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Drittes Kapitel
ОглавлениеDie Versammlung nahm ihren Lauf. Zäh und schleppend, manchmal aufflackernd, wie heute gleich zu Anfang, bis - nach kurzer Flaute - die kleinen Flämmchen wieder in die Höhe züngelten, angefacht vom Blasebalg der Eitelkeiten und genährt von dem Verlangen nach baldiger Beförderung (in die nächste Gehaltsstufe) und nach ein bisschen Macht und ein bisschen mehr Titel als nur ‚Lehrer’ oder ‚Lehrerin’.
Heute machte Jürgen mächtig Wind.
„Zuallererst muss die Situation sehr viel sorgfältiger analysiert werden. Dann müssen wir uns für intensive Fortbildungsmaßnahmen engagieren. Erst dann können wir uns über innovative Konzepte zur Umsetzung vor Ort unterhalten.“
Das aus Jürgens Mund. Neulich auf dem Flur fühlte der sich doch noch ‚verscheißert’ von Lisas ‚gesellschaftspolitischen Anwandlungen’. Jochen merkte, wie ihn diese Wortblähungen peinlich berührten. Da er wusste, dass er solche Empfindungen nur schlecht verbergen konnte, beugte er sich vorsichtshalber über seinen Notizblock. Während er ein paar Seiten hin und her blätterte - was anderes fiel ihm im Augenblick nicht ein -, hörte er die Stimme von Frau Doktor Nörlinger, der Schulrätin, die ab und zu mal ‚nach dem Rechten’ sah und dann ihre ‚hautnahe’ Arbeit ‚vor Ort’ an der ‚Basis’ rühmte. Sie hatte die Angewohnheit, sich immer dann zu Wort zu melden, wenn ein Diskussionsteilnehmer etwas Grundsätzliches - nach ihrer Meinung - von sich gegeben hatte. Schon an ihrer Stimmfärbung, die ihre entscheidende Tönung dadurch zu erhalten schien, dass sie die Worte vor Weitergabe an die Allgemeinheit zu einem Probelauf durch Kehlkopf und Nase schickte, wurde ihr Anspruch deutlich: Grundsätzliches sage ich und sonst niemand!
Jochen bezeichnete diese Art zu sprechen mit ‚nasales Gackern’ oder auch ‚Nasengeschiss’, je nach Gemütsverfassung.
Heute näselte sie: „Ich darf also konstatieren, dass eine effiziente und auch emanzipatorische Belange mit einschließende Auswertung, und zwar nach streng wissenschaftlichen Kriterien, noch in keinster Weise erfolgt ist. Wie wollen Sie aber ohne diese Prämisse zu einem stimmigen Ensemble von programmatischen Aussagen, pragmatischen Vorgehensweisen und - last, but not least - plakativen Forderungen kommen; ich bitte Sie!“
Nach solchen Ausführungen stellten sich in der Regel einige Augenblicke der Stille ein. Den einen hatte es die Sprache verschlagen, andere brachten durch bedächtiges Nicken überlegte Übereinstimmung mit dem Gesagten zum Ausdruck. Unter diesen fiel vor allem Jürgen auf, der wie immer in solchen Situationen durch Hochschieben seines Kinns, wodurch sich bedeutungsvolle Falten an seinen Mundwinkeln bildeten, und mit ernst zusammengepressten Lippen, die noch gerade ein kleines anerkennendes Lächeln ermöglichten, fast Hochachtung vor Frau Doktor ausdrückte. Geschiss zu Geschiss, dachte Jochen.
Am schnellsten aber erholten sich wie immer in solchen Situationen die Nachwuchsgacker in der Runde. Sie scharrten und kratzten nach fetter Beute, was Schnabel und Krallen hergaben, allerdings auf fremdem Gelände, auf dem von Frau Doktor. Und da sich jeder bemühte, als erster seinen Fund dem Volke zu präsentieren, hörte sich Jochen plötzlich von einem Gickern und Gackern und Gockeln umgeben , wie auf dem schönsten Hühnergeläuf.
Bei Elisabeth reichte es nur zum Krächzen, sie war erkältet. Alle krähten wenigstens einmal ‚psychosomatisch’, ‚letztendlich’, ‚ambivalent’, und Elisabeth schließlich, mit Würde auf den rechten Ellenbogen gestützt, die Finger krallengleich vom aufrecht stehenden Unterarm abgespreizt, nahm Anlauf und spie durch ihre streng nach außen gezogenen Lippen das Wort aus, das Frau Doktor zustand, das ihr durch die Lappen gegangen war, obwohl es so schön gepasst hätte bei ihren Ausführungen - anstelle von ‚Untersuchung’ -, unverständlich zwar, aber es war ihr nun mal unterlaufen, und nun flog das Wort durch den Raum ‚Evaluation’, abgeschickt von einer Unwürdigen, von Elisabeth, einer schlichten Lehrerin! Und selbst über diese Kühnheit erschrocken, schob sie einen Satz hinterher mit einer Aussage von epochaler Größe, und keiner bemerkte diesen historischen Augenblick.
Beißender Spott und ärgerliche Banalitäten würden schon bald bei Anwendung dieses Satzes ihren Schrecken verlieren, hinterhältige Angriffe das Hinterhältige. Keiner nahm die Geburt dieser in Windeseile Generationen verbindenden Wendung wahr, dieser Aussage, mit der sich in Zukunft jeder mit allem zu Wort melden konnte und selbst dann noch unbeschadet blieb, wenn er gröbste Beleidigungen oder peinlichste Dummheiten von sich gab.
Keiner stand auf, keiner umarmte Elisabeth, kein verzückter Blick, kein ekstatischer Aufschrei, kein Kuss, kein Beifall wie sonst schon bei Kleinigkeiten, nicht mal neidvolles Grinsen, nichts! ‚Evaluation’, ja, das hatten alle ehrfurchtsvoll zur Kenntnis genommen, wenigstens die meisten, aber den Genieblitz ‚SAG ICH MAL SO’ keiner. Alle würden sich schon bald mit Hingabe über ihn hermachen, keiner würde sich an die Geburt, bei der er, Jochen, zugegen gewesen war, erinnern. Selbst Elisabeth war nur stolz auf ihr mutiges ‚Evaluation’. Auch ihr entging es, dass sie Mutter geworden war. Wie ein unbemerkter Abgang beim Stuhlgang ging diese Schöpfung in die Welt der Sprache ein. Vielleicht lag es auch an dieser beiläufigen Geburt, dass in Zukunft niemand Skrupel empfand, diese Wendung für jede sprachliche Gemeinheit in Anspruch zu nehmen. Von der gröbsten Anmache bis zur waghalsigsten Schmeichelei, alles würde durch dieses Anhängsel in ein erträgliches Maß entschärft werden.
Alle würden sie ihn verwenden, ohne Scham. Nicht verhohlen oder mit bedeutungsvoller Pause dahinter, nein, einfach so, fast versehentlich würden sie ihn von sich geben, immer und immer wieder.
Und so reagierten dann auch alle ausschließlich auf Frau Doktors Worte.
Der ‚Mehrheitskollege’ signalisierte mimisch zurückhaltende Zustimmung. Einige schienen ihren Nachbarn ironische Bemerkungen über die ‚Tante vom Amt’ zuzuflüstern. Verstecktes Grinsen deutete darauf hin. Ein paar drückten ihr Desinteresse durch provokantes Gähnen aus, mehrheitlich die, die in den letzten Jahren wiederholt bei Beförderungen übersehen worden waren. Kolleginnen, die nach den Worten von Frau Doktor ihren Beifall spontan mit Tischklopfen zum Ausdruck brachten, brachen ihr Klopfen schnell ab, als sich ihnen niemand anschloss.
Schon schüttelten die wirklich großen Hähne und Hähninnen am Hufeisentisch - heute nur vertreten durch Frau Doktor, Schulleiter Reimers und Konrektorin Hilde - verärgert über Elisabeths Grenzüberschreitung die Kämme und ihren sonstigen Kopfschmuck und verwiesen den Nachwuchs auf ihre Plätze in der Hackordnung.
Aber auch einige andere waren hellhörig geworden. Es waren immer dieselben, die sofort ins Geschehen eingriffen, wenn sich einer in der Rangordnung an ihnen vorbeimogeln wollte, und Elisabeth hatte ja wohl Anlauf genommen.
In die Gruppe der Anwärter, vor allem auf eine höhere Gehaltsstufe, wenn möglich verbunden mit einem wohlklingenden Titel - Direktor stand ganz oben auf der Wunschliste -, kam Bewegung. Und wie nicht anders zu erwarten, schossen sie wieder - allen voran Jürgen und Renata - implizit und explizit und vor allem ambivalent, manchmal auch kontraproduktiv und konterkariert, oft plakativ, trotzdem aber immer dezidiert ein Ejakulat von bildungsbeschwerten Wörtern in die Luft, polierten sie noch auf mit bedeutungsvollem Lächeln.
Die ganz Listigen pflegten auch immer noch den Satz unterzubringen: ‚Außerdem sollten wir uns bemühen einander - ‚einander’ war ganz wichtig - ‚wieder zuzuhören, richtig und vorurteilslos zuzuhören!’ -, immer in der Hoffnung, irgendwann würden die hohe Moral und der Glanz und die Intelligenz derartiger Rhetorik in Verbindung mit gekonntem Mienenspiel schon von den richtigen Leuten gehört und gesehen.
Zu den richtigen Leuten gehörten alle, die irgendwie zur Beförderung in die nächste Gehaltsstufe beitragen konnten, und davon gab es eine Menge. Wusste man denn, über welche Verbindungen der Kollege neben einem verfügte? Außer den Linksradikalen natürlich, da brauchte man sich nicht anzustrengen, obwohl auch diese sich - zwar noch klammheimlich, aber mit deutlichen Versuchen - dieser Strategie bedienten.
Man wurde schließlich auch älter und der erste Bausparvertrag wollte auch finanziert werden.
Jochen holte ein paarmal tief Luft und sehnte sich so intensiv, wie schon lange nicht mehr, nach dem Ende der Sitzung. Oder sollte heute etwa noch ‚eruiert’ werden? Merkwürdigerweise erinnerte ihn ‚eruiert’ an seine Kindheit, und ausgerechnet an die Qualen, die er bei der Gewissenserforschung ausgestanden hatte, die ihn wie eine Vorahnung des Fegefeuers jeden Samstag unausweichlich einholte vor der Beichte am selben Nachmittag. Den Siedepunkt der Qualen bildete, nachdem er über Nacht ganz neue Möglichkeiten seines Geschlechts entdeckt hatte, und diese dann auch noch in der Badewanne aufs Verwirrendste bestätigt wurden, das Erforschen der ‚unkeuschen Handlungen’ der vorangegangenen Woche. Die ‚Hilfestellungen’, die der ‚Beichtspiegel’ gerade zu diesen Fragen enthielt, konnte er schon bald auswendig. Seine Mutter war auf diesem Gebiet sicher keine Expertin, aber in Fragen religiöser Art hatte sie unumstößliche Autorität, war folglich auch für dieses geheimnisvoll verworrene Durcheinander von Körper, Sünde und Seligkeit oberste Instanz.
Um ihr seine gewissenhafte Beschäftigung mit diesem Gebiet vorzuführen, und vor allem, um Zeit zu gewinnen vor dem Augenblick der Bekenntnisse, die auch noch schriftlich auf einem Beichtzettel festgehalten werden mussten, studierte er diese Hinweise jedes Mal wieder möglichst lange. Die entscheidenden Fragen dieser ‚Hinweise’, die unausweichlich Schweißausbrüche und Atemnot auslösten, waren die, an die er jetzt dachte:
‚Hast du allein oder mit anderen …?’
‚Warst du dabei unbekleidet ?’
‚Hast du dich oder andere dabei angesehen?’
‚Wie oft ist es vorgekommen, dass du …?’
‚Hast du dich nachher geschämt, dass du …?’
Einige Verben - in diesem Fall vielleicht besser ‚Tuwörter’ - hatte er vergessen. Aber:
‚Nimm dir in Zukunft vor, nie mehr zu eruieren!’, hatte doch auch was Erlösendes.
Oder: ‚Wenn du weiter eruierst, schadet das auch deiner Gesundheit, es schädigt dein Wachstum und deinen Verstand’.
Diese Aussage empfand er als richtungsweisend, ebenso wie einige Versuche mit ‚fokussieren’:
‚Hast du dich nachher geschämt, dass du fokussiert hast?’
‚Hast du dich oder andere dabei angesehen?’, und so weiter.
Er wurde dann durch den Hustenanfall eines Kollegen in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Jochen sah an dem Hufeisen entlang in der Hoffnung, möglichst viele Anzeichen von ‚Nun lasst uns mal langsam Schluss machen’ zu erkennen. Er kam jedoch nicht dazu, Andeutungen hierfür oder für andere Befindlichkeiten wahrzunehmen, da sein Blick schon nach wenigen Augenblicken Lisa erreichte und bei ihr blieb.
Plötzlich hatte er das eigentliche Ansinnen seines Rundblicks vergessen. Während er Lisa ansah, ging ihm durch den Kopf, dass er mit der eigentlich auch mal flirten könne, nur so zum Spaß, um zu sehen, ob sie drauf anspringe; um seine derzeitige Form zu überprüfen sozusagen.
Die ist links, engagiert, trägt Grobgestricktes, isst wahrscheinlich außer Salat nur Obst und Körner und sammelt für Hausbesetzer. Eigentlich vergeudete Zeit.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb reizte es ihn, es auf einen Flirt mit dieser Frau ankommen zu lassen. Mit ‚ulkig’, ein Wort, das er häufig in undurchsichtigen Situationen gebrauchte, und leichtem Kopfschütteln entfernte er die Gedanken an den Flirt mit Lisa und hoffte weiter auf ein baldiges Ende der Konferenz.
Noch einmal traf sein Blick - zufällig - auf sie, die sich plötzlich mit kreideweißem Gesicht an ihrem Stuhl hochstemmte, wobei sie sich auf die Lehne des Nachbarstuhls stützte, hierbei ausrutschte und sich - fast wie in einer unbeholfenen Umarmung - an einer Schulter und einem Oberschenkel von Frau Doktor, die neben ihr saß, festklammerte. Frau Doktor, deren Oberschenkel wahrscheinlich seit längerem keine Fremdeinwirkungen mehr gespürt hatten, stieß einen spitzen Schrei aus, drehte unangenehm berührt ihren Kopf von dem Fremdkörper weg und war im Übrigen offensichtlich überfordert. Nun nahmen auch die anderen wahr, was geschehen war. Renata - wer denn sonst, dachte Jochen - eilte mit einem Ausdruck, in den sie Mitleid und Hilfsbereitschaft zu gleichen Teilen untergebracht hatte, zu Lisa, stützte sie und während sie mit ihr den Raum verließ, drehte sie ihren Kopf noch einmal zu der Versammlung und sagte mit einer Stimme, die man eigentlich nur von Befehlen kennt:: „Hier müsste dringend gelüftet werden!“
Das stimmt ausnahmsweise, dachte Jochen und hoffte, dass es nichts Ernstes sei, und er sagte sich, dass aus dem Flirten heute dann ja wohl nichts mehr würde. Aber wie dem auch sei, diese Gelegenheit sollte man nicht ungenutzt vorübergehen lassen.
„Ich schlage vor, wir beenden die Sitzung für heute. Ich zumindest bin auch am Rande meiner Aufnahmefähigkeit. Außerdem ist es halb sieben.“
Die meisten nahmen Jochens Vorschlag erleichtert auf. Auch Jürgen stimmte zu, nicht ohne sein Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck zu bringen.
„Hoffen wir, dass es Lisa bald wieder besser geht..“
Hoffen wir, dass du an deinem Schleim nochmal erstickst, dachte Jochen.
„Was war denn mit Lisa los?“, wandte sich Rolf beim Herausgehen an Jochen, „vielleicht schwanger?“
Er habe keine Ahnung, meinte Jochen, und ‚schwanger’ könne er sich bei der schon gar nicht vorstellen, vielleicht sei es ja wirklich nur die verqualmte Luft gewesen, außerdem interessiere ihn im Augenblick auch mehr ein schönes kühles Bier.