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Sechstes Kapitel
ОглавлениеBis um fünf Uhr hatte er noch zwei Stunden Zeit. Er konnte nach Hause fahren, was essen, sich noch ein bisschen ausruhen. Bettdeckenweiche Wärme breitete sich in ihm aus. Seinen Kopf fühlte er wie in einer dichten Wolke, die den Blick trübte und die Gedanken lähmte.
Meine Güte, ich könnte auf der Stelle einschlafen, dachte er, als er in seinen ‚R4’ stieg. Am besten jetzt direkt nach Hause und ab ins Bett, bis zum Abendessen. Den Termin lass ich einfach sausen. Ich rufe an, irgendwas wird mir schon einfallen. Und wenn ich sie nicht erreiche?
Er wusste, dass sie mittags öfter zum Italiener ging, manchmal auch in die Kantine vom Bezirksamt.
Nee, nee, das kann ich nicht machen. Das hätte ich ihr schon beim Eintüten sagen müssen. Was würde Lisa davon halten? Feigling, Drückeberger!
Nein, je schneller das geklärt wird, umso besser. Herausschieben macht die Sache nur noch wichtiger als sie ist. Aber müde bin ich trotzdem, hundemüde.
Er beschloss, zum ‚Yorckschlösschen’ zu fahren, eine Kleinigkeit zu essen und solange Kaffee zu trinken, bis sich die Wolken um seinen Kopf verflüchtigt hätten und er wieder klar sehen und denken könnte. Dort konnte man wenigstens draußen sitzen. Wenn auch der Autoverkehr der Yorckstraße direkt an dem Biergarten vorbeirauschte und ihn reichlich mit Abgasen versorgte, man hatte wenigstens ein paar Bäume und Sträucher um sich und konnte sich einbilden, dass der Wind ab und zu ein bisschen frische Luft zuwehte. Sitzen konnte man dort auch solange man wollte. Die Bedienung kam nicht alle naselang an den Tisch - „Darf’s noch etwas sein?“ - wie in anderen Restaurants. ‚Darf's noch etwas sein’, meistens in einem Ton und mit Blicken, die im Verneinungsfall zu sofortigem Verlassen des Lokals bei Zahlung eines angemessen großzügigen Trinkgeldes aufforderten. Nein, hier konnte man angenehm unbehelligt sitzen und auch mal vor sich hindösen, wenn einem danach war. Die einzige Gefahr war die, dass man - wegen der Nähe zur Schule - den einen oder anderen Kollegen traf und sich zu ihm setzen musste. Das konnte er heute bei seiner Verfassung am wenigsten gebrauchen. Jede Unterhaltung war jetzt Schwerarbeit. Er hatte genug mit sich selbst zu tun.
Trotz seiner Müdigkeit spürte er eine gewisse Unruhe.
Was sollte er Lisa sagen, warum war ihr soviel an einem baldigen Treffen gelegen? Nur wegen der paar Blicke in der Kneipe. So sensationell war das ja nun auch nicht gewesen, wenn es auch ein bisschen geknistert hatte, das schon. Aber deswegen gleich … Irgendwie hat der ganze Ablauf was von ‚Klären’ oder ‚Aussprache’, nur wegen so ein paar Blicken, die vielleicht etwas länger gedauert hatten als übliche Augenkontakte. Jetzt meldete sich auch sein Bauch.
Ist das nun Hunger oder was anderes, dachte er.
Er fuhr zum Yorckschlösschen, fand einen freien Tisch - erleichtert stellte er fest, dass der Biergarten lehrerfrei war -, rückte seinen Stuhl in den Schatten, streckte die Beine geradeaus, Arme und Kopf ließ er hängen.
So kann man’s aushalten, dachte er, und mit Wohlbehagen ließ er seinen Gefühlen freien Lauf: ‚Von Lehrern befreit sind Stuhl und Bänke durch des Frühlings holden, belebenden Blick, im ...’ und noch bevor er seinen Pennälerpegasus wieder absatteln konnte, vertrieb ihn Profanes aus Goeth’schen Gefilden.
„Müde?“
Jochen zuckte erschrocken zusammen, zog die Beine an, warf die Hände auf die Knie und ruckte den Kopf so nach vorn, dass er auf einen Pullover sah, den er kannte. Quergestreifte Grautöne, verwaschen, fast abgetragen, irgendwie ärmlich.
Ach du Himmel, Lisa.
„Na so ein Zufall, wie kommst du denn hierher?“
„Und selber?“, sagte Lisa, die ganz offensichtlich auch überrascht war, Jochen hier zu treffen.
Jetzt wird’s eng, dachte Jochen.
„Setz dich doch erst mal, oder hast du keine Zeit?“
„Doch, doch, hab ich schon. Ich dachte, du wolltest nach Hause.“
Er sagte, dass er es sich anders überlegt habe, es wäre ja doch nur eine Hin- und Herfahrerei geworden, und ob sie öfter ins Yorckschlösschen gehe.
„Nee, eher selten. Eigentlich war ich auf dem Weg zum Italiener. Aber da sah ich dich hier sitzen“, und nach kurzer Pause, „draußen sitzen ist heute auch schöner. Bei meinem Italiener kann man das nicht..“
Schade, dachte Jochen.
Ihm war das einfach zu früh. Er fühlte sich überrumpelt und in seinem abgeschlafften Zustand hilflos und ausgeliefert. Es beunruhigte ihn, dass da eine Frau neben ihm saß, die selbstsicher und souverän die Situation im Griff zu haben schien, während er sich mit einem Formtief abquälte. Was sollte er sagen, wenn sie gleich in die Vollen ginge, ohne Umschweife den gestrigen Abend ansprach, wo er doch selber noch völlig im Dunkeln tappte?
Ich kann ihr doch schlecht unterjubeln, dass das nur so’n Test gewesen sei, oder dass er sich dabei eigentlich nichts gedacht habe, oder damit kontern, dass sie doch auch gekuckt habe. Dämlicher geht’s nun wirklich nicht. Er hörte sich schon jetzt stottern bei dem Gedanken an solche Erklärungen. Er fühlte sich miserabel.
„Du siehst abgeschlafft aus.“
„So fühle ich mich auch.“
„Doch wohl nicht vom Eintüten, und gestern war’s doch auch nicht so spät.“
Schon wieder dieses dämliche ‚Eintüten’, dachte Jochen.
‚Gestern’, noch bevor sie das Getränk bestellt hatten, hatte sie es ausgesprochen. ‚Gestern’, wie in übergroßen Leuchtbuchstaben sah er dieses Wort vor sich, mächtig und bedrohlich.
Vielleicht war es aber auch nur ein Trugbild, die großstädtische Variante einer Fata Morgana aus flimmrigen Abgasen, wabernden Staubschleiern und überreizten Nerven.
„Oder warst du noch woanders?“
Jetzt eine tolle Geschichte erfinden, dachte er, das wäre vielleicht noch ein Ausweg. Von einer wüsten Sauferei, in die ich rein geraten bin mit üblen Folgen für Körper und Geist, angereichert mit irgendwelchen sexuellen Ausschweifungen. So richtig auf den Putz hauen eben. Vielleicht hat sie dann die Nase voll und lässt gestern ‚gestern’ sein. Das Ergebnis dieser Überlegungen hörte sich dann so an: „Nee, nee, ich bin gleich nach Hause. Konnte aber nicht so richtig einschlafen, habe dann noch so ein wirres Zeug geträumt, von einer Fliege und …“
Er brach ab, irritiert darüber, was er da von sich gab.
„Von einer Fliege? Erzähl weiter, Träume finde ich immer spannend.“
„Nee, lass man, ich krieg’s auch gar nicht mehr auf die Reihe.“
„Schade, hast du schon bestellt?“
„Was? Ach so, nee noch nicht. Ich glaube, ich sitze ein bisschen ungünstig. Wenn du die Kellnerin siehst, kannst du ja …“
„Klaro“, unterbrach sie.
‚Klaro’ hatte er aus ihrem Mund im Ohr aus Situationen, in denen sie immer sehr sicher gewirkt hatte, im Sinne von ‚wird erledigt’, oder, ‚wenn’s weiter nichts ist’.
Sie schien also wirklich wieder in Form zu sein, während er sich wie ein angeschlagener Boxer fühlte.
Kurz darauf gelang es Lisa die Kellnerin herbeizuwinken. Jochen bestellte eine Selters, Bratkartoffeln mit Sülze und „anschließend ein Kännchen Kaffee mit Milch und Zucker, extra stark, wenn’s geht..“
Die Kellnerin nahm die Bestellung mit einem Lächeln entgegen, in dem Jochen Verständnis einer erfahrenen Frau für die Schwierigkeiten ‚am Tag danach’ zu erkennen glaubte. Auch Lisas Gesichtsausdruck, mit dem sie seinen Wunsch nach extra starkem Kaffee begleitet hatte, entnahm er, dass sie seine Bestellung zumindest interessiert zur Kenntnis genommen hatte. Lisa gab einen Apfelsaft und einen ‚Schlösschen-Salat’ - garantiert vegetarisch - in Auftrag.
„Selters und Kaffee, keinen Alkohol heute?“, warf sie beiläufig hin.
„Vor Einbruch der Dunkelheit nie.“
„Was nie, vor Einbruch der Dunkelheit?“
„Alkohol.“
„Na, na, das kenne ich aber anders.“
„Nun gut, im Hochsommer vielleicht, wenn es ewig hell ist, aber sonst eigentlich nicht..“
Er brach ab und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Und nach Konferenzen natürlich, im Großbeerenkeller. Da kommt man ja gar nicht auf den Gedanken“, und während er weiter sagte, „dass es draußen hell sein könnte, selbst mitten am Tage nicht, bei dem schummrigen Licht da unten“, dachte er, welcher Teufel reitet mich eigentlich, dass ich Lisa, kaum dass sie neben mir sitzt, freiwillig das entscheidende Stichwort liefere, bei meinem augenblicklichen Formtief.
Er wartete nun mit zunehmender Nervosität auf Lisas Reaktion. Wie ein Schaf, das man ratzekahl scheren will, fühlte er sich. Er spürte Gänsehaut.
„Sag mal, frierst du bei dem Wetter?“
„Verstehe ich auch nicht, irgendwie ist mir kalt..“
„Iss erst mal was.“
„Das wird’s sein, Hunger, müde, Kreislauf auch ein bisschen runter.“
„Oder einen Cognac, auch wenn’s noch hell ist..“
Und jetzt kommt, dachte er, ‚und wir nicht im Großbeerenkeller...’, und dann würde alles seinen eigenen Lauf nehmen, in unbekanntes Terrain.
Nichts dergleichen passierte.
„Mal sehen, zum Kaffee vielleicht..“
Nach wie vor erwähnte sie den Großbeerenkeller nicht, aber auch mit anderen Themen taten sie sich schwer.
Wie eben im Büro, dachte Jochen.
„Lass mich mal ein bisschen dösen, bis das Essen kommt, als Mittagsschlafersatz sozusagen“, sagte er in Lisas Richtung und rutschte sich wieder in die Position, die er eingenommen hatte, bevor Lisa kam.
Ausgestreckte Beine, Kopf nach unten, Augen zu, nur die Hände ließ er nicht schlaff hängen wie vorher. Er legte sie auf die Knie.
„Mach mal, wenn’s dir hilft. Ich weck dich dann, falls du anfängst zu schnarchen.“
Sehr aufmerksam, dachte Jochen und war erleichtert, dass er - wenigstens bis zum Essen - von keinem Gespräch mehr bedroht wurde und bei dem Betrieb konnte das dauern, hoffentlich.
Er bekam dann schließlich im schönsten Halbschlaf sein Essen, war mit der Bemerkung der Kellnerin, dass er wohl sehr müde sei, einverstanden, rappelte sich auf, machte ein paar Wachwerdübungen mit Armen, Kopf und Schultern und verneinte Lisas Bemerkung, ob er vor dem Essen immer solche Verrenkungen mache.
„Irgendwie muss man doch wach werden.“
„Da kenn ich was Besseres“, lachte Lisa.
Nee, nee, darauf fall ich nicht rein, dachte Jochen, wenn ich mich auf das Thema einlasse, sind wir gleich mittendrin. Nicht schon beim Essen, ich habe mich schließlich auf fünf Uhr eingestellt und auch das nur mit Mühe.
Die Kellnerin brachte nun auch Lisas Salat und den Apfelsaft, was von ihren ‚besseren Wachwerdmethoden’ ablenkte.
„Sieht gut aus, dein Salat. Bist du eigentlich strenge Vegetarierin?“
Ha, es war geschafft. Das Thema gab was her. Das konnte man strecken. Außerdem passte es doch viel besser zu einem Mittagessen als irgendwelche Schlüpfrigkeiten mit Folgen, die möglicherweise außer Kontrolle gerieten.
Das war ein gefundenes Fressen für Lisa. Sie verbiss sich sozusagen in das Thema. Sofort legte sie Jochen ihre Einstellung zum vegetarischen Essen dar, unterrichtete ihn über die unterschiedlichen Formen des Vegetarismus, weitete auf ökologischen Anbau, artgerechte Tierhaltung, Basisdemokratie und Hunger in der Dritten Welt aus und wetterte gegen Luftverschmutzung, Smog, Klimaveränderung, Monokultur; selbst vor Kannibalismus schreckte sie nicht zurück. Ihre Ressourcen auf diesem Gebiet schienen unerschöpflich und ihr Überzeugungsdrang zeugte von leidenschaftlichem Engagement.
So versucht man Leute zu bekehren, dachte Jochen.
Jedem Einwand begegnete sie mit einer Fülle von Gegenargumenten; Zweifel ließ sie nicht gelten.
„Wirklich, du solltest es auch mal versuchen, es spricht alles dafür. Ich kenne auf jeden Fall kein überzeugendes Gegenargument“, missionierte sie weiter.
Wie auch, bei deinem wiedertäuferischen Eifer, dachte Jochen. Erst als er versicherte, dass er sich das zwar vorstellen könne, aber im Augenblick noch nicht so weit sei, unterließ sie weitere Bekehrungsversuche.