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Viertes Kapitel

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Jochen merkte, dass die Anspannung, die er nach Konferenzen oft spürte, langsam nachließ. Mit jedem Bier nahm das unangenehme Druckgefühl im Kopf, das sich mitunter bis zu leichten Schwindelanfällen steigerte, ab. Entspannt nahm er die Stimmen an seinem Tisch wahr, hörte, wie sich fachliches Nachgeplänkel langsam in Klatsch und Tratsch und Frotzeleien auflöste. Er begann sich wohl zu fühlen, obwohl er schon wieder in Rolfs Nähe saß, in der Kellerkneipe, in der sie sich immer für ihre Teilnahme an einer Konferenz mit Speis und vor allem Trank belohnten.

Die ersten Witze machten die Runde, wobei sich Rolf wie immer mächtig ins Zeug legte. Sein Reservoir schien unerschöpflich.

Erst jetzt bemerkte Jochen, dass Lisa ihm genau gegenüber saß, an einem anderen Tisch zwar und durch einen Gang getrennt, aber genau in seiner Blickrichtung. Hat sich ja schnell erholt, dachte er.

Sie unterhielt sich angeregt mit ihrer Nachbarin. Stimmengewirr rundherum, das immer wieder in Gelächter anschwoll, hinderte ihn daran herauszuhören, worüber sie sich unterhielten.

„Ganz toll - hätteste sehen müssen - proppenvoll - vielleicht mal zusammen - wirklich ganz toll - Kreuzberger Trampelpfad“ und ähnliche Gesprächsfetzen drangen zu ihm durch. Jochen gab es bald auf herauszukriegen, was so toll gewesen war. Trotzdem sah er weiter zu Lisa hinüber. Er nahm überrascht ihr intensives Lächeln wahr, das hin und wieder durch Blicke begleitet wurde, die so strahlend wirkten, dass ihm ‚Achtung Verletzungsgefahr’ durch den Kopf schoss. Er vergaß seine Blicke abzuwenden, schien vor sich hinzuträumen, als Lisa, die zufällig in seine Richtung sah, diesen Blick bemerkte. Sie wandte sich wieder ihrer Gesprächspartnerin zu, sah dann jedoch erneut zu Jochen hinüber, der weiter in ihre Richtung zu träumen schien, zog ihre Augenbrauen hoch, kräuselte die Stirn leicht, drehte sich wieder zu ihrer Nachbarin und setzte das Gespräch fort.

Nennt man das ‚Fisch an der Angel’ ohne Köder oder sonst irgend etwas zum Anbeißen? , dachte Jochen. Quatsch!

Er tauchte wieder in die Unterhaltung seiner Nachbarn am Tisch ein.

Trotzdem möchte ich’s gern wissen.

Er bemerkte, dass er sich kaum noch auf die Gespräche an seinem Tisch konzentrieren konnte. Also versuchen wir’s mal.

Und so, als ob er wieder vor sich hin träumte, sah er in Lisas Richtung, mit Erfolg. Irritiert suchte und mied sie im Sekundenwechsel seinen Blick, dann sah sie sich plötzlich eingeschleust und hielt stand.

Na prima, dachte Jochen und ließ seine Blicke wie ‚weltabgewandt’ mal über mal neben Lisas Kopf gleiten, und um die Irritation perfekt zu machen, holte er sich dann mit deutlich sichtbarem Kopfschütteln und tiefen Atembewegungen gleichsam wieder auf die Erde zurück, räusperte sich leicht, wandte sich demonstrativ wieder seinen Nachbarn zu. Diese variierten inzwischen mit Hingabe das Thema ‚Wusstest

du schon, dass’. Selbst Kolleginnen und Kollegen, die schon vor einer Weile zu erkennen gegeben hatten, dass sie heute Abend hier nicht alt werden würden, tauchten wieder voll ins Geschehen ein. Von irgendwoher hörte er „Fanselow dieser geile Bock“, während an seinem Tisch Kollegin Rita die Regie übernommen hatte.

„Ich habe sie doch selbst gesehen, eng umschlungen, im ‚Delirium’. Und die Küsse sahen auch nicht gerade nach Freundschaftsbussis aus. Ja wirklich, frag Hanne, die war mit. „ Stimmt’s nich Hanne?“ Und weiter sprudelte es aus Rita heraus: „Den Typ hättet ihr mal sehen sollen, geschniegelt und gestriegelt, hätte mich nicht gewundert, wenn der auch noch ne Krawatte umgehabt hätte.“

Jetzt geht die Phantasie mit ihr durch, dachte Jochen, Krawatte, Symbol des maroden Kapitalismus und des miefigen Spießertums, undenkbar bei einem Freund von Lisa.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die ganze Zeit von Lisa die Rede war.

Lisa also mit einem Freund im ‚Delirium’, und geschniegelt war er auch noch. Auf Deutsch, Lisa ist mit einem Macho liiert. Quatsch, wieso eigentlich liiert, wieso Macho?

Wahrscheinlich nur ein Freund auf Müslibasis, aus der Homoszene wahrscheinlich, von wegen gestriegelt. Von Freunden aus dieser Szene hatte er sie schon reden gehört. Außerdem hatte sie doch neulich auch von ihrer Beziehung zu einem ‚richtigen Handwerker’ erzählt. Voller Überzeugung hatte sie dargelegt, wie wichtig es sei, die Barrieren zwischen Arbeitern und Intellektuellen zu überwinden. „Nur so kann man die Grundlage dafür schaffen, dass man gemeinsam ein Bewusstsein entwickelt, das die Gesellschaftsstrukturen verändert. Zum Beispiel haben wir in unserem Stadtteilladen durch diese Strategie erreicht, …“

Wenn sie bei diesem Punkt angelangt war - sie erzählte bei jeder Gelegenheit von ‚ihrem Stadtteilladen am Chamissoplatz’ - ließ sie jedes Mal Anzeichen von Kampfeswillen und Hingabe erkennen. Ihre sonst eher bedächtige Art zu sprechen, ging dann sehr schnell in einen Wortschwall über, begleitet von eindringlichen Gesten. Ihre Augen bekamen einen erotischen Glanz, ihre Wangen färbten sich mit einer Röte, die man auch nach Liebesakten beobachten kann. Schließlich trieb ihr die Begeisterung, in die sie sich regelmäßig steigerte, Schweiß ins Gesicht, bis sie, vor Anstrengung schneller atmend, erschlafft abbrach, um sich lächelnd ihrem Engagement still hinzugeben, den Blick erwartungsfreudig auf ihre Zuhörer gerichtet.

Inzwischen äußerte sich Rolf besorgt über Jochens ungewohnt unbeteiligte Anwesenheit und riet ihm zu Höherprozentigem überzugehen, was er durch die Bestellung eines doppelten Korn unterstrich. „Det hilft immer.“

Jochen entschuldigte sich: die Konferenz, das endlose Gerede und dann noch Frau Doktor, das habe ihn geschlaucht, kurzfristig.

Kaum ausgesprochen ärgerte er sich über diese Rechtfertigung, ausgerechnet gegenüber Rolf. Außerdem machte ihn der eigentliche Grund für seinen vernebelten Schwebezustand nervös: Lisa.

So toll ist diese Frau nun wirklich nicht. Und ihr Umgang: Müslimanen, Handwerker, Schwule, das ist ihre Welt und sonst gar nichts!

Die Kellnerin brachte den Korn. Um ihr das mühsame Geschiebe durch die dicht stehenden und ausnahmslos besetzten Stühle zu ersparen, streckte er ihr den Arm zur Übernahme des Glases entgegen. Im gleichen Augenblick hörte er etwas auf den Tisch aufschlagen. Bier ergoss sich über die Tischplatte, lief in Richtung Tischrand. Rolf und andere von dem Bierlauf Bedrohte sprangen auf, um Hosen und Röcke zu schützen.

Jochen, der das Malheur bei dem Griff nach dem Korn verursacht hatte, schnellte ebenfalls hoch, wobei der halbe Korn aus dem Glas auf sein Hemd schwappte.

„Det schöne Bier, is nich dein Tag heute, wa?“, bemerkte Rolf, dessen anfänglicher Unmut beim Anblick von Jochens kornnassem Hemd in Heiterkeit umschlug.

Verpiss dich, dachte Jochen und bot an, ihm ein neues Bier zu besorgen, ein Tuch zum Abwischen würde er auch gleich mitbringen und er zwängte sich mit Gesten der Entschuldigung durch die engen Stuhlreihen zur Theke. Als er zurückkam, sah er in der Bierlache auf dem Tisch eine Fliege, die auf dem Rücken liegend angestrengt mit den Beinen strampelte, um wieder aus ihrer misslichen Lage herauszukommen. Sie strampelte und strampelte gegen ihr Schicksal an, ohne Erfolg. Biergetränkt schaffte sie die entscheidende Wende nicht.

Jochen gab Rolf das Glas mit frisch gezapftem Bier, saugte dann das Bier vom Tisch in den Lappen auf und wrang ihn in einen Eimer aus, den ihm die Kellnerin mitgegeben hatte. Eine kleine Pfütze mit der Fliege, die noch immer wie aufgezogen in gleichmäßigem Takt ihre Beine bewegte, ließ er liegen.

‚Mach die Fliege’ is wohl nich, dachte Jochen und wischte mit einer schellen Bewegung das letzte Bier und die Fliege vom Tisch in den Eimer.

Wieder zwängte er sich mit den Wischutensilien durch die eng stehenden Stühle, stellte den Eimer an der Theke ab und ging zurück zu seinem Tisch. Noch bevor sein Hinterteil die Sitzfläche seines Stuhles erreicht hatte, sah er wieder zu Lisa hinüber und traf direkt in ihren Blick, der - wie ihm schien - schon länger auf ihn gerichtet war. Sie wich nicht aus. Er vergaß sein in der Luft hängendes Hinterteil, erwiderte zum ersten Mal ihren Blick, vergaß sein Spiel ‚Ich gucke nur zufällig in deine Richtung’, sah, wie sie vorsichtig lächelte, lächelte - die Situation entschuldigend - zurück und setzte sich.

So war’s eigentlich nicht gemeint Frau Kollegin, dachte Jochen, Kommando zurück!

Und je mehr er sich vornahm, das Spiel nun abzubrechen, umso intensiver spürte er den Reiz weiterzumachen. Wieder richtete er seine Blicke in ihre Richtung, wieder trafen sie in ihre , wieder lächelten beide, wobei bei beiden merkwürdig gleichzeitig das Lächeln verschwand, die Blicke jedoch nicht voneinander wichen, fragend ernst wurden, um sich schließlich ohne Antwort voneinander zu lösen.

Die Unterhaltung um ihn herum wurde immer ausgelassener. Wohlfühlatmosphäre breitete sich aus. Nicht bei Jochen. Er nahm die lauten Stimmen, das Gelächter, die prostenden Zurufe als eher störend wahr.

Aus die Maus, dachte er, murmelte seinen Tischnachbarn eine Entschuldigung zu, erhob sich und ging zur Theke. Er merkte, dass er sich zwingen musste, nicht zu Lisa hinüberzusehen, bezahlte und verließ das Lokal.

Kathi schlief. An Konferenztagen wartete sie nicht auf ihren Mann. Nach Konferenzen wurde es immer spät; das war so und das war auch in Ordnung so, die paarmal im Jahr. Meistens merkte sie nicht mal, wenn Jochen ins Bett kroch, es sei denn, der Alkoholpegel ließ stolperfreies Balancieren und geräuscharmes Hantieren nicht mehr zu. Heute ging alles wie am Schnürchen. Zufrieden, dass er Kathi nicht geweckt hatte, schlief er ein. Die Probleme kamen erst jetzt.

Verwirrt schreckte er auf und sah Arme, hoch erhoben, die sich dann langsam wieder zur Bettdecke senkten. Seine Beine zuckten wie im Krampf. Er tastete an den Seiten seines Bauches, suchte die Stellen, an denen er im Traum Erhebungen gespürt hatte, die sich dann immer mehr ausgedehnt hatten. Er erinnerte sich an platzende Haut, durch die sich unaufhaltsam dünnes Gebein zwängte, das sich auseinander schob, Gelenke bildete, sich weiter dehnte und schließlich zwei Beine mit dicken Saugnäpfen ausbildete. Er spürte noch einmal, wie sich auch seine Arme und Beine zu knochigen Gliedmaßen gestreckt hatten, ohne Fleisch, von Leder überzogen, auch mit Saugnäpfen an den Enden. Er hatte auf dem Rücken gelegen und mit allen sechs Beinen in der Luft gestrampelt. Eine übermenschlich große Frau hatte sich über ihn gebeugt. Ihre Brüste berührten fast seine hoch stoßenden Beine. Er versuchte, ihre Brustwarzen mit seinen Saugnäpfen zu erreichen. Er hoffte, sich so fest an ihren Brüsten ansaugen zu können, dass sie ihn aus seiner Hilflosigkeit befreien würden, wenn sie ihren Oberkörper wieder aufrichtete mit ihm an ihrer Brust. Dann sah er ihren erhobenen Arm. Er sah ihre geöffnete Hand drohend über ihm. Er erstarrte in seinem Verlangen, sich an die Brüste zu saugen, richtete sich im Bett auf und sah, wie seine Arme auf die Bettdecke fielen. Erschöpft ließ er sich zurücksinken.

In dieser Nacht kam er lange nicht zur Ruhe. Er drehte sich von einer Seite auf die andere, zog und schob an der Bettdecke, auch für sein Kopfkissen fand er lange keine befriedigende Lage.

„Träumst du oder musst du schon aufstehen?“, murmelte Kathi zu ihm rüber und schlief dann weiter.

Flokati-Träume

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