Читать книгу Out of Pommern Band I - Die Liebe zum Wasser - Dietrich Bussen - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеRobert wäre gern mit in die Kirche gegangen, schon wegen Hannes. Der hänselte ihn wenigstens nicht, wie die anderen. Besonders, wenn sie zu mehreren waren, konnte er sich oft nur durch Flucht vor ihren Schmährufen und Drohungen in Sicherheit bringen.
‚Pommernscheißer - Robert heißt er‘ und ‚Barackenstinker‘, das machte ihn am meisten wütend. Nach der ersten Schlägerei, bei der sie über ihn hergefallen waren, ihn mit Fäusten und Füßen bearbeitet hatten, wehrte er sich nicht mehr. Er lief dann weg und versteckte sich, bis die Luft wieder rein war. Ein Glück, dass Hannes mit seinem Vater gedroht hatte, dass er ihn rufen würde, wenn sie nicht aufhörten, sonst hätten die mir noch alle Knochen gebrochen, dachte er auf seinem Weg zu den Baracken.
„Falke“, hatte einer gerufen, und alle waren abgehauen.
Vor ‚Falke‘ hatten sie einen Heidenrespekt, der fackelte nicht lange, der Herr Lehrer Falkenmeier. Fast alle hatten sie schon seinen Rohrstock zu spüren bekommen, mit dem war nicht zu spaßen.
Robert spielte Fußball mit Schottersteinen, die auf dem schmalen Sandweg lagen. Er hatte es jetzt nicht mehr eilig. Seine Widersacher sangen entweder in der Kirche fromme Lieder oder machten sich zuhause fürs Bett fertig. Auf jeden Fall durften sie allein um diese Zeit nicht mehr ins Dorf, seitdem die Engländer hier waren. Sogar Neger wollten einige schon gesehen haben. Die würden Kindern die Bäuche aufschlitzen, die Neger, erzählten die Großen auf dem Schulhof. Und die Engländer würden sich an Mädchen ‚vergreifen’. Aber manchmal verteilten sie auch Kaugummi, das wussten alle, auch die aus den unteren Klassen. Fast jeder hatte schon mal eins bekommen, da konnte das mit dem ‚Vergreifen‘ auch nicht so schlimm sein. Es sagte einem sowieso keiner, was das bedeuten sollte - ‚vergreifen‘.
„Das ist ein ‚Tuwort‘“, hatte Jürgen aus der Vierten erklärt.
Auf jeden Fall hatte es mit irgendwas zu tun, das die Erwachsenen nicht gut fanden, aber die schimpften sowieso über alles.
Trotzdem, vorsichtig musste man schon sein, auch bei den Engländern, weil, katholisch waren die nicht, und darauf stand die Hölle, da konnten sie noch so viel Kaugummi verteilen, soviel stand auch fest.
Robert trödelte weiter vor sich hin. Er hatte es nicht eilig, auch nicht auf diesem Stück des Weges, direkt hinter dem Friedhof. Vor dem Dunkelwerden brauchte er nicht in der Baracke zu sein. Seine Mutter hatte keine Angst vor Negern und Engländern und das hatte sie ihm auch gesagt. Auch Robert konnte die Männer in ihren tollen Uniformen besser leiden als so manche Erwachsene aus dem Dorf, die so taten, als ob es ihn gar nicht gäbe.
Und nur wegen diesem blöden Fehler, hatte seine Mutter einmal gesagt, das würde ihr nicht nochmal passieren. Was hätten sie nicht alles geschafft, sie beide. Den ganzen weiten Weg von Pommern bis hierher nach Hermannsdorf - dabei hatte sie ihn ganz fest in die Arme genommen -, und dann dieser blöde Fehler. Aber auch das würde sie wieder hinkriegen, da solle er sich man keine Sorgen machen. Es würde alles gut, das hätte auch Onkel Tom gesagt.
Und der weiß mehr, als alle im Dorf zusammen, dachte Robert, der ist Offizier und kommt aus London und seine Orden, die er mir mal gezeigt hat, und die Briefmarken, die er mir manchmal mitbringt, die hat von denen noch keiner gesehen, nicht mal Hannes.
Er holte wieder aus, diesmal besonders kräftig. Ein Schotterstein flog über die Friedhofsmauer, prallte auf einen Grabstein, einem eingemeißelten Engel mitten auf die Stirn.
Der hat jetzt drei Augen, dachte er, drehte sich um, sah niemanden und schnitt dem dreiäugigen Himmelsboten eine Fratze. Ihm fielen noch einmal die Eier ein, die Heinemanns Otto an die Mauer geklatscht hatte.
Elf Eier an die Mauer, er schüttelte den Kopf, warum nicht in eine Pfanne, dann braten, und dann hätte jeder ein gleich großes Stück gekriegt, oder verkaufen, und dann das Geld teilen, oder tauschen gegen Zigaretten und Zigaretten gegen Schokolade und Schokolade gegen - er überlegte - gegen einen Fußball, einen richtigen Fußball.
Er stellte sich vor, wie sie ihn beneiden würden, wie sie betteln würden, dass sie mitspielen dürften, und dass jeder sein Freund sein wollte, wenn er die Eier gefunden hätte und getauscht hätte, bis zum Fußball.
Mama hätte wahrscheinlich auch getauscht, dachte er, achtundneunzigprozentig. Mit Onkel Tom tauscht sie auch immer, wenn er was zu essen mitbringt. Was sie ihm dafür gab, wollte sie ihm nicht sagen, das sei ihr Geheimnis. Ihm war es auch egal, Hauptsache, sie hatten was zu essen. Auch auf der Flucht hatte sie ihm manchmal gesagt, dass sie mal kurz weg müsste ‚tauschen gehen‘; meistens, wenn sie auf einem Bauernhof übernachteten. Sie hatte dann fast immer was zu essen und zu trinken mitgebracht.
Bei dem Gedanken an seine Mutter fühlte er sich wohl. Er setzte sich in das Gras neben dem Weg, zu dem die Leute aus dem Dorf ‚Pädchen‘ sagten. Kopf und Rücken lehnte er an die Friedhofsmauer, sah die untergehende Sonne durch ‚Holmeiers Busch‘ blinzeln, wie zum Abschied bis zum nächsten Morgen.
Er schloss die Augen, dachte an seine Mutter, wie weich und warm sie war, wenn er sich vor dem Einschlafen an sie schob. Und wenn sie dann den Arm auf ihn legte und ihm einen Gute-Nacht-Kuss gab, fühlte er sich auf den dreigeteilten Strohmatratzen wie in einem Nest, sicher und geborgen und vergaß manchmal sogar, dass er wieder einmal nicht mitspielen durfte.
Bald würde es dunkel sein. Robert stand auf. Jetzt lief er immer mal wieder ein kurzes Stück. Er wollte noch im Hellen die Baracke erreichen. Darauf bestand seine Mutter, das musste er ihr versprechen. Was hatte sie sich aufgeregt, als er das einmal nicht geschafft hatte, wo sie doch sonst nichts aus der Fassung bringen konnte.
Beinah hätte sie geheult, dachte er, und das wollte er nicht noch einmal riskieren.
Ob Onkel Tom heute da war, und ob er was mitgebracht hat für mich? Onkel Tom ist ‚okay‘, dachte er.
Das mit dem ‚okay‘ hatte er von ihm. Alles, was Onkel Tom gefiel, war erstmal ‚okay‘, Robert inklusive.
Bei seiner Mutter machte er eine Ausnahme. Zu der sagte er ‚lawlie‘ und ‚swiet‘ und ‚intelligent‘.
Das seien Komplimente hatte seine Mutter gesagt, als Robert sie gefragt hatte, und Komplimente seien gut, über die könne man sich freuen. Seitdem war er sich sicher, dass auch Onkel Tom ‚okay‘ war.
Frau Jankowski unterhielt sich mit der Frau, die mit ihrem Vater in den zwei Zimmern an der gegenüber liegenden Seite des Flures untergekommen war. Sie hatten sich Stühle nach draußen gestellt. Die Frau von gegenüber ribbelte an einem alten Pullover. Roberts Mutter hatte sich keine Arbeit mit vor die Tür genommen. Sie saß auf ihrem Stuhl, die Beine von sich gestreckt. Den Rock hatte sie so weit hochgeschoben, wie es ihre Unterwäsche zuließ. Die Holzklotschen lagen neben ihren Füßen.
Frau Steguweit hatte Mühe sich auf die schlichten Handgriffe ihrer Ribbeltätigkeit zu konzentrieren. Immer wieder sah sie auf das anatomische Wunderwerk neben sich. Beine von solcher nicht enden
wollenden Vollkommenheit wirkten auch auf sie magisch anziehend.
Kein Wunder, das mit dem Engländer, dachte sie. Und der neue Arzt kommt in der letzten Zeit auch verdächtig oft zu Vater und klopft bei ihr an, wenn er wieder geht. Ich könnte das nich, schon wegen Vater und dann vielleicht noch schwanger werden, nee, mit mir nich.
Frau Jankowski strich über ihre Oberschenkel. Sie spürte die letzten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Den Kopf an die Barackenwand gelehnt genoss sie den lauen Frühlingsabend. Es kam nicht oft vor, dass sie sich so ruhig und wohltuend müde fühlte. Eigentlich nur, wenn Tom dagewesen war und es besonders schön gewesen war mit ihm auf ihrer schäbigen Matratze, und sie von einer Zukunft mit ihm träumte. Dann lösten sich ihre Sorgen auf und machten Bildern einer glücklichen Zukunft Platz. Doch die hielten nicht lange, dafür sorgte schon der Ehering an der Hand des Engländers, und die Frau und die Kinder, die damit verbunden waren. Aber sie genoss diese Augenblicke, trotzdem.
Heute war Tom nicht gekommen.
Sie hatte Blumen gepflückt - die Wegränder wurden nun von Tag zu Tag bunter - und den Raum neben der Küche, den mit den Matratzen, mit ihnen geschmückt. Ein angenehm frischer Duft hatte sich ausgebreitet, aber leider nicht für Tom, heute nicht. Sie wusste, dass er nicht immer so konnte, wie er wollte, dass plötzlich geänderte Befehle oder Launen von Vorgesetzten keine Rücksicht auf seine üblichen Dienstzeiten nahmen. Er würde wiederkommen, und er würde auch einen Weg finden sie zu benachrichtigen, damit sie sich rechtzeitig für Robbi was einfallen lassen konnte, schon in seinem eigenen Interesse, da war sie sich ganz sicher. Er hielt es nicht lange aus, ohne sie. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie sich vor ihm ausgezogen und ihn zu sich gewunken hatte. Wie ein Kind, dem am Heiligabend zum ersten Mal der festlich geschmückte Weihnachtsbaum entgegenleuchtet mit der Krippe unter den Zweigen und den glitzernd verpackten Geschenken mit ungewissem Inhalt daneben, so hatte er vor ihr gestanden, der tapfere Soldat und Eroberer: Staunend und freudig erregt und ein bisschen unbeholfen, wie ihr schien. Als er seine Uniform wieder angezogen hatte an diesem Tag, wusste sie, dass es ihn erwischt hatte, dass er so schnell nicht von ihr loskommen würde.
‚Bis morgen, please‘, hatte er sich verabschiedet, wie ‚bitte bitte‘ hatte es geklungen.
Auf der Flucht hatte sie gelernt mit Männern umzugehen, worauf sie standen und wann ihnen der Verstand zwischen die Beine fiel. So hatte sie sich und ihren Sohn durchgebracht auf dem langen Weg von Kamin an der Ostsee bis hierher, mitten in Westfalen, über ein Jahr lang; aber sie hatte es geschafft mit ihrem Sohn, alles andere zählte nicht.
Sie strich sich durch die Haare, lehnte den Kopf zur Seite und sah ihren Sohn neben Holmeiers Busch in Rufweite. Sie winkte ihm zu. Er hatte sich an ihre Abmachung gehalten.
Ein schöner Abend heute, dachte sie, auch ohne Tom.
„Okay“, sagte sie, schlüpfte in ihre Holzklotschen und ging ihrem
Sohn entgegen.