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2. Eigenart
ОглавлениеDass Dietrich Bonhoeffer mit „Schöpfung und Fall“ eine ganze Vorlesung der Auslegung eines biblischen Textes widmete, war für einen systematischen Theologen ungewöhnlich.3 Die Orientierung von Bonhoeffers theologischem Denken an der Bibel wird jedoch von seinem theologischen Ansatz und seiner auf die Bibel bezogenen Spiritualität her verständlich. Karl Barths Wort-Gottes-Theologie hatte ihm dabei die Initialzündung vermittelt. Die von Bonhoeffer praktizierte und gelehrte Schriftauslegung unterschied sich grundlegend von der an den Universitäten damals vorherrschenden Auslegungspraxis. Es war eine primär theologisch geprägte Schriftauslegung, die die Frage nach der „Sache“ der biblischen Texte – auch hier in den Bahnen von Barths Anliegen – in den Vordergrund stellte.4 Das wird schon am Untertitel von „Schöpfung und Fall“ sichtbar: „Theologische Auslegung von Genesis 1–3“. Dahinter traten die Fragestellungen der historisch-kritischen Bibelauslegung mehr oder weniger stark zurück. Entscheidende Voraussetzung für Bonhoeffers Auslegung ist seine Erkenntnis, dass die Bibel „Buch der Kirche“ ist. In der Einleitung schreibt er: „Theologische Auslegung nimmt die Bibel als das Buch der Kirche und legt es als solches aus.“5 Für Bonhoeffers Buch „Schöpfung und Fall“ ist eine dezidiert auf Jesus Christus bezogene Auslegung charakteristisch. Es ist der eine Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, der in der gesamten Schrift zum Menschen redet. Weil die Bibel Buch der Kirche ist, muss auch das Alte Testament von Jesus Christus her gelesen werden. „Darum ist die Schöpfungsgeschichte in der Kirche allein von Christus her zu lesen und erst dann auf ihn hin; auf Christus hin kann man ja nur lesen, wenn man weiß, dass Christus der Anfang, das Neue, das Ende unserer ganzen Welt ist.“ Die christologische Auslegung des Alten Testaments sollte bald für die ganze Bekennende Kirche typisch werden.6 Sie wandte sich gegen die Preisgabe des Alten Testaments – und damit auch Israels, des alttestamentlichen Gottesvolkes – durch die Deutschen Christen, die bereits durch die liberale Theologie im 19. Jahrhundert vorbereitet worden war. Stattdessen trat die Bekennende Kirche dafür ein, dass es kein Christentum ohne das Alte Testament gibt.
Immer wieder ist – schon zu seinen Lebzeiten – Bonhoeffers Schriftgebrauch als „biblizistisch“ und „vormodern“ kritisiert worden.7 Eine gründliche Untersuchung seines Schriftverständnisses steht immer noch aus, auch wenn sich in den letzten Jahren eine Intensivierung der Beschäftigung mit seiner Schriftauslegung beobachten lässt. So existiert inzwischen eine Dissertation, die Grundlinien von Bonhoeffers Schriftlehre anhand von „Schöpfung und Fall“ erarbeitet.8 Wenn man seiner Schriftauslegung ein Adjektiv beifügen wollte, sollte man von einer „nachmodernen“ Bibelauslegung sprechen. Bonhoeffer lehnt die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese nicht pauschal ab, bleibt aber nicht bei der philologischen und historischen Auslegung stehen und fragt, was die Bibeltexte für den heute gelebten Glauben in seinen unterschiedlichen Bezügen zu sagen haben.
Bonhoeffer hat sein Schriftverständnis in einem Brief an seinen Schwager Rüdiger Schleicher, einen theologischen Laien, ausführlich erläutert.9 Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass Gott durch die Bibel zum Menschen reden will. Bonhoeffer geht davon aus, dass es Gott selbst war, der bestimmt hat, sich im Wort der Bibel vom Menschen finden zu lassen. „Die ganze Bibel will also das Wort sein, in dem Gott sich von uns finden lassen will“ (146). Daran hängt schlechterdings alles. Dieser Überzeugung liegt Bonhoeffers offenbarungstheologischer Ansatz zugrunde. Die Bibel ist das „fremde Wort Gottes“, das der Mensch sich nicht selbst sagen kann (147). Sie muss gegenüber dem Leser zu einer Größe mit eigenem Gewicht werden, um ihre göttliche Botschaft an den Menschen ausrichten zu können. Darin bestehen das Ziel und gleichzeitig das inhaltliche Zentrum von Bonhoeffers theologischer Schriftauslegung.10 „Wir suchen den Willen Gottes, der uns ganz fremd und zuwider ist, dessen Wege nicht unsere Wege und dessen Gedanken nicht unsere Gedanken sind, der sich uns verbirgt unter dem Zeichen des Kreuzes, an dem alle unsere Wege und Gedanken ein Ende haben“ (146; Hervorhebungen im Text). Deshalb hat sich nicht der Bibeltext vor dem vermeintlich fortgeschrittenen Geist der Gegenwart zu verantworten, sondern die Gegenwart mit ihren Selbstverständlichkeiten muss sich von den biblischen Aussagen kritisch hinterfragen lassen.11
Aufseiten des Menschen, der Gottes Stimme in der Schrift hören will, führt das zu einer bestimmten Einstellung beim Lesen. Sie muss mit der Erwartung gelesen werden, dass Gott durch sie die existenziellen Fragen des Menschen beantwortet. „[…] ich glaube, dass […] wir nur anhaltend und etwas demütig zu fragen brauchen, um die Antwort von ihr zu bekommen“ (144f). Bonhoeffer unterscheidet in diesem Zusammenhang mit Luther zwischen der claritas externa und der claritas interna, der äußeren und der inneren Klarheit der Schrift. Zugang zur claritas externa hat jeder Mensch, der sie als ein Buch wie andere auch liest. Das Wesen der Bibel jedoch, ihre claritas interna, erschließt sich nur demjenigen, der es wagt, sich so auf die Bibel einzulassen, „als redete hier wirklich der Gott zu uns, der uns liebt und uns mit unsern Fragen nicht allein lassen will“ (145). Nur wer bereit ist, der Bibel einen Vertrauensvorschuss zu geben, wird weiterhelfende Antworten durch sie bekommen. Bonhoeffer hat seine Studierenden immer wieder auf ein Zitat Søren Kierkegaards hingewiesen, der dazu auffordert, die Bibel wie einen Liebesbrief Gottes an den Menschen zu lesen. „Denke dir einen Liebenden, der einen Brief von seiner Geliebten erhalten hat; so teuer dieser Brief dem Liebenden ist, so teuer, nehme ich an, ist dir Gottes Wort; wie der Liebende seinen Brief liest, so (nehme ich an) liesest du Gottes Wort und glaubst du, dass du es lesen solltest.“12
Bonhoeffer ist sich bewusst, so etwas wie ein sacrificium intellectus – ein Opfer seines Verstandes – zu bringen (147), wenn er darauf verzichtet, in der Bibel zwischen Gottes- und Menschenwort zu unterscheiden, d. h. wenn er Sachkritik an der Bibel ablehnt. Gerade einer unverständlichen bzw. anstößigen biblischen Textstelle möchte er in der Gewissheit begegnen, „dass auch sie sich eines Tages als Gottes eigenes Wort offenbaren wird“ (147). Dahinter steckt nicht zuletzt die Befürchtung, Gottes fremdes Wort sonst zum Verstummen zu bringen und in einer theologisch zurechtgestutzten Bibel doch nur wieder einem göttlichen Doppelgänger seiner selbst zu begegnen.
Dabei genügt es in Bonhoeffers Augen nicht, lediglich theoretisch überzeugt zu sein, dass Gott in der Bibel zum Menschen reden will. Vielmehr muss für den Ausleger die Bereitschaft dazukommen, sich vorzubereiten, Raum und Zeit zur Verfügung zu stellen, um auf Gott zu hören. Ohne Ruhe und Sammlung vor Gott, ohne Kontemplation, wird es nur schwer zur Begegnung mit ihm kommen. In der mündlichen Einleitung zur Vorlesung „Schöpfung und Sünde“ und in der letzten Semesterstunde hat Bonhoeffer nach Angabe von Mitschriften gesagt, dass zum Hören des Wortes Gottes „exercitium“, Übung, gehöre.13 Im einige Jahre später entstandenen Brief an Schleicher schreibt Bonhoeffer aus dem Finkenwalder Predigerseminar, dass er versucht, sich täglich eine ganze Woche lang in den gleichen Bibeltext „zu versenken“ (147). Mit dem Wort „versenken“ verwendet er mystische Begrifflichkeit, die an die spirituelle Praxis der großen christlichen Mystiker wie Meister Eckhart, Tauler, Seuse, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz u. a. erinnert. In der Ruhe und Sammlung vor Gott soll es zur Begegnung mit ihm kommen. Bei Bonhoeffer ist die Kontemplation allerdings streng reformatorisch auf das Wort der Bibel bezogen. In seiner Christologievorlesung von 1933 soll er nach den Mitschriften als zweiten Satz gesagt haben: „Das Schweigen der Kirche ist Schweigen vor dem Wort.“14 Weil Gott durch das Wort der Bibel zum Menschen reden will, muss dieser vor dem Wort schweigen, um Gott vernehmen zu können. Dass Gott nicht zum einzelnen Christen allein redet, sondern zu diesem als Glied der Gemeinschaft der ganzen Kirche, entreißt die Kontemplation der Privatheit.