin, höre genau zu.
Im Vergleich zu den deutschen Metropolen, die ich kenne, fällt mir hier die geringe Zahl noch sichtbarer Kriegsschäden auf; vor allem in der Mariahilferstraße, die ich in ihrer vollen Länge durchschreite, sind die Reihen dicht geschlossen. Stafa, Gerngroß, Herzmansky heißen die prall gefüllten Kaufhäuser. Ist »Kummer«, so denke ich, eine glückliche Wahl für einen Hotelnamen? Und wäre in Frankfurt oder Berlin eine Apotheke »Zur Maria vom Siege« denkbar?
Im Matador-Haus nahe der Neubaugasse (von dem ich nicht ahnen kann, daß ein Untermietzimmer im Hintertrakt demnächst mein erstes festes Quartier sein wird) dreht sich ein hölzernes Miniaturmodell des Riesenrades: Licht und Mechanik im Schaufenster des renommierten Spielwarengeschäfts bleiben auch nachtsüber eingeschaltet. Auf einer der Plakatsäulen ist für »Jänner« eine große Konzertveranstaltung angekündigt: Werde ich von nun an den »Januar« aus meinem Wortschatz tilgen müssen?
Im Café »Servus« neben dem Haydn-Denkmal nehme ich das Frühstück ein; daß die landestypische Grußformel mit scharfem »s« artikuliert wird, muß ich erst noch lernen. Das Hörnchen, das ich in Deutschland verzehrt habe, heißt in Österreich Kipferl, und der Einspänner, den ich auf der Getränkekarte finde, ist keine Kutsche (deren es zwar viele im Wiener Stadtbild gibt, doch wieder unter einem eigenen Namen: Fiaker).
Auch die Speisekarten, die ich auf den Aushängen der meinen weiteren Weg säumenden Gasthäuser studiere, gehen über von Exotismen: Die Kartoffeln heißen hier Erdäpfel, die Klöße Knödel, die Frikadellen Faschiertes, die Schnittbohnen Fisolen und der Blumenkohl Karfiol. Die Weinstube in der Theobaldgasse verwirrt mich mit Angeboten wie G’spritzter, Ribiselwein und Refosko; beim Metzger, der hier als Fleischhauer firmiert, bekäme ich kein »Kasseler«, sondern G’selchtes, auch mit Blunzen und Klobassen weiß ich vorderhand nichts anzufangen, und am meisten irritiert mich, daß nicht einmal die Wiener Würstchen Wiener heißen, sondern Frankfurter. Beim Gemüsehändler müßte ich statt Rapunzel- einen Vogerlsalat und statt Meerrettich Kren, beim Lebensmittelhändler statt Quark Topfen, statt Pflaumenmus Powidl und statt Hefe Germ verlangen, und das Ganze bekäme ich nicht etwa in eine Tüte, sondern in ein Sackerl eingepackt. Das Bier trinkt man nicht aus Humpen, sondern aus Seideln oder Krügerln und den Kaffee nicht aus Tassen, sondern aus Häferln oder Schalen. Soll ich mich beim Mittagessen auf Risiken wie Einmachsuppe oder Vanille-Rostbraten einlassen?
Mein erster Weg durch Wien zieht sich – der vielen Abschweifungen wegen – in die Länge, ich hätte gar zu gern etwas zum Naschen in der Manteltasche. Doch Vorsicht: Bonbons sind in Wien etwas anderes als Zuckerln, und schwer auszusprechen ist es auch.
Das Studium der Gedenktafeln, die an zahlreichen Häusern der Mariahilferstraße angebracht sind, trägt zu meiner Bildung bei: An den Geburtshäusern von Ferdinand Raimund und Josef Strauß kann ich meinen Wissensstand testen, und sollte ich ärztliche Hilfe benötigen, informieren mich die Schilder der »Doktoren der gesamten Heilkunde« nicht, wie ich es von Deutschland gewohnt bin, über ihre Praxis-, sondern über ihre Ordinationszeiten. Der enge kleine Laden, in dem ich mir meine Zigaretten besorge, heißt Trafik (mit Betonung auf der zweiten Silbe), und daß die Putzerei keine Boutique für modischen Schnickschnack, sondern eine chemische Reinigung ist, werde ich spätestens dann kapieren, wenn ich meine, zu dieser Zeit einzige, Jacke (sprich: Sakko) mit Fleischtunke (sprich: Bratensaft) bekleckert (sprich: angepatzt) habe.
Von den Firmenschildern der Posamentierer und Plissierer lasse ich mich nicht schrecken – in der Hoffnung, auf deren obskure Dienste ebenso verzichten zu können wie auf die Angebote der Galanteriewarenhandlung und der Petit-Point-Stickerei. Der Mantel, den ich an diesem kalten und windigen Oktobermorgen trage, ist schon ein bißchen abgeschabt – ob ich mir vielleicht, meinem Gastland zu Ehren, eine jener Lodenpelerinen zulegen sollte, wie sie hier stark verbreitet sind? Ich präge mir für alle Fälle die österreichische Übersetzung ein: Wetterfleck. Klingt gut.
Späte Fünfzigerjahre: Noch sind viele der Wohnhäuser, an denen ich vorüberkomme, tagsüber offen, die Mieter nicht durch Gegensprechanlagen abgeschirmt. Ich betrete einige der Häuser, mache mir Notizen. Wenn ich erst einmal ein Dach überm Kopf und die ersten Bekanntschaften geschlossen haben werde, will ich mit deren Hilfe meinen Fragenkatalog abarbeiten: Was, zum Beispiel, ist der Unterschied zwischen Treppe und Stiege, was versteht man unter Mezzanin? Ist es ein Medikament gegen Schlafstörungen?
Die erste Hälfte meiner Strecke ist geschafft, ich biege von der Babenbergerstraße in den Ring ein. Ah, da steht eine Telefonzelle! Höchste Zeit, meiner Familie in Deutschland meine Ankunft zu melden. Doch so einfach ist das nicht. Wie tausende und abertausende Touristen vor und nach mir scheitere auch ich an den Tücken des außerhalb Österreichs unüblichen Zahlknopfs. Ich verschiebe mein Ansinnen auf den Nachmittag; im Hotel wird man mir bei dem Versuch, ein »interurbanes« Gespräch zustandezubringen, sicherlich zur Hand gehen. Die Straßenbahnen mit ihren auch während des Fahrens offenen Waggons schleppen sich so langsam dahin, daß beherzte junge Leute zwischen den Stationen auf- und abspringen. Und in der Kärntnerstraße mit ihren eleganten Geschäften und Lokalen muß ich aufpassen, daß ich vor lauter Schauen und Staunen nicht unter die Räder komme: Wiens Nobelmeile ist noch für den Autoverkehr freigegeben.
An die Glastür eines Ladens ist ein Zettel geheftet: »Tüchtige Bedienerin gesucht!« Ich fühle mich in ferne Zeiten versetzt: Bedienerin? Ja, hat die Putzfrau in diesem Lande höhere Pflichten, von denen ich deutscher Provinzler keine Ahnung habe? Vor meinem geistigen Auge ersteht das aus plüschigen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts vertraute Bild der im Luxus schwelgenden und mit Donnerstimme und Zimmerglocke ihr Personal herumkommandierenden Grande Dame – sollte das in Wien noch immer so sein? Die prachtvollen Feudalbauten der Ringstraße, an deren Architektur ich mich nicht sattsehen kann, aber auch die Entrees der stolzen Bürgerhäuser zwischen Rotenturmstraße und Fleischmarkt sprächen dafür: edle Hölzer, gemusterte Fliesen, blinkendes Messing, altertümliche Aufzugkabinen mit Notsitz und Spiegel.
Über dieser Frage und vielen anderen, die sich auf meinem Erkundungsgang aufgetürmt haben, nähere ich mich dem Ziel: Hier irgendwo, zwischen einem pittoresken Bierlokal und der mystisch anmutenden Griechenkirche, muß jene versteckte steinerne Treppe zu finden sein, deren Stufen zu »meinem« Hotel hinabführen. Dort werde ich mich allerdings erst gegen Mittag einfinden, den Meldezettel ausfüllen und mein Zimmer beziehen. Nr. 32 hat man mir geraten, es ist das billigste: fensterlos und unterm Dach. Bis dahin habe ich noch volle vier Stunden vor mir – ich werde sie dazu nutzen, auch andere Routen auszuprobieren, meinen Horizont zu erweitern. Erst dann werde ich den Koffer vom Westbahnhof abholen und mich der großen Aufgabe stellen, in Wien seßhaft zu werden. Der erste Schritt dazu ist getan.