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4. Bedeutung für heute

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Wie immer man zur Methode von Bonhoeffers Schriftauslegung stehen mag: Man wird seinen Ausführungen in „Schöpfung und Fall“ kaum ihre Lebenshaltigkeit absprechen können. Sie überzeugen durch ihre ungebrochene Aktualität, die sich sowohl in Form begeisterter Zustimmung als auch in Form von Ablehnung und Widerspruch zeigen kann. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Bonhoeffer die biblischen Texte auf ganz spezifische Weise neu und anders als gewohnt liest. Sein Programm einer theologischen Auslegung erlaubt ihm, neu hinzuschauen, nicht abgelenkt von historisch-kritischen Fragestellungen über Textentstehung und Textredaktionen, die letztlich zum inhaltlich-theologischen Verständnis wenig beitragen. Der Ausgangspunkt des Verstehens der Bibel als Buch der Kirche wirkt nicht etwa als Korsett, das das Verstehen einschränkt, sondern befreit Bonhoeffer zu einer Fülle unerwarteter theologischer Entdeckungen.

Dazu gehört die Einsicht, dass der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen das Geschöpfsein des Menschen, seine Grenze, symbolisiert und damit Gnade ist. Indem Gott dem Menschen untersagt, von der Frucht des Baumes zu essen, ermöglicht er ihm Ja zu sagen zu seiner Geschöpflichkeit, worin allein sein Wesen und seine Bestimmung und damit seine Freiheit bestehen. In dem Moment, wo der Mensch diese Grenze überschreitet, verfehlt er sein Wesen, ist verdammt, so wie Gott sein zu müssen, obwohl er doch niemals etwas anderes als Geschöpf sein kann.

Beeindruckend ist weiter Bonhoeffers Erkenntnis, dass Gott den Menschen auch als Gefallenen bejaht. Die Bejahung der Gefallenen Welt zeigt sich für Bonhoeffer darin, dass Gott sie durch Ordnungen erhält, wobei alle diese Ordnungen nicht ewig bestehen, sondern nur als Erhaltungsordnungen auf Christus hin richtig verstanden werden können. Dass Gott den Menschen in der Welt nach dem Fall bejaht, obwohl dieser dazu verurteilt ist, wie Gott zu sein, bringt den Menschen in ein unauflösbares Zwielicht zwischen Gut und Böse. Gerade dieses Zwielicht jedoch ist konstitutiv für das Menschsein nach dem Fall.

Bonhoeffer gelingt es, die Brücke von den Aussagen der Urgeschichte zum Neuen Testament und damit zum Kommen Jesu Christi zu schlagen. Er kann zeigen, dass die Urgeschichte erst im Schicksal Jesu an ihr Ziel kommt. Der Brudermord Kains ist im Rahmen der Urgeschichte der letzte verzweifelte Ansturm, doch noch aus eigener Kraft in das Paradies zurückzukehren. Dieser Versuch wiederholt sich im Mord des Sohnes Gottes am Kreuz auf Golgatha. Doch indem Christus aufersteht, wird der Stamm des Kreuzes zum Holz des Lebens, der Hügel von Golgatha zum Paradies, das Kreuz, „aufgetane Tür der unvergänglichen Hoffnung, des Wartens und der Geduld“. Die Auslegung des Alten Testaments von Christus her und auf Christus hin bewährt sich. Bonhoeffer vollzieht damit für heute nach, was bereits die Autoren des Neuen Testaments auf ihre Weise getan haben. Seine Auslegung hat es nicht nötig, das Eigenrecht der alttestamentlichen Texte zu bestreiten. Ohne Gewaltsamkeit wird so deutlich, dass das Alte Testament zum Neuen Testament hin auslegungsoffen ist.

Die Themen, die in der Urgeschichte behandelt werden, betreffen das Menschsein überhaupt und damit jeden einzelnen Menschen. Bonhoeffers Auslegung stellt einen überzeugenden Versuch dar, das heutige Menschsein biblisch zu deuten. Er steht damit in einer Reihe mit berühmten anderen Interpretationsversuchen im Verlauf der Geschichte, auf die er sich z. T. beruft (z. B. auf Michelangelos Darstellung der Erschaffung des Menschen in der Sixtinischen Kapelle). Bonhoeffers spätere „Ethik“ führt viele Erkenntnisse aus „Schöpfung und Fall“ fort und lässt damit erkennen, dass die Urgeschichte – theologisch gelesen – auch heute noch das Potenzial besitzt, menschliches Handeln angemessen zu orientieren.

Der frühere Mannheimer Islamwissenschaftler Ludwig Hagemann sprach vor einigen Jahren im Hinblick auf die islamischen Gesellschaften von deren „Koranisierung“. Von Kindheit an werden Moslems gelehrt, in den Bahnen des Korans zu denken und zu leben – einfach, indem sie die Koransuren auswendig lernen. Im Hinblick auf die US-amerikanische Gesellschaft stellten Literaturwissenschaftler ein vergleichbares Phänomen fest: Sie konstatierten, dass es in ihr zu einer Übertragung des Denkstils eines biblischen Literalismus in das alltägliche Verhalten käme.15 Hierin scheint die offensichtlich christliche Grundprägung der USA einschließlich ihres öffentlichen Lebens bei gleichzeitiger klarer Trennung von Staat und Kirche ihre Ursache zu haben. In den evangelischen Teilen Deutschlands kam es in der Reformationszeit zu einer ähnlich umfassenden Prägung des öffentlichen Gedächtnisses durch die Bibel. Seit längerer Zeit schwindet dieses Gedächtnis jedoch mehr und mehr. Gegenwärtig hat der biblische Gedächtnisschwund eine rasante Geschwindigkeit erreicht. Das biblische Wort ist mehr und mehr in den Hintergrund des öffentlichen Lebens getreten. In abgeschwächter Form gilt das auch für das interne Leben der Kirche: sowohl für den Religions- als auch für den Konfirmandenunterricht. Genauso ist die persönliche Bibellese für die meisten Protestanten keine Selbstverständlichkeit mehr. Damit einher geht eine innere und äußere Erosion der evangelischen Landeskirchen. Die Schlussfolgerung drängt sich auf, dass es zu einer Erneuerung des Christentums hierzulande nur kommen kann, wenn sein kollektives Gedächtnis wieder ungleich stärker als bisher durch die Bibel geprägt wird. Dazu könnte Bonhoeffers theologische Auslegung der biblischen Urgeschichte einen Anreiz bieten.

Eine weitere Einführung von Peter Zimmerling in das Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers finden Sie im Internet:

• Stationen auf dem Weg zur Freiheit:

Dietrich Bonhoeffers Leben

www.brunnen-verlag.de/peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-leben

• Stationen auf dem Weg zur Freiheit:

Dietrich Bonhoeffers Werk

www.brunnen-verlag.de/peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-werk

1Vgl. hier und im Folgenden Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, hg. von Martin Rüter/Ilse Tödt, DBW, Bd. 3, München 1989, 7ff (Vorwort der Herausgeber).

2Zit. nach a.a.O., 7f.

3Ähnliches gilt für seine Bücher „Nachfolge“ und „Die Psalmen. Das Gebetbuch der Bibel“, die in der gleichen Reihe im Brunnen Verlag erscheinen. Die „Nachfolge“ stellt in weiten Teilen eine Auslegung der Bergpredigt dar und „Die Psalmen. Das Gebetbuch der Bibel“ eine Auslegung der Psalmen.

4Vgl. dazu auch das Nachwort der Herausgeber in DBW, Bd. 3, 141f.

5DBW, Bd. 3, 22.

6Vgl. dazu das klassische Werk von Wilhelm Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments, Bd. 1 Das Gesetz, München 1934; Bd. 2 Die Propheten, 1. Hälfte Die frühen Propheten, Zollikon-Zürich 1942.

7Vgl. etwa die Schrift des Greifswalder Alttestamentlers Friedrich Baumgärtel „Die Kirche ist Eine“, in der dieser gegen Bonhoeffers Bibelauslegung in dessen Bibelarbeit zu Esra und Nehemia (Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde [1935–1937], hg. von Otto Dudzus/Jürgen Henkys, DBW, Bd. 14, Gütersloh 1996, 930ff) polemisiert. Gerhard Krause spricht von einer „fast anti-modernistisch anmutenden Bibelgrundlage“ von Bonhoeffers Werk (ders., Art. Bonhoeffer, Dietrich, in: TRE, Bd. 7, Berlin/New York 1981, 59).

8Nadine Hamilton, Dietrich Bonhoeffers Hermeneutik der Responsivität. Ein Kapitel Schriftlehre im Anschluss an „Schöpfung und Fall“, Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, Bd. 155, Göttingen 2016; dort auch die neueren Arbeiten (19–27). Die wichtigste ältere Untersuchung war: Ernst Georg Wendel, Studien zur Homiletik Bonhoeffers. Predigt, Hermeneutik, Sprache (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 21), Tübingen 1985, 68ff, der Bonhoeffers Bibelhermeneutik unter den Stichworten „pneumatische Auslegung“, „ganzheitliche Schriftauslegung“, „einfältiges Verstehen“, „Schriftauslegung als Vergegenwärtigung“ zu fassen versucht.

9Brief aus Finkenwalde vom 27.1.1936, DBW, Bd. 14, 144ff; die folgenden Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diesen Band. Die folgenden Überlegungen habe ich erstmals vorgetragen in Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, 73–75.

10Im Hinblick auf die heutige Situation in der wissenschaftlichen Exegese sei die folgende Anmerkung erlaubt: Es ist die Frage, wie die Bibel dieses eigenständige Gegenüber werden soll, wenn sie durch eine beinahe beliebig anmutende Weise durch die Exegese in verschiedene Quellen und Entstehungsphasen aufgeteilt wird.

11Vgl. dazu im Einzelnen Bonhoeffers Vortrag „Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte“ (DBW, Bd. 14, 399–421).

12Søren Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen (Gesammelte Werke XI), Jena 1922, 19; Bonhoeffer weist auf das Zitat z. B. DBW, Bd. 14, 486 hin.

13Belege in: DBW, Bd. 3, 145 (Nachwort der Herausgeber).

14Dietrich Bonhoeffer, Berlin (1932–1933), hg. von Carsten Nicolaisen/Ernst-Albert Scharffenorth, DBW, Bd. 12, Gütersloh 1997, 280.

15So z. B. – allerdings kritisch – der New Yorker Literaturwissenschaftler Vincent Crapanzano (vgl. dazu Andreas Meier, Die Zukunft ist die Bibel der Freien. Staat und Kirche sind in den USA getrennt und doch ganz nah beieinander, in: Zeitzeichen, Heft 2, 2002, 22).

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