Читать книгу PRIM - Dietrich Enss - Страница 6
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ОглавлениеBeim Einscheren auf die Interstate 95 in Providence verstärkte sich der Regen noch einmal. Die Scheibenwischer wechselten in die höchste Stufe und flatterten über die Windschutzscheibe wie erschreckte Vögel. Nun wurde es auch schnell dunkel. Robert Talburn fluchte leise vor sich hin angesichts der Zeit, die er wegen diverser, offenbar mit den heftigen Regengüssen und mit der Brückensperrung zusammenhängenden Staus allein für die siebenunddreißig Meilen von Newport Harbor bis hierher gebraucht hatte. Es kam sicherlich nicht oft vor, dass die Polizei von Rhode Island die Newport Bridge sperren musste. Aber ausgerechnet jetzt, wo er zügig nach Manhattan zurückfahren wollte, schien sich alles gegen ihn zu verschwören, und er musste diesen fast siebzig Meilen langen Umweg nehmen. Er erhöhte die Lautstärke des Radios, dann ließ er die Automatik über die ganze Bandbreite nach einer Station suchen, der man zuhören konnte. Vergeblich. Er machte das Radio aus. Ohnehin war er immer wieder mit allen Gedanken bei den Ereignissen des Tages, und er dachte darüber nach, was er nun tun sollte.
War es ein Fehler, sie so bald wiedersehen zu wollen, wo er seine Zeit und Konzentration eigentlich für andere Dinge benötigte? Hätte er doch lieber erst versuchen sollen, sie telefonisch zu erreichen? Der einzige konkrete Hinweis auf eine Verbindung war der Newport Yacht Club und ihr Boot MILKY WAY. Hätte er nicht besser einen Rückzieher machen sollen, als die Fremde sich so überraschend als Ann-Louise Norwood ausgab? Es war nicht mehr zu ändern, deshalb wollte er sich hierüber keine Rechenschaft geben. Er konnte sie einfach nicht vergessen. Aber wer war sie wirklich? Warum war sie unter falschem Namen, dem Namen dieser anderen Frau, bei TODAY aufgetaucht? Und wo sollte er sie jetzt suchen?
Er überholte einen Sattelschlepper mit einem riesigen Trailer. Sein Wagen verschwand für kurze Zeit unter einem Wasserfall. Hinter einem großen Lastwagen mit auffälligen Rücklichtern, rubinrot statt des üblichen rot-orange, drosselte er seine Geschwindigkeit und hielt einen Abstand, der hoffentlich niemanden zum Einscheren ermuntern würde. So ließ es sich leichter nachdenken. Wo hatte er, ausgerechnet er, die Übersicht verloren?
Er war gegen ihr Praktikum bei DATA TODAY. Praktikum! Diesen Begriff konnte auch nur der alte Ferrentil wählen. Im Zweifelsfall waren alle in der Redaktion im Vergleich zu ihr Praktikanten. Er rief sich die Anfänge in Erinnerung.
* * *
»Bob, du sollst zum Chef kommen. Jetzt gleich.«
Talburn hatte gewartet, denn normalerweise stellte sein Vertreter Ronald Limpes seine Äußerungen gleich darauf wieder in Frage. Aber diesmal nickte er nur bekräftigend und deutete mit dem Zeigefinger nach oben.
Die Büros von TODAY erstreckten sich über die oberen drei Stockwerke des viergeschossigen William Alexander Bligh Gebäudes in der West 69. Straße an Manhattens teurer Westside. Viel Verkehr gab es nicht zwischen den Stockwerken. Die Redaktion, in der der größte Teil der Belegschaft arbeitete und wohin die meisten Besucher kamen, lag im dritten Stockwerk. Darüber residierte die Geschäftsleitung in großzügig ausgestatteten Räumen. Im Konferenzraum fanden dreißig Teilnehmer Platz. Und der Chef und Herausgeber von TODAY, Wayne P. Ferrentil, hatte sich dort oben eine seiner drei oder vier Wohnungen eingerichtet. Unter der Redaktion befanden sich das Großraumbüro von DATA TODAY und die letzten Überreste des Zeitungsarchivs, die noch in Papierform aufbewahrt wurden. Und darunter, im Hochparterre hinter dem Hauseingang, lag das Rechenzentrum mit den Datenbanken, um die TODAY von Zeitungen im ganzen Land beneidet wurde, wenn nicht sogar in der ganzen Welt. Der höchst profitable Datenservice sollte vor einigen Jahren in die eigenständige Firma Data Today Inc. umgewandelt werden, aber die Eigentümer von TODAY überlegten es sich anders. So zerschellten auch Robert Talburns Träume, in denen er sich bereits als Geschäftsführer mit Erfolgsbeteiligung sah. Immerhin beförderte man ihn vom Abteilungsleiter zum Direktor. Zu einem der fünf Direktoren von TODAY und verantwortlich für die Sektion DATA TODAY.
Wie alle anderen in der Firma benutzte er nie die Treppen im Haus. Sie waren kahl, schlecht beleuchtet und voller Fluchtwegschilder und Hinweise für den Katastrophenfall. Eine junge Redakteurin hatte einmal gesagt, sie wagte es nicht, die Treppe zu nehmen, weil da dann jeden Moment das Sirenengeheul ausgelöst werden könnte. Die beiden Personenfahrstühle im Haus bedienten unterschiedliche Bereiche, und um in den vierten Stock zu gelangen, konnte er nicht den benutzen, mit dem er morgens vom Eingang aus zur Redaktion hochfuhr. Er trat in die Kabine und drückte den obersten Knopf neben dem blankgeputzten Schild mit der Aufschrift Management. Er wurde bereits von der Empfangssekretärin Emily erwartet, die ihm die Fahrstuhltür öffnete. Sie tauschten einen kurzen Gruß, dann begleitete Emily ihn in das Vorzimmer von Wayne Ferrentil.
»Hi, Theresa!«, begrüßte Bob Ferrentils Sekretärin. Sie blieb sitzen und musterte ihn mit missbilligenden Blicken über den Rand ihrer Lesebrille hinweg.
»Guten Morgen Mister Robert Talburn. Ich dachte, Sie könnten sich nun langsam einmal gute Kleidung leisten. Gehen Sie hinein, er erwartet Sie!«
»Was gefällt Ihnen nicht an meinen Klamotten?« fragte Bob lachend und öffnete die Tür zu Ferrentils Büro.
»Sie sehen immer noch aus wie ein mittelloser Computerfreak.«
»Ich bin einer«, rief Bob ihr zu.
Wayne Ferrentil hatte den letzten Teil des kurzen Wortwechsels gehört und lachte still vor sich hin. Er streckte Bob seine Hand hin und zeigte dann auf den mit Leder bezogenen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Wie ein Leitender Manager sehen Sie wirklich nicht aus, Bob. So würde man Sie nicht in meinen Golfclub lassen. In andere sicher auch nicht. Vielleicht als Gärtner.«
Bob sagte nichts. Er wusste um seinen Wert für TODAY, und dass Kleidung dabei keine Rolle spielte. »Vielleicht ändern Sie Ihre Ansicht ja bald, Bob, denn Sie bekommen weibliche Gesellschaft.« Bob sagte immer noch nichts und schaute seinen Chef nur fragend an.
»Ich erhielt gestern Abend einen Anruf von meinem alten Freund Jon. Jonathan M. Berkner. Sagt Ihnen der Name etwas?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann schauen Sie mal in der Katakombe nach. Jon ist sozusagen ein Mitbegründer unserer Zeitung. Blieb aber immer im Hintergrund. Er möchte, dass wir für eine Weile eine junge Dame in unserer Datenbankabteilung mitarbeiten lassen. Sie ist Wissenschaftlerin in einem Universitätsinstitut, Spezialistin in ihrem Gebiet, und arbeitet an irgendeiner wichtigen Forschungssache. Sie heißt Ann-Louise Norwood.«
»Wie lang ist eine Weile? Welche Universität, welches Gebiet, welche Forschungssache?«, fragte Bob trocken.
Ferrentil spürte die Ablehnung seines Vorschlags in Bobs Stimme. Er ließ sich Zeit, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben. »MIT oder Harvard, jedenfalls eine in Boston. Die Zeit bestimmt sie selbst. Das andere werden Sie sie fragen müssen. Sie kommt morgen früh. Ich glaube das ist alles.«
Für Bob war die Unterredung noch lange nicht beendet. »Wayne, ich möchte Sie an Paragraf neun erinnern. Die Datenbanken und alle Zugangssysteme stehen nur einer sehr beschränkten Anzahl von Mitarbeitern offen. Und das hat sehr gute Gründe, wie Sie wissen. Ihre Forscherin gehört nicht dazu. Sie sollte sich andere Datenbanken suchen.«
Ferrentil stand auf und ging hinüber zu einem niedrigen Tisch mit vier Sesseln vor einer antiken Vitrine. Bob befürchtete, dass Ferrentil ihm zum tausendsten Mal dieses Erbstück im Chippendale-Stil aus dem 18. Jahrhundert erläutern würde, mit Hinweisen auf das massive Kirschbaumholz, auf die exzellente Tischlerarbeit, die man auch an den geschnitzten Zierzöpfen an Türen und Schiebladen im unteren Bereich der Vitrine bewundern konnte, und vor allem mit umfassenden Hinweisen auf seine alteingesessene Familie. Aber diesmal öffnete er wortlos die rechte, verglaste Seitentür des Schranks und holte zwei Gläser und eine Flasche heraus. »Sie schätzen einen Schluck guten Malt Whiskys, Bob. Kommen Sie, setzen Sie sich!«
Talburn mochte keinen Whisky und hatte in seinem Leben nur bei den zwei oder drei Malen zugestimmt, bei denen er sich von Ferrentil dazu genötigt sah. Ronald Limpes hatte ihn bei Betriebsfesten mit ausladenden Erklärungen über das Destillieren und Lagern und über die vielen Geschmacksrichtungen vergeblich zum Whiskytrinken zu überreden versucht. Wie bei so vielen Themen gab Limpes sich auch beim Whisky als herausragender, alleswissender Sachkenner, aber Talburn fiel natürlich nicht darauf herein.
Beide Männer nippten schweigend an ihren Gläsern. »Bob, Sie haben nicht richtig verstanden. Wir können Jon Berkners Wunsch nicht ausschlagen. Er besitzt dreißig Prozent der Firma. Als stiller Gesellschafter, deshalb sitzt er nicht im Aufsichtsrat. Kein Wunder also, dass Sie ihn nicht kennen. Aber was Jon sagt, wird bei TODAY gemacht.«
Ferrentil hob die Hand, als Bob ihn unterbrechen wollte. »Ich weiß, dass Sie niemanden in die Krypta hinein lassen. Außer Ihnen und Ronald Limpes kennt doch sowieso niemand die Zugangscodes. Gut, ich habe eine Kopie im Panzerschrank, falls Sie beide verunglücken sollten. Aber ich habe sie noch nie benutzt, weiß nicht einmal wie. Natürlich lassen wir erst recht keine Fremden wie diese Norwood an die Kryptadaten heran, oder überhaupt nur entfernt an die Krypta. Aber die Katakombe, die können Sie doch für die Dame öffnen. Sie weiß ja nichts über die Existenz der Krypta, und sie interessiert sich wahrscheinlich ohnehin weniger für die Daten und deren Herkunft als für unsere Verfahren der Datenverwaltung.«
»Ich habe trotzdem Bedenken. Wir geben grundsätzlich keine Auskunft über die Organisation unserer Programme und Datenbanken Katakombe und Krypta. Kein Außenstehender soll wissen, dass wir sensitive Daten gar nicht im Haus speichern sondern extern im Netz, in der Wolke. Und zwar einschließlich der zugehörigen Programme. Bei der Direktoriumssitzung am Dienstag werde ich das zu Protokoll geben. Wir verzeichnen jede Woche mindestens zehn ernst zu nehmende Angriffe über das Internet. Außerdem interessieren sich diverse Dienste und die Datenschutzbehörden für uns. Da wollen wir es nicht noch mit zusätzlichen Gefahren zu tun bekommen. Wer weiß was diese Frau wirklich will?«
»Mann! Sie ist die Tochter eines Freundes von Jonathan Berkner! Das ist ein Triple-A Rating. Seien Sie freundlich zu ihr, sonst kann es großen Ärger geben!«
»Sie wird trotzdem unsere Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen«, sagte Bob und erhob sich. Er ging zur Tür, ohne sich von Ferrentil zu verabschieden.
»Natürlich, natürlich«, brummte der. »Sturer Bock!«
* * *
Er wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, als er bemerkte, dass er dem Lastwagen auf eine Ausfädelungsspur gefolgt war. War es die Ausfahrt auf eine andere Straße oder handelte es sich um eine Raststätte? Vielleicht hätte er das nervige Navi doch nicht abstellen sollen. Dann sah er die erleuchteten Schilder einer Tankstelle und die Symbole für Hamburger und anderes Fast Food. Er steckte so tief in Gedanken, dass er nicht einfach weiterfahren mochte. Er folgte dem Lastwagen und bog dann auf einen PKW-Parkplatz ein. Zu dem grell erleuchteten Restaurant waren es von dort nur wenige Schritte, aber er musste trotzdem rennen, um nicht zu nass zu werden.
In einer Ecke scharten sich Gäste um einen Fernseher. Ein Baseballspiel der Major League wurde übertragen. Deshalb gab es keine aufdringliche Musik, die eigentlich zur festen Einrichtung in diesen Etablissements gehörte. Talburn war froh darüber. Er fand einen freien Tisch in der gegenüber liegenden Ecke. Er unterbrach die Kellnerin, gleich nachdem sie ihren Namen genannt und begonnen hatte, die Speisekarte herunterzuleiern. »Ich nehme Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und Salat, Sue. Italienisch«, fügte er schnell hinzu, als sie anfangen wollte, die Dressings aufzuzählen. Sue schenkte ihm Kaffee ein. Sie sah ihn dabei so an, als ob sie erkannt hätte, dass er Probleme hatte, und als ob sie ihn trösten könnte. Talburn fragte sich, ob die Kellnerinnen die Kaffeekannen jemals aus der Hand ließen. Dann kehrten seine Gedanken zurück zu Ann-Louise Norwood. Zu der Ann-Louise, die er nicht vergessen konnte, die aber offensichtlich einen ganz anderen Namen hatte.
Am Tag nach dem Gespräch mit seinem Chef war sie aufgekreuzt. Typisch für Wayne Ferrentil, dass er sie eingestellt hatte, ohne den Personalchef, den Chefredakteur und vor allem ohne ihn selbst zu fragen, auch wenn es nur für eine von ihr selbst bestimmbare, zweifellos kurze Zeit war. Er brauchte sicherlich nicht bei allen Entscheidungen gehört zu werden, jedenfalls nicht aus Sicht des Herausgebers oder der Eigentümer, aber schließlich sollte sie in seiner Abteilung arbeiten. Da hätte er eigentlich früher ein paar Informationen erhalten müssen.
Sie hatte eine der Programmiererinnen nach ihm gefragt und war dann zielstrebig auf seinen Glaskasten zugelaufen. Verdammt, wo ist Ron, hatte er gedacht. Trotz des Betriebs im Restaurant fiel es ihm leicht, sich in die damalige Situation zu versetzen und die Ereignisse zu rekapitulieren.
Er hatte sie kommen gesehen. Ihr Aussehen und ihren Gang würde er nicht so schnell vergessen. Sie war hereingekommen, hatte sich vorgestellt und gesagt, dass er ja vom Herausgeber, Mr. Ferrentil, über ihr Kommen unterrichtet wäre, bevor er auch nur hatte »hallo« sagen können. Das hätte er allerdings ohnehin nur mit Verzögerung getan, denn Ann-Louise Norwood war eine der Frauen, deren Anblick Männer erst einmal sprachlos machte.
Er erinnerte sich an diesen unbehaglichen Moment. Er sah nur ihr Gesicht. Die elegante Kleidung nahm er erst viel später wahr. Das Alter war schwer zu bestimmen, irgendwo zwischen sechsundzwanzig und dreiunddreißig. Augen wie grauer Granit, groß, unendlich fest. Klare, helle Gesichtszüge. Dezentes Make-up, Zähne wie bei den Zahnarztfrauen in der Fernsehreklame. Blonde Haare in perfekter Unordnung. Und immer wieder diese Augen, die einen festhielten und nicht erlaubten, woandershin zu sehen.
Erst am Abend war ihm bewusst geworden, dass er bei der Begegnung mit Ann-Louise Norwood zum ersten Mal nicht sofort an die Frau hatte denken müssen, die er geliebt und verloren hatte. Er hatte keine neue Beziehung eingehen können, obwohl sich immer wieder Gelegenheiten dafür boten. Auch ohne Näheres über ihn zu wissen, fanden die Frauen ihn offenbar attraktiv und begehrenswert. Beim Joggen im Park liefen sie neben ihm her und versuchten, ihn in Gespräche zu verwickeln. Und im Fitness-Studio sollte er sie unbedingt bei ihren Übungen anleiten und unterstützen.
Die Selbstanalyse beunruhigte ihn und ließ ihn lange nicht einschlafen. Er konnte seine Gedanken nicht ordnen. Aber ihm war klar, dass dies Anzeichen für eine Veränderung waren. Er würde sich nicht länger gegen eine neue Bindung stemmen, nicht länger das Gefühl haben, sich wehren und schützen zu müssen.
Ann-Louise brauchte die Praxis bei TODAY für ihre Promotion, hatte sie behauptet. Dabei ging es um die Organisation von Datenbanken, besonders um die automatische Anbindung an fremde Systeme und Netzwerke über das Internet zum Zweck der Aktualisierung der Datenbestände.
Er wies ihr den Arbeitsplatz mit Terminal und Netzzugang von Sarah Winter zu, die gerade im Urlaub war. Sie würde den Platz öfter wechseln müssen, hatte er ihr gesagt, wenn sie länger bleiben wollte. Die Frage, die er mit dieser beiläufigen Bemerkung anklingen ließ, ignorierte sie. Er bat Ronald Limpes, Ann-Louise unter die Fittiche zu nehmen. Ron war der einzige außer ihm selbst, der Zugang zu allen Programmen und Verfahren hatte, und der genau wusste, wann er zu starken Forschungsdrang bei Ann-Louise zu stoppen hatte. Ein wenig hatte er gefürchtet, dass Ron sie derart vollquatschen würde, dabei sich ständig selbst widersprechend, dass sie bald die Lust an ihrem Praktikum verlieren könnte.
Ron leistete keinerlei Widerstand. Das war ungewöhnlich und musste ebenfalls mit der Wirkung zusammenhängen, die Ann-Louise auf Männer ausübte. Schnell zeigte sich, dass sie außerordentlich kompetent war. Die Arbeitsleistung von Sarah erfüllte sie sozusagen nebenher, obwohl Ron ihr gesagt hatte, dass dazu natürlich keinerlei Verpflichtung bestand. Sie analysierte die Sicherheitsvorkehrungen gegen schädliche Software und Eindringlinge und machte Ron derart detaillierte Vorschläge für Verbesserungen, dass er ihr schon bald Zugang zu den Programmcodes für die Katakombe gewährte.
Er hatte Ron deshalb zur Rede gestellt. Ron trug neuerdings richtige und vor allem auch saubere Halbschuhe, und Hemden statt T-Shirts mit vermeintlich witzigen Aufdrucken.
»Du hast sie an die Quellcodes gelassen? Bist du verrückt?«
»Nur für die Katakombe und die A-Daten im Rechenzentrum. Sie ist enorm hilfreich und effektiv. Fast genial, nicht wahr. Es ist so, als ob sie unsere Programmierungen bereits kennt, allein durch das Ausführen der Programme.«
»Will sie etwas lernen oder will sie uns etwas beibringen, Ron? Vielleicht sind ja auch unsere Kryptaprogramme verbesserungsfähig.«
»Keine Sorge, Bob! Von der Krypta hat sie keine Ahnung, woher denn auch. Und selbst wenn sie etwas ahnen würde, würde sie die B- und C-Daten und -programme ebenso auf unseren Servern vermuten und nicht ausgelagert in der Wolke, nicht wahr. Das bleibt selbstverständlich auch so. Sie hat mir gezeigt, wie man an einer Morrisson-Sperre vorbeikommt.«
Hier hatte er fast die Fassung verloren. Erst hat sie angeblich keine Ahnung, und dann kommt sie selbst auf eine Morrison-Sperre zu sprechen? Die Sperre wurde eingesetzt, um bestimmte Bereiche in Datenbanken abzutrennen und nur für registrierte und durch Passwörter privilegierte Nutzer zugänglich zu machen. DATA TODAY verwendete eine Variante dieser Sperre. Es war - unter Eingeweihten - eine recht wirkungsvolle Sperre, aber er selbst hatte als Hacker eine ihrer Vorgängerversionen schon zu Studentenzeiten geknackt.
»Was hast du da zu ihr gesagt?«
»Warte mal! Sie hat nicht nur gezeigt, wie man an der Sperre vorbeikommt, sie hat auch gleich vorgemacht, wie der Einbruch unsichtbar gemacht wird, selbst nachdem Daten abgegriffen worden waren.«
»Was hast du gesagt?«
»Dass wir uns an Gesetze halten müssen, nicht wahr, und illegale Methoden nicht dulden.«
Die Kellnerin Sue brachte das Essen auf einem Tablett. Sie merkte, dass er in Gedanken verloren war und verfiel auf Zeichensprache, um ihn so wenig wie möglich zu stören. Kaum hatte sie das Tablett abgestellt, zeigte sie mit der freien Hand auf die Kaffeekanne in der anderen Hand. Talburn ließ sich Kaffee nachschenken. Das Baseballspiel kam offensichtlich in die heiße Schlussphase, jedenfalls war der Geräuschpegel angestiegen. Er nahm es nur unterschwellig wahr, und während er zu essen begann, sah er Ann-Louise und sich wieder im Büro.
Er hatte Ronald Limpes instruiert, dass Ann-Louise Norwood ihn nicht stören durfte. Er sollte sie unbedingt vom Glaskasten fernhalten und selbst mit ihr klar kommen. Es waren irrationale Anordnungen aus seiner damaligen Gefühlsverwirrung heraus, wie er sich jetzt eingestehen musste, denn gleichzeitig war sein Interesse an ihr gewachsen, jedenfalls schaute er häufig ins Büro hinaus und suchte sie an Sarahs Platz. Er registrierte ihre Kleidung und ihren spärlichen Schmuck. Sie benutzte kaum Make-up. Er beobachtete, dass Ron TODAY zusammen mit ihr zum Lunch verließ. Wenn sie ging, bewegte sie sich wie eine Sportlerin, federnd und elastisch, und ihre Haare wippten im Takt mit ihren Schritten. Das alles war aber sofort nebensächlich, wenn man ihr ins Gesicht sah. Es war wirklich unmöglich, ihrem Blick auszuweichen. Sie war es bestimmt gewohnt, dass man ihr nachschaute und dass Männer ihr nachstellten. Sie musste auch bemerkt haben, dass er aus seinem Kasten immer wieder zu ihr hinüberblickte. Aber sie interessierte sich offensichtlich überhaupt nicht für ihn.
Schon am zweiten Tag hatte er - was lag näher - die TODAY Basissuche gestartet und ihren Namen eingegeben. In der Katakombe hatte er gar nicht erst nach ihr gesehen, denn sie war weder berühmt noch reich oder alt genug, um hier bereits erfasst zu sein. Die Suchergebnisse wurden vom Programm automatisch sortiert. Allzu viel Neues oder Interessantes erfuhr er hier nicht. Oberschule, College, Sigma Kappa, Universität, Segelabteilung des Universitätssportvereins, alles am MIT in Cambridge, Boston. Über die Schulzeiten konnte er ihr Alter eingrenzen: dreißig oder einunddreißig Jahre. Sie hatte ein paar wissenschaftliche Arbeiten über Themen aus der Informationstechnologie verfasst. Sie besaß eine 42-Fuß-Segelyacht, offenbar in Newport, und hatte vor zwei Jahren als Skipperin mit der MILKY WAY in ihrer Klasse die Bermuda-Hochseeregatta gewonnen und mit ihrer Mannschaft vier Pokale abgeräumt. Großes Foto mit großer Sonnenbrille. Danach war ihre natürliche Haarfarbe braun, eine seltene Farbe in Kombination mit ihren grauen Augen. Die wenigen anderen Fotos waren sehr klein, wie im Internet üblich. Auf zwei der Jahresfotos auf der Internetseite von Sigma Kappa konnte er sie identifizieren. Auch hier brünett. Ihr Vater, Alexander Kenneth Norwood, hatte über zweihundert Referenzeinträge. Er fand ihn auch prompt in der Katakombe. Sehr reich, sehr einflussreich, großes Haus nahe Newport, Rhode Island. Geschieden. Hinweise auf die einzige Tochter, aber nur zwei auch mit dem Namen Ann-Louise. Er hatte überlegt, den Alten mit Krypta weiter zu durchleuchten, aber dann davon Abstand genommen. Schließlich hatte Vater Norwood ja offensichtlich nichts mit der Ann-Louise zu tun, die er suchte.
Er fand weder eine Anschrift von Ann-Louise noch eine gültige Mailadresse. Auch keine Mobilfonnummer. In der Vertraulichkeitserklärung, die sie mit großer, flüssiger, aber dennoch fast unleserlicher Schrift unterschrieben hatte, hatte sie die Adresse einer Tante in der Bronx angegeben, wo sie untergekommen war, dazu deren Telefonnummer. Besonders attraktive Mädchen und Frauen verfügten nach seiner Einschätzung entweder über eine außergewöhnlich hohe oder eine absichtlich extrem eingeschränkte Präsenz im Internet. Ann-Louise Norwood gehörte zu letzteren. Später, nach dem abrupten Ende ihrer kurzen Beziehung, hatte er herausgefunden, dass sie auch in keinem der geschwätzigen Blogs, in keinem der Social Networks und in keiner Tauschbörse registriert war, und dass sie bei den wenigen Internetkaufhäusern, in deren Kundendateien er mit Hilfe einiger spezieller Hackertricks ihren Namen fand, ein Konto bei der Bank of America und als Adresse das Haus ihres Vaters in Newport angegeben hatte. Zu dem Zeitpunkt glaubte er, dass die Adresse der Tante in der Bronx reine Erfindung war. Aber es gab sie tatsächlich, wie er herausgefunden hatte, diese Mrs. Ohanian. Nur hatte sie keine Nichte, die Ann-Louise hieß.
Er hatte seine ursprünglich ablehnende Haltung gegen ihre Anwesenheit schnell aufgegeben. Sie hatte immer gute Gründe, zu ihm in den Glaskasten zu kommen. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie wartete, bis Ron das Büro verließ oder zumindest nicht an seinem Platz saß. So konnte sie die Aufforderung umgehen, bei Fragen oder Problemen erst Ron anzusprechen. Anfangs hatte er sie um telefonische Anmeldung gebeten, dann schnell darauf verzichtet. Meistens sah er sie kommen und machte ihr die Tür auf. In den anderen Fällen klopfte sie gegen die Scheibe. Sie setzten sich dann an den kleinen Besuchertisch, und wenn zur Beantwortung ihrer Fragen der Computer benötigt wurde, gingen sie an ihren Arbeitsplatz.
Bei diesen Unterhaltungen erfuhr er bald, wie weit sie in die Materie der Netzwerke und IT-Sicherheit eingedrungen war. Sie machte keinen Hehl aus ihren illegalen Aktivitäten in ihrer Jugend, wie sie sagte. Er ließ nicht erkennen, wie genau er die Methoden kannte, die sie beschrieb. Obwohl er ihr erklärt hatte, dass sie sich bei TODAY an die ethischen Grundsätze der Firma zu halten hätte, ließ er sich zeigen, wie sie verschiedene Sicherheitssperren umging und an die Kundendaten vom Kaufhaus Macy’s gelangte.
»Bei uns wären Sie nicht so weit gekommen, Ann-Louise«, hatte er gesagt.
»Vielleicht«, hatte sie erwidert und ihn sekundenlang angeblickt. »Aber ich habe schon gesehen, wie die Sperren bei TODAY verbessert werden könnten.«
Hin und wieder kam sie auf intensivere Recherchen zu sprechen. Ob TODAY sich da etwas von ihr zeigen lassen wollte. Er hatte immer vorsichtig abgelehnt, nicht direkt, weil das aufgefallen wäre, sondern durch Ablenkung. Wirklich exklusive Informationen erhielten sie von Informanten, hatte er ihr erklärt.
Er hätte sie gern allein zum Mittagessen eingeladen, scheute aber davor zurück, weil es sofort Gerüchte im Büro erzeugt hätte. Ein Vorgesetzter geht nicht nach kürzester Zeit mit der Praktikantin allein aus dem Haus. Ronald Limpes hatte offenbar weniger Bedenken, und er fand es überhaupt nicht gut, dass sie ohne erkennbares Zögern die Mittagspause draußen mit ihm verbrachte. Aber er konnte es bald darauf unauffällig so einfädeln, dass sie zu dritt zum Essen gingen. Trotz Rons und seiner geschickten Fragen berichtete sie nicht viel über sich. Sie bestand darauf, selbst zu zahlen. Sie war die Tochter eines reichen Mannes, wusste er. Und wohl gleichzeitig sehr bescheiden, denn die kleinen Steine an ihrem Ring waren nicht echt. Als er einmal beiläufig das Segeln erwähnte, blickte sie schnell zu ihm herüber.
»Segelst du?«, hatte er sie daraufhin gefragt und versucht, die Frage ganz ahnungslos klingen zu lassen.
»Ja, aber ich habe kaum noch Zeit dafür. Und ihr?«
Er war auf diese Gegenfrage vorbereitet gewesen, er hatte sie ja geradezu provoziert. Und es war ihm klar, dass er mit seinen geringen Segelkenntnissen bei ihr nicht punkten konnte. »Nein, ich habe keinen blassen Schimmer davon«, hatte er deshalb geantwortet, während Ron nur den Kopf geschüttelt hatte.
Ihre bis dahin eher unbefangene Beziehung erfuhr dann eine plötzliche Änderung. Es war wieder ein heißer Tag, wie schon seit einiger Zeit. Bei TODAY, zumindest im Stockwerk von DATA TODAY, wurde die Klimaanlage in Abhängigkeit von den Außentemperaturen so gesteuert, dass keine großen Temperaturunterschiede auftraten. Deshalb war es auch im Büro ziemlich warm. Alle liefen in luftigen Sommeroutfits herum. Ann-Louise trug ein ärmelloses, blaues Kleid aus einem weichen, anschmiegsamen Stoff. Sie sah umwerfend darin aus, besonders wenn sie sich bewegte. Er hatte immer wieder zu ihr hinüber gesehen. Irgendetwas an ihr war anders, aber er konnte nicht sagen, was es war.
Als er wieder hinausgesehen hatte, hatte sie sich stehend über ihren Arbeitstisch gebeugt. In diesem Moment hatte es ihn wie bei einem Stromschlag durchzuckt. Sie trug keine Unterwäsche. Das Kleid lag völlig glatt auf ihrer Haut. Als sie sich aufrichtete und umdrehte, sah er, wie sich ihre Brüste deutlich abzeichneten, beinahe wie bei einer Bemalung mit blauer Körperfarbe.
Fasziniert hatte er sie unauffällig weiter beobachtet. Bis sie schließlich zu erkennen gegeben hatte, dass sie seine Blicke durchaus bemerkt hatte, indem sie ihn nun unbeirrt angesehen hatte und auf den Glaskasten zugekommen war. Er war aufgestanden, um ihr die Tür zu öffnen, und hatte sich dann erschrocken sofort wieder hingesetzt. Er hatte wegen der Wärme weite Hosen aus dünnem Stoff angezogen.
Sie war hereingekommen. Er hatte sie hastig begrüßte und so getan, als wenn er vergessen hätte, ihr einen Stuhl anzubieten. Sie wollte näher kommen, aber sie durfte seine Bildschirme nicht sehen. Sollte er sie unter einem Vorwand wieder hinausschicken? Er war sehr verwirrt gewesen, zumal er nicht sagen konnte, ob sie die harten Fakten für sein ungewöhnliches Verhalten erahnt hatte. Ihr Lächeln war ihm jedenfalls vieldeutig erschienen und hatte ihn verunsichert.
In seiner Verlegenheit hatte er eine Einladung zum Abendessen herausgestottert. Schon lange hatte er sie einladen wollen, hatte es aber bis dahin nicht gewagt. Sie hatte fast unmerklich genickt und ihn erwartungsvoll angeschaut. Er hatte ein paar Restaurants genannt, und als er gemerkt hatte, dass ihr Blick immer fragender wurde, hatte er unschlüssig geschwiegen.
»Oh, vielen Dank. Sehr gern«, hatte sie gesagt und ihn angestrahlt. »Ich fahre nach der Arbeit schnell nach Hause. Wann und wohin soll ich kommen?«
Seine Gedanken waren durcheinander geraten und hatten sich überschlagen. Er hatte sie und sich gleichzeitig in verschiedenen Situationen gesehen, die nichts mit ihrem Praktikum und nichts mit seiner Arbeit bei TODAY zu tun hatten. Wenn sie erst nach Hause beziehungsweise zu ihrer Tante in der Bronx fahren würde, dann würde sie am Abend das blaue Kleid nicht mehr tragen. Nur das blaue Kleid.
»Nein, Ann-Louise. Warum diese Umstände. Wir können nachher bis zum Abend noch etwas unternehmen. Ich habe da einige Ideen.«
Sie war einverstanden. Es wurde ein unvergesslicher Abend, eine unvergessliche Nacht. Jedenfalls im ersten Teil. Im zweiten hatte er ihre Nachricht im Bad gefunden.