Читать книгу Out of Pommern Band I - Die Liebe zum Wasser - Dietrich Bussen - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеRobert erzählte von Johannes, dass der in eine Andacht gegangen wäre, und dass der ihn gefragt hätte ...
„Was hat er gefragt?“, unterbrach ihn seine Mutter.
„Ob ich mitkommen wollte. Warum darf ich eigentlich nicht? Das ist doch nichts Schlimmes, sonst würde Hannes auch nicht hingehen, der ist nämlich nett, und alle die anderen gehen auch.“
„Ach, ich versteh das auch nicht so richtig.“
Sie hatte keine Lust, sich den Abend durch dieses Thema vermiesen zu lassen. Es kam selten genug vor, dass sie sich so zufrieden fühlte wie heute, mit sich und ihrer Umgebung im Reinen, stolz auf ihren Sohn, der sich auch nicht unterkriegen ließ und stolz auch auf sich selbst, dass sie das alles bis jetzt geschafft hatte. Und die Baracke, na ja, es hätte auch schlimmer kommen können.
Die Andacht erinnerte sie daran, dass auch sie Fehler gemacht hatte und dazu einen besonders dämlichen, und ihre gute Laune wäre dahin, wenn sie sich darauf einlassen würde.
Also, nicht heute, mein lieber Sohn, dachte sie sich.
„Komm, ich mach uns was warm, von heute Mittag, die leckere Suppe. Du kannst schon mal die Teller holen, oder sollen wir“, sie machte eine Pause, „sollen wir zusammen aus dem Topf, und die Teller können uns gestohlen bleiben?“
Sie wusste, dass sie ihn damit ködern konnte. Darauf fuhr er ab. Und dann noch eine Geschichte von Störtebeker und seinen wilden Gesellen. Ihre schäbige Baracke würde sich wie von Geisterhand, Satz für Satz, in ein komfortables Versteck für Abenteurer verwandeln, in dem sie sicher waren vor den Gefahren, die um sie herum lauerten. Robert fühlte sich dann ganz eng mit seiner Mutter verbunden. Sie beide waren in solchen Augenblicken der Mittelpunkt der Welt, und die blöden Scheißer vom Schulhof standen um sie herum voller Bewunderung und Neid und wären gern an seiner Stelle gewesen.
Auch heute vergaß Robert die Andacht, ließ sich einfangen von Stürmen und vom Meeresrauschen, von Helden und Heldengesängen und von Matrosen, die trunken in benebelten Schlaf versanken. Etwas blieb aber in seinem Kopf, was an diesem Abend den Gefahren der Meere und den Helden auf den Schiffen nicht weichen wollte. Er erzählte von den Eiern an der Mauer, und was Otto damit angestellt hatte.
Blöder Bauerntölpel, dachte seine Mutter.
„Du hättest doch auch getauscht, oder?“
„Aber natürlich, was denn sonst, achtundneunzigprozentig.“
„Mit zwei in Reserve?“
„Genau so, mein Kleiner.“
Frau Jankowski legte sich zu ihrem Sohn auf die Matratzen. Beide überboten sich nun in waghalsigsten Tauschgeschäften. Als sie schließlich ein ‚neues Klo‘ vorschlug, protestierte er heftig und setzte seinen Fußball dagegen und ließ sich nicht mehr davon abbringen.
„Ein neuer Ball“, murmelte er und schlief ein, und als Frau Jankowski auf dem Gesicht ihres Sohnes ein kurzes Lächeln sah, dachte sie, Tom oder Tauschen gehen, darauf wird es hinauslaufen; hoffentlich Tom.
Und während ‚Tom‘ und ‚Tauschengehen‘ in ihrem Kopf kreiste, drehte sie sich zu ihrem Sohn, legte ihren Arm auf ihn und stellte am nächsten Morgen fest, dass sie vergessen hatte sich zur Nacht umzuziehen.
Nicht mal das Kleid, dachte sie, als sie über den verkrausten Stoff strich.
Für alle genug ‚Spiegeleier mit Bratkartoffeln‘, von mir für alle.
Hannes spürte schon jetzt die bewundernden Blicke, die sich auf ihn richten würden. Vielleicht würde sein Vater ihm sogar die Hand schütteln, wie bei einer Siegerehrung, wenn man es bis unter die ersten drei geschafft hat, und seine Mutter würde ihn in den Arm nehmen und voller Dankbarkeit über das Haar streicheln, begleitet vom Beifall seiner beiden Geschwister, die älter waren als er, schon richtig erwachsen - seine Schwester jedenfalls -.
Und Sandmanns Kirschbaum? An der Kirche vorbei, an den Lichtspielen rechts rein, dann nur noch ein paar Meter; das kann ich auch schaffen, dachte er.
Mama war jedenfalls ganz komisch und Papa eben auch am Fenster, wie Diebe, wenn sie beim Einbruch überrascht werden. Ausgerechnet Papa und Mama, er schüttelte den Kopf und überlegte, ob er das auch beichten müsste, wenn es so weit wäre, dass er zur Beichte gehen dürfte und zur ersten Heiligen Kommunion. Aber das dauerte leider noch fast ein ganzes Jahr.
Nein, jetzt waren die Eier wichtiger. Das würde ein Fest. Missionar im Urwald könnte nicht schöner sein, vielleicht noch ein bisschen aufregender wegen der Neger, die immer darauf aus waren, Missionare in Kessel mit kochendem Wasser zu schmeißen, natürlich nur so lange, wie sie nicht getauft waren, denn nach der Taufe waren sie ja katholisch, zwar noch Neger, aber keine richtigen Neger mehr, denn jetzt konnten sie ja auch in den Himmel kommen. In einem Missionsheft hatte er gelesen, dass in besonders schwierigen Fällen - wenn sich einer hartnäckig weigerte zum Beispiel, oder einer besonders gefährlich war - sogar heimlich Taufen vorgenommen würden, ohne dass die überhaupt was davon mitkriegten zunächst und erst dann was merkten, wenn sich der Heilige Geist langsam in ihnen ausbreitete.
Das ist ganz schön spannend, dachte er, während er sich dem Gras- und Brennnesselbusch näherte, in den die zerschlagenen Eier heruntergelaufen sein mussten.
„Spiegeleier mit Bratkartoffeln“, hauchte er nach einem tiefen Atemzug aus sich heraus.
Missionare, getaufte und ungetaufte Neger verschwanden nun ebenso schnell, wie sie aufgetaucht waren. Jetzt galt es sich der Beute unauffällig zu nähern, sich ihrer noch unauffälliger zu bemächtigen und sie in Windeseile in Sicherheit zu bringen. Alles sprach für ein glückliches Gelingen. Kein Mensch weit und breit. Nur eine Katze hatte sich ein Stückchen weiter an die Mauer gestreckt. Die Maiandacht würde noch eine Weile dauern.
Mit jedem Schritt, der ihn seinem Ziel näher brachte, blähte sich sein Vorhaben zu einem Abenteuer, das - wenn überhaupt jemand - nur er bestehen konnte. Als Ritter ohne Furcht und Tadel fühlte er sich, siegreich im listigen Kampf gegen seine Widersacher: Willi, Pissnelke und vor allem Otto, diesen ‚üblen Burschen‘.
An dem oberen Teil der Mauer sah er Reste der heruntergelaufenen Eidotter.
Jetzt muss ich alles richtig machen, dachte er, keinen Fehler, nicht stolpern, dass der Topf auf die Steine fällt und die Kelle, und es scheppert, und es kommt noch jemand wegen dem Krach.
Er sah noch einmal in alle Richtungen, duckte sich, drückte den Topf mit der Kelle fest an seinen Bauch und arbeitete sich im Kniegang bis zu den zerbrochenen Eiern vor. Als er durch die Brennnesseln und die hohen Grashalme erste Eierschalen - zum Greifen nah - sah, ließ er sich auf die Knie fallen, nahm mit der rechten Hand die Kelle aus dem Topf, hielt mit der anderen den Topf einfüllbereit an den Rand der Brennnesseln und Gräser und beugte sich über den zu bergenden Schatz.
Nur nichts verplempern, dachte er beim Anblick der zerbrochenen Eierschalen, bis ihm klar wurde, dass er tatsächlich nur Schalen sah, weiße und braune Eierschalen. Von gelbem Dotter oder schlierigem Eiweiß keine Spur.
Sicher unter den Schalen, dachte er, stellte den Topf beiseite und schob die Schalen vorsichtig auseinander; in der rechten Hand hielt er noch immer die Kelle zum Schöpfen bereit.
Irgendwo muss es doch sein, dachte er.
Seine Handbewegungen wurden heftiger, erste Schalenstückchen flogen durch die Luft, eines traf die Katze, die ihren Kopf leicht anhob, zu Hannes herüber sah, sich das Maul leckte und den Kopf wieder sinken ließ. Wieder lag sie hingestreckt an der Mauer, zufrieden mit sich und dem heutigen Nahrungsangebot, das sie mühelos gewittert und in aller Ruhe verzehrt hatte. Von dem inzwischen wild im Gras herumfuchtelnden Hannes ließ sie sich nicht stören, nicht nach dieser Mahlzeit.
Er wollte es nicht wahrhaben.
Das war doch hier, da oben klebt doch noch was Gelbes, dachte er. Er versuchte mit der Hand die Dotterstreifen zu erreichen, was auch nach mehrmaligem Springen gelang, leckte den Dotter, der haften geblieben war, ab und schmeckte, dass es Eigelb war. Dann fiel sein Blick auf die Katze, wie sie dalag, an der Mauer, sah, wie sich der Bauch langsam hob und senkte, wie sie sich noch ein wenig länger streckte und mit dem Schwanz an einem Grasstängel hoch- und runterfuhr, als ob sie sich vor dem Einschlafen noch eine Streicheleinheit abholen wollte, und wie sie sich noch einmal das Maul leckte.
Hannes nahm den Topf, ging zu der Katze, die sich noch immer nicht stören ließ, und schlug zu. Er traf den Kopf. Die Katze wehrte sich nicht, sie zuckte nur, und Hannes schlug mit seiner ganzen kindlichen Kraft, bis er Blut auf dem schwarzen Fell sah.
Dann rannte er los nach Hause in das ‚Jungenzimmer‘, in sein Bett, zog die Bettdecke über sich und den Topf und die Kelle und hatte Angst, bei jedem Atemzug Angst; wovor wusste er nicht. Beim Knarren der Zimmertür zog es seinen Körper zusammen; wie ein Embryo lag er in seiner Schlafkuhle, die sich im Laufe der Jahre in der Matratze gebildet hatte. Hier wollte er liegen bleiben, in diesem Nest wollte er die nächsten Ewigkeiten überstehen. Dann hörte er die Stimme seines Bruders. „Hier stinkt’s mal wieder.“
Durch das dicke Federbett drangen die Wörter dumpf und bedrohlich, wie von einem Riesen, der immer näher kommt, vor dem man nicht fliehen kann, der jeden Augenblick zum Schlage ausholt. Der einzig klare Gedanke, den Hannes jetzt noch denken konnte, war ‚beten‘. Jetzt konnte nur noch beten helfen.
‚Lieber Gott‘, fing er an, fand keine weiteren Worte, versuchte es noch einmal mit ‚Lieber Gott‘ und stockte erneut.
Hände falten, dachte er, aber das ging in seiner Lage irgendwie nicht. Wieder scheiterte er nach ‚Lieber Gott‘, sagte dann nur noch diese beiden Wörter vor sich hin, als ob sie ihn auch so vor dem drohenden Unheil schützen könnten.
Bett machen kann er auch nicht, dachte sein Bruder. Nachgucken soll Mama; immer diese Pisserei.
Missbilligend kräuselte er seine Nase, ging zum Fenster und öffnete beide Flügel. Er atmete die klare, frische Luft tief ein, schloss das Fenster aber nach wenigen Atemzügen wieder.
Sonst merkt Mama nicht mal, was hier los ist, meint noch, das käme von seinem bescheuerten Marienaltar auf dem Nachtschränkchen mit den bescheuerten Blumen vor der be..., vor der Mutter Gottes.
Sein Lieblingswort ‚bescheuert‘ unterdrückte er in diesem Zusammenhang dann doch lieber. Seit ihm der Pubertätsschock in Glied und Hirn gefahren war, hatte sich sein Weltbild - vor allem, wenn sein kleiner Bruder und Mädchen darin auftauchten - vorwiegend und hingebungsvoll auf ‚bescheuert‘ verengt.
Er nahm sein Vokabelheft und verließ das Zimmer, nicht ohne durch wiederholtes Rütteln sicher zu gehen, dass der altersschwache Türriegel auch wirklich ordnungsgemäß eingehakt war.
Ins Bett pissen und in die Maiandacht, bescheuert, dachte er auf der Treppe nach draußen zur Laube.
Morgen wollte er wieder glänzen, in Latein. Wenn andere beim Vokabelabfragen stotterten, würde er zeigen, was er kann, und Oberstudienrat Weiner würde ihn mit dem höchsten Lob, zu dem er fähig war, belohnen.
„Wie herausgeschossen, Peter, ein Plus, perfekt, fast ‚plusquamperfekt‘.
Dann lachte der Herr Oberstudienrat kurz und heftig, und die Schüler stimmten ein, auch die, denen er kurz vorher ein ‚ungenügend‘ in sein Notizbuch geschrieben hatte.
Auch jetzt, nachdem sein Bruder das Zimmer verlassen hatte, sagte Hannes weiter ‚Lieber Gott‘ vor sich hin, immer wieder, bis er fühlte, dass ihm warm wurde. Die Wörter verblassten nun, verloren ihre Konturen, lösten sich auf, hatten keine Bedeutung mehr. Er spürte nur noch wohlige Wärme und dann nichts mehr.
Mit einem kühlen Windzug verflog sein Schlaf. Er fühlte Nässe an seinem Körper, wusste, was passiert war, sah über sich den Kopf seines Vaters, dessen Gesicht mit schmalen, zusammengepressten Lippen, und die Augen, die ihm Angst machten. Er hatte ihn aufgedeckt; in einer Hand hielt er die Bettdecke noch. Hannes sah, wie sich die Finger der anderen strafften und auf ihn gerichtet verharrten. Hannes wusste, was ihn erwartete.
Sein Vater, mit dem er so gern zur Frühmesse ging, dessen Orgelspiel ihn so fröhlich und leicht machte, dass er manchmal glaubte, er würde schweben hoch über der Empore und über seinem Vater, sein Vater würde ihn nun bestrafen, wie immer, wenn er ins Bett gemacht hatte. Er würde eine Tracht Prügel bekommen, das wusste er, dafür war er schließlich sein Vater.
Sein Vater tat dies, weil er seine Kinder liebte, weil er sie erziehen musste, und weil er zu glauben gelernt hatte, dass nur der seine Kinder wirklich liebt, der sie auch züchtigt.
Hannes war klar, dass er bestraft werden musste, dass er nun aus Liebe geschlagen würde, wusste er nicht.
Hannes sah, wie sich die Hand seines Vaters entspannte - wie zur Auflockerung vor dem ersten Schlag. Er drückte seinen Kopf in die Matratze und schützte ihn mit den Armen. Jetzt würde er zuschlagen, hoffentlich nicht so lange und nicht so fest. Er roch seinen Urin, der sich in den Matratzen unter ihm ausbreitete, drückte sein Gesicht noch tiefer in die klamme Unterlage und wartete.
Der Schlag traf seine Hände, die wie Schutzschilde auf seinem Hinterkopf lagen.
Jetzt war es also so weit, jetzt würde er seine gerechte Strafe bekommen.
Der zweite Schlag kam nicht.
Jetzt holt er den Stock, dachte Hannes, als er wahrnahm, dass sein Vater das Zimmer verließ.
An den Schritten, die er nun hörte, erkannte er seine Mutter.
Er würde also heute keine Schläge mehr kriegen, was er nicht verstand, weil er sie doch verdient hatte. Seine Mutter würde ihm eine Strafpredigt halten und ihn ausfragen, warum er um diese Zeit überhaupt schon im Bett läge, wo doch die Maiandacht gerade erst zu Ende sei und dann noch mit allen Sachen, und sie würde ihn unter die kalte Dusche schicken.
Erst jetzt fiel ihm die Katze wieder ein, und er wusste, dass er seine Mutter anlügen würde, dass das eine Sünde war, und dass dadurch alles nur noch schlimmer würde. Vielleicht würde sein Vater ja doch noch kommen mit dem Stock und alles aus ihm herausprügeln, was er verbrochen hatte und keine Fragen stellen. Aber da sein Vater nicht kam, musste er lügen, bis auf die Geschichte mit den Eiern und dem Topf und der Kelle.
Nach der Dusche betete seine Mutter mit ihm das Nachtgebet und schickte ihn in die Küche aufs Sofa.
„Für diese Nacht, ausnahmsweise“, sagte sie, legte ein Gummituch auf die Sitzfläche und ermahnte ihn rechtzeitig aufs Klo zu gehen.
Hannes nahm sich vor in dieser Nacht wach zu bleiben.
Dann brauche ich keine Angst zu haben, dass es noch mal passiert, sagte er sich.
An die streichelnden Hände seiner Mutter, auf die er sich so gefreut hatte, dachte er nicht mehr. Er legte sich auf den Rücken - das Gesicht zur Decke gerichtet - und machte sich ganz gerade. Wie aufgebahrt lag er auf dem Sofa, rührte sich nicht, sah nach oben, bis ihn Schatten erschreckten, die sich an der Decke bewegten. Sie huschten hin und her, manchmal auch an den Wänden entlang, glitten bis zu seinem Sofa herunter und schnellten dann wieder nach oben. Seine Blicke versuchten den Bewegungen zu folgen, glitten mit ihnen unter die Decke und über die Wände, bis ihm die Augen zufielen.
Vor dem Küchenfenster bewegte der Wind weiter Kirschbaumzweige durch das Mondlicht hin und her und wehte die letzten Blütenblätter von den kleinen grünen Früchten.