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Fünftes Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen traf er Lisa im Sekretariat. Sie tütete zusammen mit einer Kollegin Infos ein, in denen die Eltern auf Beschluss der Gesamtkonferenz wieder einmal auf Missstände an der Schule ‚als Spiegelbild der katastrophalen gesamtgesellschaftlichen Zustände’ hingewiesen - und zu Protestaktionen aufgerufen wurden. Wie in diesen Tagen überhaupt Demos, Herstellen von Flugblättern und Protestplakaten, Organisieren von Solidaritätsveranstaltungen die Tagesabläufe wesentlich bestimmten. Unterricht war Nebensache.
Gestützt auf eine Theke, die den Besucherraum vom Arbeitsbereich der Sekretärinnen trennte, waren sie bei der Arbeit.
Die Schreibtische, die Ablageböcke, die Aktenschränke und Regale verströmten den gleichen Geruch und die gleiche Atmosphäre wie immer.
Wie auf dem Einwohnermeldeamt, dachte Jochen, als er den Raum betrat.
Lisa beim Eintüten; das war ein Ereignis! Er hatte noch nie jemanden gesehen, der wie sie die Klebestreifen eines Briefumschlages befeuchtete. Sie brachte es fertig, aus diesem banalen Vorgang ein ästhetisches Erlebnis zu machen.
Wie ein Klaviervirtuose seine Hand bei einer Klangpause von den Tasten löst, sie in elegantem Bogen bis in Kopfhöhe führt, so ließ sie ihre rechte Hand mit parallel zueinander ausgestrecktem Zeigefinger und Daumen zu ihrem Mund hinauf gleiten, aus dem eine von Speichel glänzende Zunge deutlich herausgestreckt die Ankunft des Fingerpaares erwartete, nicht etwa um sie feucht zu lecken, nein, die Finger hatten die Aufgabe, sich mit ihren Innenflächen Feuchtigkeit von der speichelbenetzten, bewegungslos ausgestreckten Zunge abzuholen, um sie dann, etwas schneller als zuvor, aber nicht weniger elegant, dem Briefumschlag zuzuführen. Dann streifte sie die Feuchtigkeit auf den Klebestreifen des vor ihr auf der Theke aufgeklappt liegenden Briefumschlages ab. Während dessen zog sie die Zunge wieder in den Mund, befeuchtete sie und die Darbietung begann von Neuem.
Jochen schluckte ein paarmal beim Anblick dieses Zungenspiels, bemerkte, dass sich auch seine Zunge zwischen seinen Lippen zu schaffen machte und stellte sich Lisas Zunge bei Verwendungen vor, die nichts mit dem postalischen Schwammersatz zu tun hatten, zu dem sie gerade missbraucht wurde. Auch der Abend gestern in der Kneipe tauchte wieder auf. Auch jetzt beunruhigte ihn irgendetwas, das er sich nicht erklären konnte. Und während er noch einmal an die Blicke zwischen sich und Lisa dachte, bei denen sie sich gestern überrascht hatten, fragte Lisa, ob er ihnen nicht helfen wolle.
„Ich muss nämlich gleich weg. Oder willst du uns nur zugucken und dabei überlegen, wie du dich vor der nächsten Demo drücken kannst“, bemerkte die miteintütende Kollegin.
Bei ‚Demo’ surrte ein Film los, den er während seiner Bonner Zeit vor ein paar Jahren erlebt und gespeichert hatte.
Er sah wieder die Massen von Erst- und Zweitsemestern, die, als es um die Notstandsgesetze ging, durch die Bonner Innenstadt zogen zum Schrecken aller Geschäftsleute, die alles, was an ihren Häusern aus Glas war, am liebsten zugemauert hätten. Mütter, die sich schon den einen oder anderen Studenten als Schwiegersohn vorgestellt hatten, verboten irritiert ihren Töchtern jeglichen Umgang mit diesen Revoluzzern, zumindest solange, wie die solche Sachen machten. Natürlich war er auch gegen die Notstandsgesetze gewesen; natürlich wollte auch er demonstrieren; natürlich bewunderte er Dutschke, den er für einen aufrichtigen Kämpfer für einen menschlichen Sozialismus hielt. Sehr schnell war er aber auch davon überzeugt, dass es sich bei den meisten Marschierern und Fahnen-Schwenkern um Bürgersprösslinge auf Erlebnistrip handelte, die genauso entschlossen für freie Liebe im Hörsaal auf die Straße gegangen wären. Ihre kleinbürgerliche Besserwisserei und ihr elitäres Verbalgepluster hatten sie in seinen Augen disqualifiziert; Teilnahme an der Humanisierung der Gesellschaft verboten!
Nein, diese Demonstranten konnte er nicht ernst nehmen. Seitdem hatte er sich angewöhnt, seine Mitwirkung an Demos vor allem von der Glaubwürdigkeit der Teilnehmer abhängig zu machen. Die Ziele allein waren für ihn nicht mehr maßgebend. Jede Demo hatte grundsätzlich edle Ziele! , so schien es wenigstens.
Schade eigentlich, dachte er, schon damals war ich irgendwie draußen, wie jetzt auch.
Auch heute marschierte er nur selten mit, was ihm von den Aktivsten an seiner Schule, die ihre ganze Kraft hingebungsvoll dem Wohle des Volkes und weniger dem der Schüler widmeten, sehr übel genommen wurde.
Eine davon stand neben Lisa an der Theke und schob die Infos in die Briefumschläge. Lisa befeuchtete weiter mit virtuoser Geste die Klebestreifen der Briefumschläge. Die Kollegin verabschiedete sich wie angekündigt und Jochen übernahm das Eintüten.
Eine Unterhaltung zwischen den beiden kam nur stockend in Gang. Beide versuchten irgendwie ein Gespräch zustande zu bringen, machten Bemerkungen über Belangloses, alles hörte sich sehr nach bemühter Konversation an. Keiner sprach aus, was in der Luft lag. Beide suchten nach immer neuen Auswegen weg von den Gedanken, die eigentlich in ihren Köpfen umgingen. Jeder spürte die Spannung, die immer dichter wurde, sich mit jeder banalen Bemerkung mehr auflud. Schließlich ging auch die Sekretärin, gab Jochen den Schlüssel vom Sekretariat und ermahnte ihn, das Abschließen nur ja nicht zu vergessen. „Ihr habt ja wohl noch zu tun.“
„Ja, leider“, sagte Lisa und zeigte auf den Stapel noch nicht eingetüteter Infoblätter.
„Obwohl, ich müsste eigentlich auch bald …“
„Na komm, du auch?“, unterbrach ihn Lisa, „allein macht das nun wirklich keinen Spaß.“
„Was macht schon allein Spaß.“
Schon, als er bei ‚allein’ angekommen war, wusste er, dass er diese Bemerkung in dieser Situation besser nicht hätte machen sollen, aber nun war es zu spät. Lisa beeilte sich: „Da kannste wohl recht haben.“ Jochen fiel nichts ein aus Angst, sich immer mehr dem Thema zu nähern, das sowieso schon zum Greifen nah vor ihnen stand. Dann räusperte sich Lisa und sprach es aus: „Du Jochen, was war das eigentlich gestern nach der Konferenz?“
„Wieso, weil ich so früh gegangen bin?“
„Na ja, das auch, aber eigentlich ...“
„Ich weiß auch nicht, irgendwie war ich nicht richtig in Form, die Scheiß-Konferenz ...“
„Fandest du die so schlimm?“
„Und ob, Frau Doktor hat mir mal wieder den letzten Nerv geraubt, und Renata, sobald die den Mund aufmacht, wird mir übel.“
„Im Ernst, Renata, hat die dir was getan?“
„Die braucht mir nicht groß was zu tun, deren Anwesenheit allein genügt, dass mir schlecht wird.“
„Verstehe ich nicht..“
„Ich kenne sie eben länger als du. Ich halte die erstens für verlogen, zweitens für machtgierig und drittens für unbefriedigt. Mit dem Mann soll ja nicht allzu viel los sein.“
Wieder so ein Patzer, dachte Jochen.
Er hätte sich ohrfeigen können, dass er mit seiner letzten Bemerkung fahrlässig Lisa die Möglichkeit angeboten hatte, das Gespräch auf erotische Geleise zu lenken. Und schon war es passiert.
„Übrigens, um nochmal auf gestern Abend zurückzukommen …“
„Ja?, wir reden doch die ganze Zeit von nichts anderem.“
„Ja schon, aber ich meine“, sie machte eine kurze Pause, hob ihren Blick und sah ihn ungewöhnlich ernst an, „was soll ich eigentlich von deinen Blicken halten, gestern. Ich fand das ziemlich, na ja, wie soll ich sagen, überraschend.“
„Was fandest du überraschend?“
„Komm, tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, was ich meine.“
Spätestens jetzt war ihm klar, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Mit einer letzten schwachen Finte versuchte er noch einmal, sich herauszuwinden oder wenigstens Zeit zu gewinnen.
„Meinst du, hier wäre der richtige Ort, dass wir das besprechen?“
Dann sagte sie, dass es ihr heute Nachmittag auch ganz gut passen würde. Bei ihr in der Straße sei ein nettes kleines Lokal ohne viel Betrieb nachmittags, da könne man sich ungestört unterhalten; sie fände es gut, wenn er Zeit hätte.
„Na, wie sieht’s aus?“
Jochen war nun klar, dass er sich nicht mehr mit irgendwelchen Ablenkungsmanövern aus der Sache herausstehlen konnte, ohne sich unglaubwürdig oder gar lächerlich zu machen. Er sagte: „Hast du um fünf Uhr Zeit?“, und so, als ob es sich um einen Termin für eine gemeinsame Unterrichtsbesprechung handele, erklärte er: „Dann würde es mir am besten passen.“
„Passt mir auch“, sagte Lisa ebenfalls ganz sachlich, fast geschäftsmäßig und befeuchtete weiter die Klebestreifen an den Briefumschlägen. Jochen tütete weiter ein. Die Unterhaltung tröpfelte dahin, die Pausen wurden immer länger, beide schienen sich nicht besonders wohl in ihrer Haut zu fühlen. Jochen schob Lisa die gefüllten Briefumschläge hin immer auf der Hut vor ihren Fingern. Berühren verboten, kreiste in seinem Kopf. Er versuchte, die Blätter so schnell wie möglich in die Umschläge zu stecken, um nicht länger als unbedingt nötig dieser Situation ausgeliefert zu sein, was allerdings zur Folge hatte, dass er immer öfter die Brieföffnung nicht richtig traf, den Vorgang immer häufiger wiederholen musste, Blätter dabei verknickte, einige Briefumschläge beim Öffnen anriss.
„Bist du nervös?“, fragte Lisa.
Und wie, dachte Jochen und sagte: „Nee, wieso?“
„Na, so wie du eintütest.“
„Eintüten ist eben nicht mein Ding, mehr is nich.“
„Die paar Blätter noch“, sagte Lisa und deutete auf die wenigen Infopapiere, die noch auf der Theke lagen, „gleich haben wir’s ja.“
Hoffentlich bevor Hitzewellen, Angstschweiß und nervöse Zuckungen nicht mehr zu unterdrücken sind, dachte Jochen, von unkontrollierbaren Spätfolgen beim Anblick von ‚Eintütern’ ganz zu schweigen.