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Dieses Büchlein ist unmöglich

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Als das Internet Ende 2019 erfuhr, dass ich gerade damit beschäftigt war, die vorliegende kleine Schrift zu verfassen, ließ jemand bei Twitter einen Schrei los: »Hegel auf 100 Seiten, das geht nicht, das darf nicht, das kann nicht sein!«

Der Schrei ist berechtigt. Ließe das, was Hegel gedacht hat, sich auf 100 Seiten mitteilen, wäre Hegel ein Schwätzer gewesen, er hat ja Tausende von Seiten damit vollgeschrieben.

Hegel war aber kein Schwätzer, also ist die Behauptung, es ginge knapper als auf Tausenden von Seiten, wirklich zum Schreien.

Kurze Einführungen in sein Denken gibt es trotzdem; sogar kürzere als meine. Sie machen oft ein kleines batteriebetriebenes Figürchen aus ihm, das pausenlos immer dasselbe sagt: »These, Antithese, Synthese!« Das heißt, es wird nahegelegt, Hegel habe gern

1 Behauptungen aufgestellt (»These«), diese dann

2 verworfen (»Antithese«) und zum Schluss

3 die ursprüngliche sowie die ihr entgegengesetzte Position zu einer dritten zusammengebacken (»Synthese«), mit der dann alle irgendwie leben können.

So macht’s vielleicht der Jugendpfarrer bei der Ansprache auf dem Heavy-Metal-Weihnachtsfest. Hegel macht’s nicht so. Bei seinem Zeitgenossen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, von dem noch die Rede sein wird, stellte die eben vorgeführte, häufig »Triade« genannte Abfolge aus Satz, Gegensatz und Synthese das Modell eines jeden Erkenntnisfortschritts dar; Hegel nennt diese Triade 1807 aber ein »äußerliches lebloses Schema«.

Ein leiblicher Nachfahr Hegels, der Mathematiker und Romancier Rudy Rucker, hat sich zwar auf seinen Ahnherrn 2005 im Buch The Lifebox, the Seashell, and the Soul (man beachte die schöne Kommasetzung, die das Deutsche nicht kennt) berufen, als er zwei Vorstellungen miteinander und dann mit einer dritten konfrontierte, die nach seinem Willen die ersten beiden überwinden sollte:

1 eine Maschine, die alle Informationen speichern kann, die ein Menschenhirn enthält (»the lifebox«),

2 das Empfinden vieler Menschen, so eine Maschine habe trotzdem »keine Seele« (»the soul«) und schließlich

3 Muster auf Muscheln (»the seashell«), die einerseits regelbestimmt zustande kommen, andererseits aber aus den sehr einfachen Regeln, die sie erzeugen, eine nicht vorhersehbare Komplexität herausholen, wie das der Informationswissenschaftler Stephen Wolfram bei seinen »zellulären Automaten« beschrieben hat.

Rucker nennt den Gedankengang sogar »hegelianisch«, was er aber nur so ganz ungefähr ist. Blöd ist er nicht, und das mag bei Gedanken als Existenzberechtigung genügen.

Wenn nun aber das Schema »These, Antithese, Synthese«, von dem so viele reden, als wäre es der Schlüssel zu Hegel, genau das eben nicht ist, wie man bei Hegel selbst lesen kann: Wovon geht man dann am besten aus, wenn man in Hegels Kopf hineinwill?

Theodor W. Adorno schrieb, man sträube sich nach all dem Unfug, der damit schon getrieben wurde, geradezu, das Wort »Synthese« überhaupt noch

in den Mund zu nehmen. Hegel braucht es weit seltener, als das von ihm bereits seines Geklappers überführte Schema der Triplizität erwarten lässt. Dem dürfte die tatsächliche Sruktur seines Denkens entsprechen: Es überwiegen die bestimmten Negationen der aus äußerster Nähe visierten, hin und her gewendeten Begriffe.1

Das soll sagen: Hegel hat Einzelheiten sehr häufig präzise verneint, um einem Allgemeinen zur Geltung zu verhelfen. In dieser Verneinungsarbeit steckt der »organisierte Widerspruchsgeist«, als den er Goethe gegenüber einmal sein Denken bestimmte. Martin Heidegger geht in Entwürfen einer zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Hegelvorlesung so weit, zu verfügen, es könne überhaupt nur eine »Grundbestimmung der Hegelschen Philosophie, deren Durchdenkung in einen ursprünglichen Standpunkt zurückführt, weil sie von diesem her erst wahrhaft als eine solche erblickt werden kann« geben, die »zugleich dem Durchgearbeiteten des Hegelschen Systems gerecht bleibt«; diese Grundbestimmung sei »die Negativität«.2

Dass die Denker Adorno und Heidegger am selben Strang ziehen, hier: an dem des Negativen, kommt selten vor. Adorno hat nicht verheimlicht, dass er von Heidegger sehr wenig hielt, der seinerseits nichts von Adorno wissen wollte. Gemeinsam ist ihnen fast nur, dass man sie häufig »weltanschaulich« liest; ein Preis dafür, dass sie aus dem Seminar hinaus- und in die Gesellschaft hineingedacht haben (Heidegger mit Verachtung für die Masse, die er »das Man« nannte, Adorno mit einer Theorie, die er als umfassende Gesellschaftskritik verstanden wissen wollte). Dass beide im »Negativen« Hegels Wichtigstes sahen, ergibt sich aus ihrem Weltinteresse, das in Negationen dachte: Die Welt hat etwas falsch gemacht und falsch gedacht, sie ist »seinsvergessen« (Heidegger) oder verstrickt in einen »Verblendungszusammenhang« (Adorno). Negativität muss nicht Hegels ganze Wahrheit sein, aber es ist offenbar eine, die man findet, wenn man mit ihm mehr vorhat, als die Prüfungsordnung an der Uni oder der Philosophie-Chat im Netz erlauben.

Wer sich ein Büchlein von 100 Seiten über Hegel kauft, sucht eher Anregung zum Blick durch Hegels Begriffsapparat hindurch auf die Welt als akademische Spickzettel; schon ein ordentliches Begriffsregister für Hegels Werke verbraucht ja mehr Blätter.

Philologisch streng wird es bei mir nicht zugehen; aber sterile Pedanterie und Befangenheit in vornehmer Fachsprache sind ja vielleicht auch hinderlicher als Übermut und Fehldeutung, wenn der Gegenstand ein Philosoph ist, der so plastisch und drastisch geschrieben hat wie der Verfasser der Phänomenologie des Geistes da, wo er den Geist mit dem Penis vergleicht, weil Letzterer sowohl zur Zeugung wie zum Wasserlassen geeignet ist:

Das Tiefe, das der Geist von innen heraus, aber nur bis in sein vorstellendes Bewusstsein treibt und es in diesem stehen lasst, – und die Unwissenheit dieses Bewusstseins, was das ist, was es sagt, ist dieselbe Verknüpfung des Hohen und Niedrigen, welche an dem Lebendigen die Natur in der Verknüpfung des Organs seiner höchsten Vollendung, des Organs der Zeugung, – und des Organs des Pissens naiv ausdrückt. – Das unendliche Urteil als unendliches wäre die Vollendung des sich selbst erfassenden Lebens, das in der Vorstellung bleibende Bewusstsein desselben aber verhält sich als Pissen.3

Negativität greift bei Hegel hier bis in die Sprache hinein, die sich vor Ausdrücken für Körperausscheidungen nicht scheut, die nach bürgerlichen Benimmregeln negativ besetzt sind. Die Negativität dieses Bändchens nun besteht in der Vermeidung von Merk- und Lehrsätzen, die mein Publikum bejahen und glauben könnte. Die will ich nicht, und arbeite auch nicht mehrheitlich mit Sätzen Hegels, zu denen ich selbst nicken könnte, sondern lieber bewusst mit dem, was an ihm bei mir und anderen Anstoß erregt, also nach bestimmter Negation verlangt.


Holzstich Bildnis des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel von Hugo Birkner (1818-1897), aus: 200 Bildnisse und Lebensbeschreibungen berühmter deutscher Männer, hrsg. von Ludwig Bechstein, Leipzig 1854.

Hegel so auslegen zu wollen, dass er »aufgeht«, kann die besten Köpfe in Fallen locken, in denen ihre Deutung ihnen unter der Hand zur Willkür zerfällt. Ich erinnere mich mit Schaudern daran, wie ich erst beim wunderbaren amerikanischen Philosophen Robert B. Brandom in seiner 700-seitigen Rekonstruktion des Argumentationsgangs von Hegels Phänomenologie mit dem großen Titel A Spirit of Trust (2019) auf die schöne Unterscheidung stieß, das Wort »Verstand« bezeichne bei Hegel den darstellenden und statischen Intellekt, das Wort »Vernunft« dagegen den begrifflichen und dynamischen, woran ich mich tagelang erfreute, weil so viele dunkle Stellen bei Hegel davon heller wurden, bis ich plötzlich in der Phänomenologie selbst ein (vom editorischen Kommentar nachgewiesenes) falsches Goethezitat fand, bei dem Hegel ausgerechnet »Verstand« und »Vernunft« vertauscht (für Jagdbegeisterte: Es steht im Abschnitt a. »Die Lust und die Notwendigkeit« im Unterkapitel B. »Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst« im Großkapitel V. »Gewissheit und Wahrheit der Vernunft« des »Vernunft«-Teils der Phänomenologie). War Hegel die von Brandom nachgezeichnete Unterscheidung beim Goethelesen auf einmal egal, oder hat er seinen Goethe entstellt, damit der in die Unterscheidung passt? Was ist da passiert?

Man nimmt von solchen Erfahrungen die Mahnung mit: Wenn eine Deuterin oder ein Deuter Hegel klarer macht, muss diese Klarheit nicht zwingend richtiger sein als die Unklarheit vorher war. Die einzige simple Regel für Hegel ist: Es gibt keine simple Regel für Hegel.

In der Konfrontation mit dem, was ich bei Hegel falsch finde oder nicht verstehe, lerne ich erst, wo er gegen meine Vorurteile Recht hat oder wo mein Verständnis Unzulänglichkeiten abbauen muss (was man sofort versteht, ist immer nur, was man schon wusste).

Mein Publikum sollte mich genau so lesen: Wo es das ablehnt, was da steht, wo es denkt: »Also das kann der Hegel doch nicht gemeint haben!«, muss es

1 bei Hegel nachsehen und

2 selbst denken.

So könnte gehen, was nicht geht, Hegel auf 100 Seiten.

Hegel. 100 Seiten

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