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Die Wundertüte Von Durchhäusern, Abkürzungen und Schleichwegen

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Als ich 1958, in meinem zweiten Wiener Jahr, von der Mariahilferstraße in den 3. Bezirk umzog (in dem ich nach wie vor lebe), ließ ich nichts unversucht, meine neue Bleibe bis zu den verstecktesten Gassen und verschwiegensten Plätzen zu erkunden. Auf dem Weg von der Landstraße zur parallel verlaufenden Hainburgerstraße, den ich jedesmal durchschritt, um zu meiner Apotheke, zu meinem Elektrohändler oder zu meiner Bücherei zu gelangen, entdeckte ich eines Tages eine Abkürzung, die keine Gasse, sondern nur eine Art Passage war, die auf der Höhe der Nr. 73 durch das betreffende Haus führte. »Freiwillig bis auf Widerruf gestatteter Durchgang« las ich auf den an den beiden Zugängen montierten Schildern – baß erstaunt über die Generosität des Hausbesitzers, der es zuließ, daß wir Fußgänger die knapp hundert Meter auf dessen Privatgrund zurücklegten. Sind sie also doch nicht solche Tyrannen und Blutsauger, als die ich aus den Chroniken, Liedern und Anekdoten vom alten Wien den allseits gefürchteten Stand der Hausherren kennengelernt hatte?


»Freiwillig bis auf Widerruf gestatteter Durchgang«: eines der 144 Wiener »Durchhäuser«

Der Durchgang, von dem ich berichte, war alles andere als einladend: Allerlei Gerümpel säumte den Weg, das Kopfsteinpflaster war von jahrzehntelanger Benützung ausgetreten und holprig, und bei Schnee- und Eisbelag war das Terrain überhaupt zu meiden. Außerdem war er, wie ebenfalls den Schildern an den beiden Toren zu entnehmen war, nur montags bis freitags geöffnet – und auch da nur tagsüber. Dann aber war das sogenannte Durchhaus für jeden, der’s eilig hatte, eine willkommene Abkürzung.

1991, mit der Inbetriebnahme der U-Bahn-Linie 3 und der Eröffnung der Station Rochusgasse, war es damit vorbei. Die Erbauer der neuen Verkehrsverbindung legten parallel zu »meinem« Durchhaus einen eigenen Fußweg an, und es war abzusehen, daß nunmehr jedermann diese hochmoderne, sehr viel breitere und vorzüglich asphaltierte Variante wählen würde. Mit nur wenigen Ausnahmen, und eine dieser Ausnahmen war ich. Obwohl der neue Weg der ungleich benützerfreundlichere war, blieb ich in einer schwer erklärbaren, wohl von Gewohnheit und Sentimentalität bestimmten Anhänglichkeit dem alten treu – jedenfalls solange er weiterhin zugänglich war, immerhin noch einige Monate. Dann aber wurde, von einem Tag auf den anderen, der »freiwillig gestattete Durchgang« geschlossen, die Schilder an den beiden Zugängen wurden abmontiert, und die zwei betreffenden Häuser waren von Stund an Häuser wie alle anderen auch: Privatgrund, der nur noch für die Hauseigentümer, für deren Mieter und deren Gäste offenstand.

Ich trauere der nun seit 24 Jahren aufgelassenen Wegvariante bis heute nach. Und noch etwas: Ich hatte bei dieser Gelegenheit meine Liebe zu diesem Spezifikum der Wiener Alltagslogistik entdeckt: zu den (auch im Österreichischen Wörterbuch mit einem eigenen Eintrag bedachten) »Durchhäusern«.

Ich hatte den Begriff schon vorher gekannt – jedoch nur im übertragenen Sinne: »Durchhaus« – so sagte man im Volksmund, um Örtlichkeiten zu bezeichnen, an denen ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. »Das ist ja das reinste Durchhaus!« vernahm ich mit einem Unterton aus Klage und Bedauern, wenn ich von Familien hörte, die in einem fort Gäste bewirteten und Besuchern Quartier boten – für mich, den geborenen Solipsisten, der reine Horror.

Ganz anders die »richtigen« Durchhäuser, deren es nach offizieller Zählung 144 in Wien gibt: die meisten und auch romantischsten in der Inneren Stadt, schon deutlich weniger in den Bezirken 2 bis 9 und nur noch vereinzelt an der Peripherie.

Doch bleiben wir zunächst noch einen Augenblick in »meinem«, dem 3. Bezirk. Da wäre vor allem der Sünnhof zwischen Landstraßer Hauptstraße und Ungargasse zu nennen: ein 170 Meter langer Biedermeierkomplex, der in puncto Geschlossenheit und Attraktivität jegliche Konkurrenz aussticht. Einst ein »Gewerbehof«, in dessen Erdgeschossen Schuster, Schneider, Korbflechter und Blumenbinder, Glaser, Tischler und Steinmetz ihrem Tagwerk nachgingen, pulsiert hier seit einem in den frühen 1980er Jahren realisierten Hotelneubau frisches Leben. Nur die Glaskuppel, die an der Kreuzung zu Baumannstraße und Pfarrhofgasse das Gassengeflecht hätte überdachen sollen, ist aus den Bauplänen gestrichen worden.

Auf die Uhr blicken muß ich, wenn ich die Abkürzung zwischen Rochusgasse und Pfarrhofgasse nützen will: Hier schließt der Hausbesorger Punkt 21 Uhr das Tor und öffnet es erst wieder um 6 Uhr früh, wenn die Putzfrauen anrücken, um die Klassenzimmer des das Areal beherrschenden Gymnasiums zu reinigen. Ein weiteres Durchhaus in meiner Nähe, das allerdings seit vielen Jahren nur noch den Wohnparteien zugänglich ist, verbindet die Beatrixgasse mit dem Heumarkt. Hier, wo einst die Schriftsteller Ingeborg Bachmann und Erik Wickenburg gelebt haben, habe ich, als ich nach Wien kam, zwischen Stiege und Treppe, zwischen Hausnummer und Türnummer unterscheiden gelernt – ein für Fremde höchst gewöhnungsbedürftiges Phänomen.

Nur unter Zögern nütze ich die Abkürzung zwischen dem Einkaufszentrum Galleria und der Hainburgerstraße, führt sie doch mitten durch ein großes Textilkaufhaus, dicht vorbei an Kleiderständern und Anprobekabinen. Ob sich wohl hinter dem Entgegenkommen des Geschäftsinhabers die Hoffnung verbirgt, der Passant könnte der Versuchung erliegen, einen ungeplanten Kauf zu tätigen? Tatsächlich bin ich einmal, als ich mich mit wetterbedingt schmutzstarrendem Schuhwerk durch das Warenangebot schlängelte, schwach geworden und habe mich, nur um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, mit frischen Socken eingedeckt.

Voll auf ihre Kosten kommen Durchhaus-Habitués, die sich zwischen dem 6. und dem 7. Bezirk bewegen. Hier warten gleich drei der schönsten Exemplare auf sie – und das fast in einer Linie: der Kandinsky-, der Adler- und der Raimundhof. Wir starten unsere Tour in der Lerchenfelderstraße 11. »Begehen auf eigene Gefahr« lese ich am Eingang zu den vielerlei Höfen und Stiegen, deren Höhenunterschiede durch kurze Treppchen überwunden werden. Kopfsteinpflaster, Kübelpflanzen, Lampen von lobenswerter Schlichtheit. Auch die wenigen Firmen, die sich im Hausinneren niedergelassen haben, passen sich vorzüglich dem Ambiente an: die Vollkornbäckerei, der Citybiker-Shop oder das Restaurant (das dem Besucher des »Vienna English Theatre« 20 Prozent Nachlaß gewährt). Die barocke Nepomuk-Statue erinnert an die Zeit, da der inzwischen kanalisierte Ottakringerbach wieder und wieder Hochwassergefahr heraufbeschwor; die vom Erzbistum Olmütz, dem damaligen Hausbesitzer, gestiftete Huldigung an den für Wasserschäden zuständigen Schutzheiligen ist 2009 vom Bundesdenkmalamt erneuert worden.

Vom Ausgang in der Neustiftgasse begeben wir uns in die Burggasse 51, wo schon die Stukkatur über dem Hauseingang in Großbuchstaben den Weg zum Adlerhof weist. Wer in diesem zwar besonders reinlichen, dafür aber auch sterileren Durchhaus eine der 180 auf zehn Stiegen verteilten Wohnparteien ansteuert, orientiere sich an dem bei beiden Pforten ausgehängten Namenverzeichnis – vorausgesetzt, er kommt mit der komplizierten Meldetechnik zurecht, die altmodische Menschen wie mich mit Begriffen wie »Rufeingabe« und »Glockentaste« schreckt.

Von der Siebensterngasse, in der wir nach Durchschreiten des Adlerhofs gelandet sind, setzen wir unseren Spaziergang in Richtung Mariahilferstraße fort und treten bei der Nummer 45 in das interessanteste, farbigste und belebteste der drei Durchhäuser ein. Gleich zweifach wird dem Namensgeber des Raimundhofs Reverenz erwiesen: beim Eingang mit dem fähnchengeschmückten Hinweis auf das Geburtshaus des Dichters und beim Ausgang mit den mit Büchern, Bildern und Theaterzetteln bestückten Schaufensterauslagen der Ferdinand-Raimund-Gesellschaft. Über die 23 auf drei Höfe verteilten Läden gibt ein Lageplan Auskunft; Branchen wie Naturkosmetik, Esoterik, Skaterausrüstung oder Second Hand deuten darauf hin, daß hier in erster Linie eine jüngere, eine alternative Klientel angesprochen wird, die auch sicherlich das jeden ersten Donnerstag im Monat erlaubte Late Night Shopping zu schätzen weiß. Im Teeladen kann man unter 200 Sorten auswählen, die Werkstatt der Schuhmeisterin gleicht einem eleganten Salon, das Vegetarierlokal wünscht seinen Gästen »Freude in einer gesunden und fröhlichen Welt«, die steinernen Blumenschalen vor dem Ausgang zur Windmühlgasse bieten den Amseln, die sich hierherverirren, betreutes Wohnen, ein eigener Wegweiser macht auf die Schätze des nahegelegenen Bezirksmuseums aufmerksam. Im Gästebuch des Cafés bedankt sich einer dafür, »daß er rauchen darf«, ein zweiter verewigt sich mit einem Balzac-Zitat, und auf der Reklamewand der Herrentoilette wird für die einmal im Jahr veranstaltete Feuerzangenbowle getrommelt.

Für die Besichtigung der Durchhäuser der Inneren Stadt vertraue ich mich der Fremdenführerin Katalin John-Borszki an; sie ist eine der 28 für den Verein »Wiener Spaziergänge« tätigen Fachkräfte. Die laut Eigenwerbung »dynamische und professionell arbeitende Gruppe staatlich geprüfter Fremdenführer« hat »Wiener Madonnen« ebenso im Programm wie »Mörder, Hexen, Henker« oder die Arbeitsplätze der Dirne Josefine Mutzenbacher, »Bader, Ärzte, Scharlatane« ebenso wie Altwiener Handwerkergassen, »Menschen im Hotel« oder den »Dritten Mann«; der neuerdings angebotene Rundgang zu den Schauplätzen des aktuellen Romanbestsellers »Der Hase mit den Bernsteinaugen« zeugt für Einfallsreichtum und Wendigkeit der mehrheitlich weiblich bestückten Riege.

Frau John-Borszki, Wahlwienerin aus Budapest, geleitet mich vom Pasqualati-Haus mit seiner »Beethoven-Bassena« (und dem holzschindelgedeckten Nebenhaus) zur Blutgasse, deren Bezuschussung im Zuge der Revitalisierung der 1960er Jahre an die Bereitschaft der Anrainer geknüpft war, den Durchgang zur Grünangergasse offenzuhalten. Der von außen nicht erkennbare Schleichweg vom Stoß im Himmel zur Wipplingerstraße führt nicht nur durchs Alte Rathaus, sondern auch – ausgenommen während der Gottesdienste – durch das Innere der von den Altkatholiken genutzten Salvatorkirche. Interessant auch der Durchgang von der Kleeblatt- zur Kurrentgasse, an deren Ende sich eine der über 50 Wiener Privatkapellen befindet. Nur zwei Mal im Jahr werden hier die Tore aufgetan: wenn der Hausbesitzer, der »Berufsverband christlicher Arbeitnehmerinnen im hauswirtschaftlichen Dienst«, für deren Schutzpatron die Messe lesen läßt. Wer vom Feuerwehrhaus Am Hof zum Tiefen Graben gelangen will, muß drei Stockwerke überwinden, und im exklusiv angehauchten Heiligenkreuzerhof werden am Heiligen Abend und zu Silvester bereits um 15 Uhr die Zugänge gesperrt. Und was ist eigentlich mit der Hofburg und ihren zahllosen Trakten, Türen, Höfen, Stiegen, Gängen? Kein Geringerer als Kaiser Franz Joseph hat darüber Klage geführt, er residiere im verkehrsreichsten Durchhaus von Wien …

Ein besonders ergiebiges Revier für Durchhaus-Fans ist das Viertel zwischen Stephansplatz und Bäckerstraße. Kuriositäten wie Wiens berühmtester Schnitzelwirt, der seine Gäste zur Verrichtung der Notdurft, den großen Schlüssel in der Hand, an das außerhalb des Lokals befindliche Örtchen verweist, oder die Geschichte vom Durchhaus »Schmeckender Wurm«, die eine der schaurigsten Sagen des mittelalterlichen Wien wiederaufleben läßt, bieten den Touristen ebenso Gesprächsstoff wie die zum Teil abenteuerlichen Schicksale jener Kleinunternehmer, die im Lauf der Jahrhunderte in manchen der Passagen ihren Geschäften nachgingen. An einen von ihnen, heute kaum noch vorstellbar, erinnere ich mich aus meiner eigenen ersten Wiener Zeit. Es war das Ladenlokal einer Dame mit bodenlangem Talar und dichtem, bis zu den Knöcheln herabwallendem Haar, die in der Passage zwischen Stephansplatz und Wollzeile für eine von ihr erfundene Pomade warb, welche der Benützerin »185 Zentimeter langes Riesen-Loreley-Haar« verhieß. Das Bild dieser Anna Csillag (so ihr Name) prangte zu jener Zeit auch auf den Inseratenseiten aller gängigen Illustrierten, ähnlich dem heute gleichfalls vergessenen Darmol-Onkel, der, mit Schlafmütze und Kerzenleuchter dem ersehnten Ziel zustrebend, allen unter Hartleibigkeit Leidenden sein Guinness-Buch-reifes Produkt ans Herz oder besser an den Verdauungstrakt legte.

Daß Durchhäuser auch lichtscheues Gesindel anziehen, bezeugt die Wiener Kriminalstatistik: Immer wieder ereignet es sich, daß Diebesbanden in Monteurskleidung, die auf Jugendstil-»Souvenirs« aus sind, wertvolle Türglocken, Türschnallen und Lampen mitgehen lassen, ja mitunter ganze Stiegenhausfenster aushängen. 76 Taschendiebstähle registriert der Polizeiposten Brandstätte/Bauernmarkt im Tagesdurchschnitt.

Die Damen vom Verein »Wiener Spaziergänge« (Mindestteilnehmerzahl: drei) denken an alles: Sie achten darauf, daß es bei ihren Führungen nicht zu lautstark zugeht und strenge Hausverwaltungen daraufhin auf die Idee kommen könnten, ihre Passiererlaubnis zu sistieren; sie führen ihre Gäste – etwa am Beispiel der sogenannten Pawlatschen – in Bedeutung und Herkunft einschlägiger Wiener Spracheigenheiten ein; und sie leiten Beschwerden – wie etwa die über den Mangel an öffentlichen Toiletten – an die zuständige Behörde weiter. Da ist es nur selbstverständlich, daß sie für den Fall des Falles den aus dem außereuropäischen Raum Anreisenden jederzeit mit hiesigem Wechselgeld aushelfen können.

Bei so vollendetem Service konnte es nicht ausbleiben, daß das Lob der Wiener Durchhaus-Touren eines Tages auch ins Internet Eingang fand. Ein Tourist aus Duisburg, nach der Rückkehr in die Heimat seine Wien-Erlebnisse resümierend, erging sich auf seinem Blog in schwärmerischen Schilderungen all der Höfe und Stiegen, der sie begleitenden Werkstätten, Läden und Lokale – es erinnere ihn stark an jenes Glücksgefühl, das er als Kind empfunden habe, wenn ihm seine Eltern eine Wundertüte gekauft haben. Das Durchhaus – eine Wundertüte!

Wege, die man nicht vergißt

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