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Zweites Kapitel
ОглавлениеEinige Tage später empfing ihn, als er das Lehrerzimmer betrat, das gleiche Stimmengewirr und der gleiche Geruch wie sonst auch vor Konferenzen.
Wie eine Mischung aus Schweiß, Kölnisch Wasser, Kreide, schlechten Noten und Sägespänen, und zwar geölten, dachte Jochen.
Bei keiner Versammlung - er hatte an einigen teilgenommen in letzter Zeit - hatte er auch nur annähernd diesen Geruch wahrgenommen; bei Konferenzen in der Schule immer.
Ob Lehrer anders riechen als die übrige Menschheit? , ging es ihm durch den Kopf, als er sich setzte. Neben Rolf war noch ein Platz frei.
Oder sollten es doch nur diese geölten Sägespäne sein, deren Ausdünstungen sich ihm in eigenen Schülertagen unauslöschlich eingeprägt hatten? Ja, er war sich nun ganz sicher, dass es die Sägespäne waren, die er deutlich aus dieser unappetitlichen Geruchsmischung herausroch. Und nun sah er auch das, was sich vor ein paar Tagen auf dem Schulhof bereits angedeutet hatte: Schulbänke mit eingelassenen Tintenfässern, Lehrer Ganzauge, Rohrstock, Schüler der dritten oder vierten Klasse in der katholischen Volksschule.
„Jockel hat gefuurzt!“ Er hörte es wieder dieses fürchterlich lange ‚u’. Und dann lief es ab wie im Film.
Sobald seine Mitschüler diese Meldung gemacht hatten, unterbrach Ganzauge seinen Unterricht und befahl Jochen:
„Aufstehen - Raustreten - Halbe Drehung zum Stuhl – Bücken“
und dann zur Klasse gewandt:: „Einatmen oder Rohrstock?“
Die Schüler durften dann über den weiteren Gang der Dinge bestimmen, ganz allein; Lehrer Ganzauge richtete sich nach ihrem Urteil.
So lernte Jochen ‚Demokratie in der Schule’ kennen, damals, Ende der Vierziger-Jahre.
Zuerst hatte er gehofft, sie würden ‚Einatmen’ schreien. Wenn er dann auch wie ein Blöder Luft einjapsen musste, endlos lange, ‚damit der Furz wieder dahin kommt, wo er hergekommen ist, nicht wahr?’.
Die Schüler antworteten Lehrer Ganzauge, ungeordnet, sie schrieen, kreischten, schubsten sich gegenseitig, sogar aufspringen durften sie, ohne Aufforderung, im sonst militärisch gedrillten Unterricht..
„Einatmen oder Rohrstock“
Nach ‚Einatmen’ musste er oft heulen, so sehr er auch dagegen ankämpfte, verkriechen wollte er sich, am liebsten unsichtbar machen; warum hatten Tarnkappen immer nur die anderen, in den Geschichten. Nie wieder hatte er sich so geschämt, erniedrigt vor allen und von allen. Und wenn sie ‚Rohrstock’ geschrieen hatten? Nach den Schlägen auf seinen Hintern war er wütend und heulte, weil es höllisch brannte, beim Hinsetzen erst recht.. Stehen bleiben durfte er nicht..
„Du darfst dich hinsetzen“, und Jochen hatte gelernt, dass diese grinsend erteilte Erlaubnis ein Befehl war. Manchmal schaffte er es aber auch, dass es nur wehtat, und er nur wütend war und nicht zu heulen brauchte. Dann hatte er nur noch aus Stolz bestanden, seine brennenden Hinterbacken auch. Nach dieser Erfahrung wollte er, dass sie Rohrstock riefen.
Er hatte dann gestanden, gebückt über der Sitzfläche seiner Bank, solange, wie die Schüler brauchten für ihre Entscheidung, in unbeschreiblicher Angst vor dem Urteilsspruch, der sich herauszögerte, weil sie sich meistens nicht einig waren von Anfang an.
„Einatmen“, „Rohrstock“, die kindlichen Rufe drangen wie Pfeile in sein Hirn, bis sie endlich alle das selbe Wort schrieen und meistens war es „Einatmen“.
Dann löste sich seine Angst langsam und machte Platz für Hass, Hass auf den Lehrer und seine Mitschüler und mit dem Hass stieg der Wille in ihm auf, es ihnen diesmal zu zeigen, nicht zu weinen!
Manchmal sah er auch das Bild eines Heiligen, das er in einem Buch mit frommen Geschichten gesehen hatte, wie der - an einem Stamm gefesselt - von ungläubigen Heiden mit Steinen beworfen wurde, die dabei auch noch hämisch lachten und kreischten und Grimassen zogen; einige schienen sogar zu tanzen!
Dann fühlte er sich herausgehoben aus der Schar der lärmenden Mitschüler. Denn, wem auf Erden Böses angetan wird, der wird - wenn es so weit ist - herausgewunken aus der Warteschlange vor der Himmelstür und der darf sie alle überholen, seine Peiniger sowieso, und der wird mit freundlichem Lächeln von Petrus persönlich zur Schar der jubilierenden Engel geleitet, die ihn dann zu einem der vorderen Plätze im weiten Himmelsrund führen würden. Das wusste er von seiner Mutter.
Später hatte er sich oft gefragt, ob seine Mitschüler ihre Entscheidung, dass er einatmen solle, bewusst getroffen hatten, ob sie ihn wirklich demütigen wollten, oder vielleicht sogar schonen, wenn sie „Einatmen“ schrieen, oder war es nur Zufall, je nachdem, was der erste rief?
Den weiteren Verlauf übernahm dann wieder Ganzauge.
„Einatmen, tief, tiefer“, seine Brust schwoll an dabei, „damit du deinen Wind wieder einfängst; er gehört doch dir, oder?“
Und wenn er nicht sofort geantwortet hatte, hatte er sein Spiel weiter getrieben.
„Was ist, hast du schon vergessen?, dann schnuppere mal an deinem Sitz, damit du ihn wiedererkennst. Na, war’s deiner?“
Und mit jedem Wort, das Ganzauge gegen ihn richtete, entfernten sich Himmel und Heilige wieder und er fühlte sich grau und verlassen, bis er schließlich „Ja, Herr Lehrer“ sagte.
Einmal war er danach einen Nachmittag und eine Nacht lang nicht nach Hause gegangen, hatte sich in seiner Heckenhöhle verkrochen.
Er wollte sich ausfurzen, für immer und ewig. Er hatte es auch mit Beten versucht, wie immer in Notsituationen.
„Lieber Gott, lass mich furzen, so viel, wie es eben geht, damit es nicht mehr in der Klasse passiert. Wenn ich groß bin, will ich auch andern Kindern helfen, die in der Klasse furzen müssen, dann werde ich nämlich Furzprofessor.“
Dass der Liebe Gott einen bevorzugt behandelt, wenn man eine Gegengabe anbietet, das war klar, das kam in jedem Abendgebet vor; warum hieß es denn am Schluss immer ‚ich will auch lieb und artig sein’? Außerdem sagte das ebenfalls seine Mutter und die musste es schließlich wissen. Und dann überließ er sich Träumereien von einem Leben ohne Lehrer und Schule, vielleicht inmitten von Heidenkindern, irgendwo in Afrika, wo keiner bestraft wird, wenn er furzt, weil da sowieso alles ganz anders ist, wo sogar richtige Furzwettbewerbe ausgetragen werden mit Siegerehrung und Medaillen, und den Heidenkindern würde er dann nach dem Wettkampf Geschichten erzählen vom Himmel und den Heiligen, und dann war er eingeschlafen und er erinnerte sich auch jetzt, nach so vielen Jahren, an den Traum von damals.
Er sah Lehrer Ganzauge, der sich zusammen mit den zehn größten Stinkern dieser Welt in einem gläsernen Raum befand, der gerade groß genug war für diese Versammlung. Ganzauge in der Mitte, die Stinker im geschlossenen Kreis um ihn. Sie waren nackt - die Stinker - bis auf eine Gasmaske, die sie über den Kopf gestülpt hatten. Dann ließen sie, wie auf ein geheimes Kommando, den fürchterlichsten Furz los, zu dem sie imstande waren, und aus ihren Gasmasken drang wie aus einem tiefen Brunnen, dumpf und verquollen nur ein Wort und das immer wieder:
„Einatmen - Einatmen - Einatmen - Einatmen“, und sobald Lehrer Ganzauge zögerte, machten sie den Kreis um ihn um einen Schritt enger.
Und Ganzauge atmete ein, mit angstverzerrtem Gesicht und blähte dabei auf, wurde dicker und dicker, bis er schließlich platzte, wie ein Luftballon und nichts von ihm übrig blieb als übel riechende Gase.
Rolf holte Jochen mit einem Stoß in die Seite und der Bemerkung, dass er seinen ‚verjeistigten Zustand’ nun mal ablegen sollte, es ginge nämlich nun los, wieder in die Konferenz zurück.
Jochen nickte zu einigen Kollegen und Kolleginnen, die er am Vormittag noch nicht gesehen hatte, hinüber, stellte fest, dass sich an dem langgestreckten uförmigen Konferenztisch die gleichen Gruppierungen wie immer gebildet hatten. Ihm gegenüber an der langen Seite saß der pädagogische Nachwuchs auch wie immer, heute zum ersten Mal mit zwei Referendarinnen, die erst seit ein paar Tagen an der Schule waren.
Ein scharfes Gespann, dachte Jochen, endlich mal was zum An …
Wieder stieß Rolf ihn an - Beim nächsten Mal wird zurückgeschlagen, dachte Jochen. - und raunte ihm zu, dass er sich lieber von den Sexbomben losreißen solle, Fanselow fehle, und er wisse doch, was das bedeute.
„Du bist mit Protokoll dran.“
„Nee.“
„Doch“, grinste Rolf, „pass auf, jetzt kommt’s.“
In diesem Augenblick begrüßte Reimers die beiden neuen Kolleginnen, wünschte ihnen das Übliche und schloss mit den Worten: „Und Frau Griesbach, Sie dürfen dann gleich das erste Protokoll schreiben, das ist bei uns so, es geht nach dem Alphabet und da sind Sie nun mal …“
Jochen räusperte sich: „Na Rolf, hast du mitgekriegt, wie das mit dem Alphabet ist, nach ‚Eff’ kommt nicht ‚Ha’ wie Hansen, sondern, na, was haste gerade gelernt?“
„Is ja jut, Schwein jehabt, die Neue kam überraschend; weißt du übrigens, was mit Fanselow is?“
„Keine Ahnung, hab ihn schon seit Tagen nicht gesehen, ich glaube seit dem Sekretariat neulich nicht mehr; warum fragste?“
Rolf antwortete nicht. Er gab Jochen zu Verstehen, dass sie die Unterhaltung abbrechen sollten. Reimers sah ungehalten zu ihnen hinüber.
Konferenzen trafen Jochen immer besonders hart: Erstens, weil sie ihn um seinen Mittagsschlaf brachten, zweitens, weil meistens sowieso nichts dabei herauskam, drittens, weil ihn so viele Lehrer auf einen Haufen störten - Lehrer im Plural empfand er einfach als Zumutung -, und viertens, weil man trotz all dieser Misslichkeiten nicht mal richtig abschalten konnte, wenigstens nicht über einen Zeitraum, der ausgereicht hätte, um die wohlige Wärme des Halbschlafes zu spüren.
Fanselow hatte es einmal in diesem an sich erstrebenswerten Zustand erwischt. Er hatte - plötzlich aufgeschreckt - für die Einrichtung eines Schülerraucherzimmers gestimmt.. Erst als ihn einige ‚Fortschrittliche’[2] mit Beifallsäußerungen erschreckten, hatte er bemerkt, was ihm da unterlaufen war, ihm dem Kämpfer für Recht und Ordnung. Da Jochen sich solche Peinlichkeiten ersparen wollte, musste er notgedrungen wenigstens mit einem Ohr dem Geschehen folgen. Und an dieses Ohr drang der Ausruf: „Das muss man doch erst mal hinterfragen!“
Aha, Lisa greift ins Geschehen ein, dachte Jochen, sah zu ihr hinüber und fragte sich, wo die um diese Zeit nur diese Energie hernimmt.
Er sah, wie sie den rechten Arm bis auf Kopfhöhe hob, dabei die Hand zu einer offenen Schale formte, so, als ob sie ihr Anliegen gleichsam ins Objektive erheben wollte. Ihre Finger wirkten dabei fleischlos, fast skelettartig.
Vegetarierin bis in die Fingerspitzen, dachte Jochen.
Sein Blick erfasste nun ihren Oberkörper, der, leicht nach vorn gebeugt, wie durch eine Sehne gespannt schien. Angespannt wirkte auch der übrige Körper. Selbst von ihren Jeans, die er von den Knien abwärts zwischen den Stuhlbeinen sah, ging etwas ungewöhnlich Straffes aus. Alles an Lisa wirkte angespannt, ernst und engagiert.
„Jetzt geht das schon wieder los“, murmelte Rolf verärgert vor sich hin. „Jedes Mal dieset Theater. Die braucht mal einen Kerl, der sie so richtig“, die nähere Erläuterung hierzu überließ er seinem rechten Arm und dessen eindeutigen Kolbenbewegungen, unterstützt von ebenso eindeutigem Grinsen.
„Würde ick vielleicht übernehmen, wenn se artig bitten würde, der Vorbau is ja ganz passabel, aber erst allet hinterfragen, nee ick jloobe, det is doch nich mein Ding. Und du“ - wieder setzte er seinen Arm in Bewegung - „kein Interesse? Ne jewisse Tendenz zum Hinterfragen …“, Rolf brach abrupt ab, hob eine Hand als Geste der Entschuldigung, denn Reimers hatte sich erneut ihnen zugewandt.
Jochen stellte überrascht fest, dass er doch wohl kurzzeitig abgetaucht war. Er hatte keine Ahnung, welchem Thema Lisas energische Aufforderung zum Hinterfragen galt. Andere Kolleginnen und Kollegen schienen hingegen sehr wohl zu wissen, worum es Lisa ging. Klatschen und bestätigende Zurufe aus der Gruppe der Fortschrittlichen, begleitet von zustimmendem Lächeln der beiden Referendarinnen und Gebärden des Unmuts und der Langeweile einiger älterer Kollegen - Runge (eine führende Figur dieser Gruppe) zeigte unverhohlen sein bekannt großmäuliges Gähnen - deuteten auf allgemeine Informiertheit hin.
Rolfs Kommentar beschränkte sich auf ein brummiges „Ach du Scheiße“. Sein eigentliches, sozusagen existentielles Interesse war jetzt darauf gerichtet sich in eine Sitzhaltung zu rutschen, die es ihm ermöglichte, die nächsten Stunden möglichst bequem und möglichst unerkannt desinteressiert zu überstehen.
Lisa hingegen warb weiter für ihre Sicht der Dinge.
„Haben wir uns denn überhaupt mal gefragt, wie die Interessenlage tatsächlich ist, wessen Interessen wir tatsächlich vertreten?“
Und von wem überhaupt die Rede ist?, ergänzte Jochen mit tonlosen Lippenbewegungen.
„Letztendlich läuft doch alles wieder darauf hinaus, dass wir die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge viel zu wenig, oder besser gesagt, wieder mal gar nicht berücksichtigen. Meine Erfahrungen sind jedenfalls so.“
Der Beifall der Fortschrittlichen rief Runge auf den Plan.
„Aber genau Kollegin, nun haben wir es kapiert, jetzt wissen wir endlich, was wir die letzten zwanzig Jahre falsch gemacht haben. Aber jetzt mit Ihnen kann ja nichts mehr schiefgehen; Mann haben wir ein Glück Kollegen.“ Sprach’s, klopfte seinen Worten Beifall auf den Tisch und sah - Anerkennung einsammelnd - in die Runde.
„Jawoll, Schwein gehabt!“, rief Rolf in Runges Richtung.
Beifälliges Lachen, wenn auch nur vereinzelt, war sein Lohn und ein schnelles „Genau“ eines Kollegen, der sich immer den sich abzeichnenden Mehrheiten untermogelte.
Jochen spürte ein wattiges Ziehen im Bauch. Er atmete tief, um es los zu werden. Die Bewegungen seiner Brust nahm er bis in die Schultern wahr. Er wusste noch immer nicht, worum es eigentlich ging, und er sah Lisa, wie sie bleich wurde, und ihre zuckenden Nasenflügel und ihre aufeinander gepressten Lippen.
Er war wütend auf seine Kollegen, er war wütend auf Lisa, die sich ihnen immer wieder auslieferte, und er war wütend auf sich, weil er nichts dazu sagte.
„Das ist ja ungeheuerlich, wie hier mit einer engagierten Kollegin umgegangen wird, und das von Leuten, denen das Wasser doch selbst bis zum Halse steht, jawohl.“
Renata räusperte sich, versuchte in der Lautstärke zuzulegen, was ihre Stimme kratzig und angestrengt machte.
„Jawohl, Sie wollen das nur nicht wahr haben, weil Sie die Scheiße, in der wir hier alle stecken, ja auch Sie, da brauchen Sie gar nicht so zu grinsen, weil Sie die Scheiße selbst produziert haben. Ihr habt offensichtlich noch immer nichts kapiert. Autoritäre …“
Wieder unterbrach sie. Und während sie mit Hustenstößen versuchte, ihre Stimme wieder frei zu bekommen, rief Runge: „Autoritäre was? Nun sagen Sie es schon, oder hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“
„Das können Sie haben“, und langsam, wie zum Mitschreiben, Runge fest im Visier, verkündete sie: „ Ihr seid nichts weiter als“, sie atmete nochmal tief durch, - Jetzt kommt ‚Arschlöcher’, dachte Jochen. – „autoritäre Ignoranten!“
Und nach kurzer Stille, die prall gefüllt schien mit den unterschiedlichsten Gefühlen der Anwesenden, erhob Runge seine Stimme, ruhig, fast leise und betont gelassen: „Was meine Wenigkeit angeht ‚Sie Ignorant’, wenn ich bitten darf, ‚Sie’, soviel Zeit muss sein.“
„ ‚Sie Ignorant’ ist mir auch recht. Dieses hohe Maß an Selbsterkenntnis hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, Sie, Herr Kollege.“
„Geschenkt, Frau Granata, Entschuldigung Renata Wohlers.“
Runge winkte gönnerhaft ab und genoss das Gelächter seiner Sympathisanten und die Bemerkung des Mehrheitskollegen „Granata ist gut Kollege, wirklich.“
Rolf nickte ein paar Mal vor sich hin, ein Nicken, das ihm bei Bedarf die zweckmäßigste Deutung erlauben würde. Jetzt hatte er offensichtlich keine Lust, sich mehr als unbedingt nötig, an der Auseinandersetzung zu beteiligen, zumal er inzwischen die Sitzhaltung gefunden zu haben schien, die es ihm ermöglichte, körperlich unbeschadet und geistig weitestgehend unbeteiligt das Ende der Konferenz zu erreichen.
Ausgerechnet Renata, ausgerechnet die verteidigt Lisa, dachte Jochen. Dieses Miststück kennt doch nur sich selbst, alles Andere ist der in Wirklichkeit völlig schnuppe. Die kocht wieder ihr eigenes rotes Süppchen, will wahrscheinlich die beiden Neuen beeindrucken, auf ihre Seite ziehen.
Sie war ihm einfach unsympathisch, normalerweise, jetzt empfand er Ekel, übel aufstoßenden Ekel. Er ließ die Absicht fallen, Lisa zu Hilfe zu kommen. Es hätte ja so aussehen können, als sympathisiere er mit Renata. Dieser Gedanke war ihm so zuwider, dass er - ganz gegen sein sonstiges Verhalten - nichts sagte.
Er rechtfertigte sich damit, dass er ja nicht immer eingreifen müsse, andere könnten schließlich auch mal, außerdem sei es durchaus möglich, dass ihr das gar nicht recht wäre, wo doch jeder wusste, dass er nicht zu ihren Anhängern zählte und zu den Fortschrittlichen ein eher distanziertes Verhältnis hatte. Dass er auch zu den Konservativen im Kollegium auf Abstand hielt, schien mehr zu verunsichern, als dass es ihm bei den Linken Sympathien eingebracht hätte.
Es blieb trotzdem ein fader Nachgeschmack, jetzt, in dieser Situation. Und plötzlich hatte er ein Gefühl, ähnlich wie ab und zu in seinen Alpträumen.
Eine dicke verstaubte Motte krabbelte an seinem Gesicht herunter, zwängte sich durch seine Lippen und stieß an seine Zunge. Jochen spuckte aus, nahm sein Taschentuch, wischte sich die Lippen ab, merkte erst jetzt, dass er gespuckt hatte, sah sich verlegen um, hörte Rolf: „Wat is denn nu los?“, wischte schnell die Spucke vom Tisch und war erleichtert, als er merkte, dass außer Rolf offensichtlich niemand diesen Vorgang bemerkt hatte.
Jetzt wäre der richtige Augenblick, dachte Jochen, jetzt sollten sie hereinbrechen, die Tür eintreten und mit Gebrüll , Farbbeuteln, faulen Eiern und allem, was nicht gerade zum jähen Ableben führt, die Versammlung aufmischen; Abfallkübel über Runge leeren zum Beispiel, Gestank dem Stinker! Randale im Lehrerzimmer. Macht kaputt, was mich kaputt macht, oder so ähnlich. Das wäre mal eine Aktion!
Aber was soll’s, die lieben Kleinen haben es eben mehr auf ihresgleichen abgesehen. Eigentlich unlogisch, ganz davon abgesehen, dass man Lehrer schon allein wegen ihrer Größe besser trifft. So ist das eben. Also weiter durchhalten bis zum ersten Bier. Jochen sah auf seine Uhr: in zwei Stunden, frühestens.