Читать книгу Die Ruhrpotters - Band V - ,Der Schrott is hot' - Dietrich Bussen - Страница 3

1. Kapitel

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Für Jana fing eine neue Zeitrechnung an. Ab jetzt gab es eine Zeit vor dem Unfall und eine Zeit nach dem Unfall.

X-Jahre davor oder X-Tage danach. So in der Art funktionierte ihr Hirn, wenn sie an irgendwelche Ereignisse dachte. Wenn ihr die Kindergartenaktion einfiel, dann war das ein paar Tage nach dem Unfall.

Manchmal dachte sie, dass es ohne den Unfall alles Andere auch nicht gegeben hätte, oder wenigstens nicht so, wie es dann passierte. Ganz anders eben. Ohne den Scheiß-Unfall.

Weiß nur keiner. Kann man grübeln solange man will, sagte sie sich, wenn solche Gedanken wieder mal in ihrem Kopf kreisten.

Die nächsten Tage verliefen wie das Gegenteil von prickelnd. Langeweile machte sich breit. Mit Jana konnten sie nichts planen, und ohne sie wollte auch keiner. Nur Schlappohr schien sich pudelwohl zu fühlen. Jetzt, wo er nicht mehr gequält wurde, wo er ein kuscheliges Plätzchen am Bett von Oma Schmitz hatte, regelmäßig gestreichelt wurde, die Hausbewohner ihm sogar über alles Mögliche erzählten und ihm immer mal wieder die ein- oder andere Leckerei zusteckten. Für ihn war die ‚Hundewelt‘ wieder in Ordnung. Erst recht, wenn er im Pfarrhausgarten hinter Karnickeln und Mäusen herjagen konnte. Auch beim Gassi gehen gab es nur selten Probleme.

Wie der wieder kuckt, zum Herzerweichen, dachte Oma Schmitz oft, wenn er sich aus seinem Körbchen wieder mal auf ihr Bett geschlichen hatte, und sie so tat, als ob sie nichts bemerkt hätte. Und wenn er dann wohlig vor sich hin knurrte, dachte sie, jetzt fühlt er sich bestimmt so, wie im Hundehimmel, wie bei Anton sozusagen. «Das war nämlich dein Vorgänger», erklärte sie dem Gast an ihrem Fußende. Dann lächelte sie und schlief auch ein.

In den nächsten Tagen hielten sich die Mädchen meistens in ihrem Zimmer auf, außer bei ihrem täglichen Krankenhausbesuch. Edel begleitete Jana dann, wartete aber draußen. Darauf hatten sie sich geeinigt. Jana wollte im Krankenhaus mit ihren Eltern alleine sein. So hilflos, wie sie in ihren Betten lagen, mit den Schläuchen im Gesicht und an den Armen und den Apparaten überall, die blinkten und tickten und manchmal Töne von sich gaben, dass es einem durch alle Glieder fuhr, und man automatisch an Alarm und Notfall denken musste oder irgendwas Sciencefictionmäßiges. So etwas sollten andere nicht mitkriegen, auch nicht ihre Freunde. Damit wollte sie alleine fertig werden, solange es eben ging.

Am vierten Besuchstag war die Besuchszeit längst vorüber. Edel wunderte sich. So lange hatte sie noch nie auf Jana gewartet. Dann spürte sie ein komisches Ziehen im Bauch, dass ihr Angst und Bange wurde, und sie fürchtete, dass es ein schlechtes Zeichen sei, dass es so lange dauerte, dass es jetzt vielleicht passiert sei, dass sie Jana beruhigen müssten, vielleicht sogar mit einer Spritze, und dass sie deshalb nicht herauskäme, weil sie völlig fertig wäre. Sie überlegte, ins Krankenhaus zu gehen und irgendwie rauszukriegen, was dort vor sich ginge. An der Information vielleicht, dachte sie. Aber sie erinnerte sich, dass selbst ihr Vater damit keinen Erfolg gehabt hatte, als er wegen irgendwelcher Beerdigungsgeschichten irgendwas rauskriegen wollte. „Weil er kein Angehöriger sei“.

Dann ich erst recht nich … Ach du heiligs Bächle. Sie sah Jana in der Eingangstür.

Na endlich, dachte sie, und dann, ach du Scheiße, bitte nich, bitte, bitte, nich.

Sie sah, wie Jana sich Tränen aus dem Gesicht wischte, und dann zu den Bänken vor dem Krankenhaus hinüber sah, und dass sie sie endlich auf ihrer Bank entdeckte, ihr zuwinkte und auf sie zulief.

Und während Edel noch, hoffentlich pack ich das, dachte, umarmten sich beide und Jana sagte: «Sonst heul ich eigentlich nie, nichmal, wenn ne Feuernummer schiefgeht. Aber das Scheißwarten und das Durcheinander auf dem Flur und immer irgendwelche Weißkittel, die keine Zeit haben, und meine Eltern, das hat mich irgendwie umgehauen, tränenmäßig.»

Und trotzdem kann die noch lächeln. Is ja irre, dachte Edel. Oder, die is …, die is wirklich durchgedreht, absolut weg, woanders, nich mehr hier.

«Hör mal Jana …» Himmel Arsch, was sag ich denn jetzt? Tut mir leid, sieht‘s schlecht aus?, kannst dich auf uns verlassen, wir sind für dich da schwirrte ihr durch den Kopf. Komm wir setzen uns erstmal, fiel ihr auch noch ein. Auf keinen Fall was mit Tod, das auf keinen Fall, das geht gar nich. Mit dem setzen vielleicht, dachte sie, und dann kann man immer noch …

«Lass uns erstmal auf die Bank», unterbrach Jana Edels Gedanken, «ich bin ganz wackelig.»

Kein Wunder, dachte Edel und rutschte ganz nah an Janas Seite.

«Das Schlimmste war das Warten, echt, unheimlich beschissen. Bis endlich einer kam und», wieder schluchzte sie, «und nicht schon wieder sagte, da musste dich an die oder den wenden. Diesmal war’s der Arzt und der sagte» - wieder blieben ihr die Worte im Halse stecken - «der sagte, dass sie übern Berg wären, ich mir keine Sorgen mehr zu machen bräuchte, und sie würden meine Eltern in den nächsten Tagen aus dem Koma holen, zuerst Mama und dann…», und bevor sie Papa sagen konnte, heulten beide.

«Bescheuert oder?», sagte Jana schließlich. «Heulen hier rum, anstatt Freudentänze zu tanzen.»

«Oder ne Feuernummer, für umsonst, für die Belegschaft hier.» Jetzt hatte sich auch Edel wieder berappelt. «Wenn’s schief geht, hastes auf alle Fälle nich weit.» Sie grinste. «Und jetzt lad ich dich ein», schickte sie hinterher.

«Wohin, ich meine wozu?»

«Was hälste von Eis?»

«Absolut in Ordnung.»

«Na ja», Edel kramte in ihren Taschen, besah sich ihren Fund, zählte: «Drei Euro und ein paar zerquetschte. Fuck, bisschen knapp oder? Dachte, ich hätte …»

«Quatsch», unterbrach Jana, «für die Kantine reicht’s.»

«Hier im Krankenhaus? Nich im Ernst.»

«Wieso nich? Die sind klasse hier, wo die Mama und Papa wieder hinkriegen, nach dem Unfall. Und wenn’s nicht reicht, bargeldmäßig, sag ich, sie sollens mit auf die Rechnung schreiben von Mama und Papa, dafür dass sie mir son Schreck eingejagt haben. Alles klar?»

Und lächeln tut sie auch schon wieder, dachte Edel. Stark, echt stark.

Wieder im Pfarrhaus lagen sich alle, die Arme hatten, in den Armen. Schlappohr wedelte mit dem Schwanz.

Klotz, in Sachen Umarmung noch ungeübt, versuchte es mit Schulterklopfen. Erfolglos.

Nich mal schlecht, dachte er, als Edel, die bei der guten Nachricht zufällig neben ihm stand, ihn als ersten an sich drückte.

Kann man gelten lassen, sagte er sich. Nur bei Oma Schmitz mit ihrem Höckerchen auf dem Rücken. Greif ich drüber oder drunter oder sogar drauf?

- Da musste jetzt durch, hilft alles nix. -

Immer, wenn man’s so richtig nich braucht, funkt die einem dazwischen, diese Extraterroristische. Was soll’s, Oma wird’s schon machen. Bin sicher nich der erste, der da rumfummelt.

«Und zur Feier des Tages eine Grillparty im Garten, gleich morgen», schlug Herr Kantelberg vor. «Was meint ihr? Mit allem Drum und Dran. Lampions und Fackeln und Musik …» - aber bitte nich deine Gesänge, dachte Finn - «und was man sonst noch so macht bei sowas.»

Frau Kantelberg sah Jana, und sie dachte, hier könnte was richtig schief laufen, wenn mein lieber Mann so weiter macht. Sie fragte Jana, was sie davon hielte.

Das fände sie ganz toll, sagte Jana.

Donnerwetter, dachte Frau Kantelberg.

So siehste aber nich aus, wenigstens nich im Gesicht, dachte Finn.

Aber sie fänd es besser, damit noch ein paar Tage zu warten, bis ihre Eltern aus dem Koma seien, und man ganz sicher sein könnte, dass alles gut sei. Dann fände sie das wirklich ganz toll.

Gleich muss die wieder heulen, so wie die kuckt, dachte Edel und sagte: «Komm, wir gehen erstmal nach oben.» Vorsichtshalber schob sie ihr noch ein Taschentuch in die Hand.

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