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Sachverhalte und Begriffe

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Hegel und Maxwell haben gemein, dass sie nicht nur Eigennamen für Sachen benutzen (»Hund«, »Katze«, »Maus«), sondern auch Begriffe. In diesem Buch gehorche ich, wenn ich das Wort »Begriff« verwende, einem Sprachgebrauch, der »Begriffe« solche Wörter nennt, mit deren Hilfe sich Sachen (also Messgrößen) miteinander vergleichen, voneinander unterscheiden und in ihrem veränderlichen Verhalten beschreiben lassen.

Bei Maxwell sind das Wörter wie: »Welle«, »Feld«, »Kraft«, bei Hegel sind das Wörter wie: »Identität«, »Manifestation«, »Totalität«. Einfache Objektnamen wie »Hund«, »Katze« oder »Maus« sind in dieser Sichtweise Bezeichnungen für beobachtbare Größen, Begriffe dagegen Namen für Beziehungen zwischen solchen Größen.

Der auffälligste Unterschied zwischen Hegel und Maxwell ist der, dass Maxwell Begriffe tendenziell eher (wenn auch nicht ausschließlich) im Hinblick auf Sachen und Sachverhalte benutzt, während Hegel Begriffe tendenziell eher (wenn auch nicht ausschließlich) im Hinblick auf andere Begriffe benutzt.

Der Astronaut Ulrich Walter hat verlangt, man dürfe nicht nur Roboter auf Raumfahrt schicken, sondern müsse auch Menschen einsetzen, denn Roboter könnten keine Geschichten erzählen. Uns entgeht Wissen, wenn wir auf menschliche Wahrnehmungen verzichten, etwa Wissen davon, wie das Essen im All schmeckt. Roboter können mit der Welt interagieren, aber die Wechselwirkungen, die dabei vorkommen, sind resonanzärmer als solche, die durch zusätzliche Reflexionsschlaufen angereichert werden.

Bei Maxwell, könnte man sagen, fungieren Begriffe als Roboter zum Zweck der Sondierung der Welt. Sie sind Maschinen, die eine Aufgabe erfüllen: den Elektromagnetismus so aufzuschlüsseln, dass man ihn technisch manipulieren kann. Bei Hegel dagegen sind die Begriffe Teil einer von Hegel subjektiv, oft nahezu dichterisch ersonnenen, dann aber schriftlich als Text objektivierten Systemgeschichte ihrer Begriffseigenschaften.

Hegels Philosophie hat sozusagen ein Bewusstein von sich als Bewusstseinsleistung; sie weiß, dass sie mit Begriffen arbeitet und wie Begriffe schmecken.

Meine Unterscheidung zwischen Maxwell und Hegel ist hier eine quantitative (»tendenziell eher« heißt: öfter), aus der eine qualitative folgt (Hegels Begriffe stellen ihren Begriffscharakter aus). Ich schließe mich damit nicht Heidegger an, der sagte, die Wissenschaft denke nicht. Ich sage: Sie denkt anders; mit anderem Zweck und anderen Methoden als die Philosophie (oder die Poesie, die Mystik, die Musik …).

Hegels Begriffsarbeit strengt beim Lesen an, wie das Beispiel vom Licht aus der Enzyklopädie zeigt. Aber sie kann begeistern, weil er Begriffsverknüpfungen wie Begriffszergliederungen mit einer Beweglichkeit und zugleich Konsequenz erfindet, erprobt und verwirft, die kaum irgendwo ihresgleichen hat.

Sein wichtigstes Verfahren dafür nennt er »Dialektik«. Die nimmt er so wichtig wie Maxwell das Differenzieren. Sowohl dialektische Philosophie wie die mit Infinitesimalrechnung befasste Physik entfernen sich oft weit von der Alltagsvernunft. In der Physik hören und lesen wir etwa vom unendlich Kleinen, in der Dialektik zum Beispiel davon, dass in jedem Begriff und jedem Ding ein Widerspruch arbeite, und sei es nur der Widerspruch zwischen Sein und Nichtsein, den wir »Werden« nennen.

Hegel verfolgt dergleichen bis an Punkte, an denen er zu rätselhaften Feststellungen wie derjenigen gelangt, Gegensätze bildeten etwas, das man eine »Einheit« nennen dürfe.

Der ärgste Affront für jeden Positivismus dürfte Hegels Lehre sein, das Sammeln von Beweisen und ihre Integration in eine Theorie komme nicht deren Objektivität zugute, sondern sei als unstatthafte Abschweifung ins »schlechte Besondere« abzulehnen, das dem allein wissenschaftswürdigen Allgemeinen nur im Weg stehe.

Hintergrund der Wahrheitsfindung war für Hegel eine vertrackte Sorte »immer«, die ihr Absolutes in einer gigantischen Selbstveränderung besitzt. Er nannte diese Selbstveränderung »Geschichte«. In ihr schreitet die Welt nach dem Maß dessen fort, was Geist braucht, um Welt zu werden. Das betrifft jede noch so konkrete historische »Innovation«, wie wir heute sagen, sogar das Schießpulver, von dem Hegel lehrt: »Die Menschheit bedurfte seiner, und alsobald war es da.«6

Unbestreitbar ist, dass die Wahrheitsfindung im Sinne Newtons oder Maxwells Voraussetzungen und Ergebnisse kennt, die Hegel »dialektisch« genannt hätte. So stützt sie sich zum Beispiel auf die rätselhafte Überzeugung, eine gebogene Linie bestehe aus unendlich vielen und unendlich kleinen geraden Linien, oder eine beschleunigte Bewegung bestehe aus unendlich vielen, unendlich kleinen gleichförmigen Bewegungen.

Wer nicht sieht, dass das sehr nahe bei Hegels Idee des »Umschlags von Quantität in Qualität« steht, will es nicht sehen.

Hegel. 100 Seiten

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