Читать книгу PRIM - Dietrich Enss - Страница 9

6

Оглавление

Es gab keine direkte U-Bahn-Verbindung vom NSA-Haus in Parkchester zur Westside in Manhattan. Sie konnte entweder in fünfzehn Minuten zur Simpson Street Station laufen und von dort mit der Linie 2 bis zur W 72nd Street Station fahren, oder auf einen Bus der Linien 136 oder 4 warten und zur U2 hinüberfahren. Obwohl es bereits ziemlich warm geworden war, entschied sie sich zu laufen. Das hatte auch den Vorteil, dass sie sich unterwegs ein Sandwich kaufen konnte.

Von der W 72nd Street Station benötigte sie keine fünf Minuten für die drei Blocks auf dem Broadway bis zur 69. Straße. Das William Alexander Bligh Gebäude lag nur zwei Häuser hinter der Kreuzung mit der Columbus Avenue. DATA TODAY war auf dem Eingangsschild nicht vermerkt, lediglich TODAY in der charakteristischen Scripta Quadrata, die auch die Titelleiste der Druckausgabe der Zeitung zierte.

An der Treppe, die zur Eingangstür über dem Souterrain führte, gab es einen Schräglift für Behinderte mit einer auffällig großen Lastfläche. Er wurde sicherlich auch für Lastentransporte benutzt, ging es Alice sofort durch den Kopf, auch wenn die Druckerei in Brooklyn lag. Schließlich brauchte TODAY schwere Geräte im Rechenzentrum, und die modernen Hochleistungskopierer und Kühlaggregate waren auch nicht gerade leicht.

Die Frau am Empfangstisch trug ein Headset. Als Alice an den Tisch trat, telefonierte sie und deutete Alice an zu warten. Alice stellte die Rucksacktasche mit ihrem Notebook auf dem Boden ab und sah sich um. Drei Fahrstühle, einer davon offenbar für Lasten. Daneben eine geschlossene Tür mit einem Treppensymbol. Rechts vom Empfangstisch befand sich nach der Aufschrift der Zugang zum Rechenzentrum. Eine Stahltür für die Sicherheit, dachte Alice, relativierte den Gedanken dann aber, weil sicherlich auch der Brandschutz eine feuerfeste Tür verlangte.

Die Empfangsdame beendete das Telefongespräch und wandte sich Alice zu. »Sie sind bestimmt Miss Norwood.«

»Hallo, ja.«

»Ich bin Catherine Saunders. Hallo! Sie werden erwartet. Hier ist Ihre Karte für den Fahrstuhl. Fahren Sie in den ersten Stock! Linker Fahrstuhl. Fragen Sie nach Ronald Limpes!«

Alice musste sich daran erinnern, dass sie nur eine lästige Praktikantin war, die man nicht am Empfang abholt. Der Fahrstuhl bediente neben dem Hochparterre nur zwei Stockwerke, obwohl Alice von der Straße aus vier Stockwerke gezählt hatte. Auf dem Schild für den zweiten Stock stand Redaktion. Sie drückte den Knopf neben dem Schild DATA TODAY.

Die Fahrstuhltür im ersten Stock öffnete sich direkt in das Großraumbüro von DATA TODAY. Alice ging zum nächstgelegenen Arbeitsplatz, an dem eine junge Frau anscheinend versonnen auf den Bildschirm vor sich blickte, und fragte, wo sie Ronald Limpes finden könnte. Die junge Frau schaute sich um. Offenbar konnte man den ganzen Raum überblicken, denn sie fragte niemand anderen und rief auch nicht nach Limpes.

»Er ist im Moment nicht da. Gehen Sie doch bitte zu unserem Chef, Robert Talburn. Er ist da drüben im Glaskasten.« Sie wies mit der Hand auf Talburns Büro. Talburn saß dort mit Blickrichtung in den Raum hinter mehreren Bildschirmen. Alice konnte nicht sehen, ob er sie bemerkt hatte, während sie zum Glaskasten hinüberging.

Sie wusste, dass sie mit ihrem Aussehen und ihrem bestimmten Auftreten bei ersten Begegnungen in aller Regel einen enormen Eindruck machte, jedenfalls bei Männern. Dass es hier auch so sein würde, hatte sie nicht erwartet, denn sie kam als Bittstellerin und wusste, dass keine große Begeisterung über ihr Kommen bei DATA TODAY vorhanden sein konnte. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass sie Bob Talburn ja bereits aus ihren Recherchen kannte, während er sich unter Ann-Louise Norwood wahrscheinlich ein bebrilltes Durchschnittsmädchen vorgestellt hatte, das Mathematik studierte, wenn er sich überhaupt darüber Gedanken gemacht hatte.

Jedenfalls wusste Talburn offenbar nichts zu sagen und schaute sie lediglich an, als käme sie von einem anderen Stern. Sie stellte sich vor, nannte seinen Namen, als ob sie ihn schon lange kannte, erwähnte Ferrentil und dankte ihm dafür, dass sie bei DATA TODAY wertvolle Hinweise für ihre Arbeit bekommen würde. Trotz seines vor Verblüffung reglosen Gesichts konnte sie sehen, dass seine Grübchen in der Wirklichkeit noch anziehender wirkten als auf den Fotos, die sie gesehen hatte.

Schließlich antwortete er ihr, unterbrach sich jedoch erleichtert, als Ronald Limpes den Glaskasten betrat. Talburn stellte sie einander vor, erklärte ihr, dass Limpes sein Stellvertreter sei und dass sie sich mit allen Fragen und Problemen an ihn wenden sollte. Bei diesen Worten schaute er Limpes an, als ob er ihn am liebsten verprügeln wollte. Er war offenbar froh, dass Limpes sie sogleich entführte.

Er hat eigentlich nichts Professorales an sich, eher etwas von einem überforderten Grundschullehrer, der sich einmal neue Schuhe kaufen müsste, dachte Alice, als Limpes sie an einen zur Zeit nicht besetzten Arbeitsplatz etwa in der Mitte des Büros führte. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl, und Limpes zog sich einen anderen Stuhl heran. Im Gegensatz zu Talburn sah Limpes sie nur zeitweise an, wenn er mit ihr sprach.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht in Empfang genommen habe! Schließlich hatten Sie sich ja angekündigt, nicht wahr. Also, Bob Talburn hatte Sie angekündigt. Ohne Uhrzeit, da konnte ich nicht immer hier sein. Ich muss oft etwas außerhalb des Büros erledigen.«

Alice nutzte eine kurze Pause, um ihn zu unterbrechen: »Das tut mir leid. Ich wusste nicht, wie lange ich vom Haus meiner Tante in der Bronx bis hierher brauchen würde, und ich bin erst heute Morgen aus Newport gekommen. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Bereitschaft mir zu helfen, aber ich möchte Ihre Arbeit so wenig wie möglich stören.«

Limpes schaltete den Bildschirm ein, an dessen obere rechte Ecke jemand einen Marienkäfer aus Karton geklebt hatte, gab ein Passwort ein und rief mit Hilfe einer Maus die Internetseite von DATA TODAY auf.

»Dann sind Sie ja früh aufgestanden, nicht wahr. Hier auf der Internetseite können Sie sich erst einmal über uns informieren. Wir machen eigentlich nichts Besonderes, auch wenn wir einen ausgezeichneten Ruf in Fachkreisen haben. Sie müssen ja schon vor 5 Uhr aufgebrochen sein. Mit Fachkreise meine ich Leute, die Informationen über Personen suchen. Lebensläufe. In der Regel gerade gestorbene Personen. Für Nachrufe. Deshalb nennen wir unsere Datensammlung die Katakombe. Etwas respektlos gegenüber den noch Lebenden, nicht wahr? Wir bezeichnen sie hier manchmal als Zukunftsleichen. Auf Eis. Nur für den Fall, dass Sie das mal hören. In Krankenhäusern wird auch oft über Patienten gelästert. Suchen Sie eine Person? Das hätten Sie auch von Newport oder von ihrer Universität aus tun können. Den Käfer hat Sarah angebracht. Sie hat Urlaub. Stört er Sie? Sie können ihn wegnehmen. Das war vor 4 Uhr heute Morgen, schätze ich, nicht wahr?«

Alice wusste nicht, worauf sie antworten sollte, und sie überlegte, ob sie überhaupt auf seine Fragen oder wirren Bemerkungen eingehen sollte. Sie entschied sich dagegen.

»Danke, Mr. Limpes. Ich richte mich hier kurz ein, dann prüfe ich mal, wie weit ich mit dem normalen Internetzugang von DATA TODAY komme. Ich werde dann sicherlich meine Fragen besser präzisieren können, die ich Ihnen später vorlegen werde.« Bei diesen Worten holte sie ihr Notebook aus der Rucksacktasche, schob Sarahs Tastatur und Maus samt Unterlage etwas nach links und legte es rechts daneben auf den Tisch.

Limpes war offensichtlich von ihrem entschlossenen Auftreten beeindruckt, jedenfalls so weit, dass er aufstand und mit den ungewöhnlich knappen Worten: »Okay, machen Sie das!« in Richtung seines Arbeitsplatzes fortging. Der war nur drei Tische von ihrem entfernt.

Alice wunderte sich darüber, dass weder Talburn noch Limpes sie den anderen im Büro vorgestellt hatte. Wie in dem FBI-Bericht beschrieben, arbeiteten ungefähr dreißig Leute in dem Raum, etwa die Hälfte davon Frauen. Die Annäherungsversuche dieser Belegschaft beschränkten sich auf gelegentliche verstohlene Blicke, natürlich mehrheitlich von den Männern. Sie ignorierte diese Blicke und bemühte sich, nicht durch zu schnelles Einsteigen in die Welt von DATA TODAY aufzufallen. Wie eine Anfängerin klickte sie sich durch die ihr nur zu gut bekannte Internetpräsentation und die Bildschirmseiten, auf denen man Anfragen an DATA TODAY richten konnte. Mit ein paar geschickten Befehlen, die man auch als irrtümliche Eingaben hätte interpretieren können, stellte sie fest, dass ihre sämtlichen Ein- und Ausgaben registriert wurden. Das hatte sie erwartet, und sie stellte sich die Frage, ob das auch für alle anderen Terminals im Raum zutraf.

Alices erste Kontaktaufnahmen in der Kaffee-Pantry beschränkten sich auf Begrüßungen und Austausch der Namen. Alle wussten, dass sie Praktikantin und nicht etwa eine neue Mitarbeiterin war. Bill, ein vermutlich unverheirateter Angestellter, der offenbar auf die Gelegenheit gewartet hatte und ihr in die Pantry gefolgt war, bedauerte, dass sie nur so wenige Tage hier sein würde. Die Belegschaft war also über ihr kurzes Gastspiel informiert worden.

Später ging sie hinüber zu Limpes und bat ihn, sie für die Bearbeiterebene freizuschalten und ihr die erforderlichen Passwörter zu geben. Limpes fand schnell Gründe, ihr dies zu verweigern. So hatte Sarah angeblich nur schriftliche Anfragen von Leuten ohne Internetzugang bearbeitet und dazu die jedermann zugängliche Seite benutzt, die Ergebnisse ausgedruckt und zusammen mit der Rechnung an die Anfrager zurückgeschickt. Alice sollte sich bitte bis morgen gedulden, dann würde er das mit ihr besprechen.

Alice ahnte, woher der Wind wehte. Sie lachte grimmig in sich hinein, als sie daran dachte, wie sehr sie hier offenbar unterschätzt wurde. Und was passieren würde, wenn der Promoter von Ann-Louise Norwood, der einflussreiche Jonathan Berkner, eine kritische Nachfrage an die Geschäftsleitung von TODAY richten würde.

Zurück an Sarahs Platz klickte sie sich durch bis zur Anfrageseite von DATA TODAY. Dann gab sie den Namen Norwood, Ann-Louise ein. Sofort erschien die Antwort auf dem Bildschirm:

Norwood, Ann-Louise > Kein Datensatz vorhanden.

Bitte versuchen Sie es mit einer der Internet-Suchmaschinen.

Das war gut. Sehr gut, sogar! Das Suchen mit Google & Co konnte sie sich ersparen. Sie kannte die Suchmaschinenergebnisse, und sie hatte gesehen, dass ihre Kollegen wunderbare Arbeit geleistet hatten. Jetzt versuchte sie es mit Stonington, Gregory Markus. Die Antwort kam in einem Sekundenbruchteil. Es war eigentlich eine Frage:

Stonington, Gregory Markus *1959 Washington D.C.

Stonington, Gregory Markus *1983 Santa Ana Ca

Sie wählte den ersten Eintrag. Nun konnte sie die gewünschte Stufe angeben. Allerdings war im Eingabekästchen bereits ein A zu sehen. Sie gab statt dessen C ein. Das wurde nicht angenommen. Der Cursor blinkte weiter im Eingabekästchen für die Wahl der Stufe. Auch auf B reagierte das Programm ablehnend. Erst als sie wieder das A eingegeben hatte, konnte sie weitermachen. Sarah gehörte nicht zum eingeweihten Kreis bei DATA TODAY.

Das Programm teilte nun mit, dass 676 Megabytes an Daten zu Stonington, Gregory Markus, *1959, Washington D.C., vorhanden seien. Es fragte, ob sie die Daten unbearbeitet, nach bestimmten Kriterien ausgewählt oder sortiert, oder in Form eines Nachrufes haben wollte. Makaber, dachte sie und blickte - wie schon oft zuvor und möglichst unauffällig - hinüber zum Glaskasten.

Talburn war beschäftigt. Er telefonierte offenbar wenig und arbeitete selbst am Computer. Alice vermutete, dass mindestens eine, wahrscheinlich zwei der Frauen, deren Tische vor dem Glaskasten standen, seine Sekretärinnen oder Assistentinnen waren. Eine hatte ihm eine Tasse mit Kaffee oder Tee gebracht. Nur einmal hatte er den Glaskasten für kurze Zeit verlassen. Und er hatte dabei die Tür abgeschlossen.

Nach Büroschluss beeilte sich Alice, nach Hause zu kommen. Sie war müde nach dem langen Tag, wollte nur noch etwas essen und dann schlafen. In dem Diner hinter dem Parkchester Bahnhof waren um diese Zeit nur wenige Gäste. Sie bestellte einen Salat mit Geflügel, und als sie darauf wartete, hatte sie eine Eingebung. Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer von Alexander Norwood.

»Ja.«

»Hallo Alex, Alice hier.«

Es gab eine kurze Pause. Dann: »Hallo Ann-Louise. Wie schön, deine Stimme zu hören.«

Alice lachte so, dass er es hören konnte. »Sehr gut, Alex. Ich bin allein. Ich habe nur zwei kurze Fragen.«

»Schieß los!«

»Wer oder was sind Ferrets?«

»Das sind wieselartige Tiere. Man kann Kaninchen mit ihrer Hilfe fangen.«

»Mister Norwood!«

»Ferrets sind Spionage-Flugzeuge. Für die elektronische Erkundung. Neuerdings auch Spionage-Satelliten. Was ist deine zweite Frage?«

»Kennst du einen Jonathan Berkner?«

»Gut geraten! Was sage ich - das ist meine kluge Alice. Ja.«

»Kennst du ihn sehr gut?«

»Du hattest nur zwei kurze Fragen, Alice.«

»Okay. Ich danke dir. Auf Wiedersehen.«

»Pass auf dich auf!«

* * *

In den nächsten beiden Tagen verschaffte sich Alice beharrlich eine Vertrauensbasis bei Ronald Limpes. Ihr Charme blieb nicht wirkungslos, aber die größten Fortschritte erzielte sie mit der Bewunderung, die sie offen für Limpes’ Programmierkunst zeigte. »Wir sprechen uns hier im Büro mit den Vornamen an, Ann-Louise«, hatte er am Tag nach ihrer Ankunft gesagt. Mit der für Limpes typischen Ausführlichkeit erklärte er ihr, wie er die Datenbank von TODAY auf Einträge mit Angaben über einzelne Personen durchsiebt und damit die Grundlage für das Geschäft von DATA TODAY geschaffen hatte. Ein ganzes Jahr lang hatten dann acht Angestellte die Archive von TODAY, die damals noch im Souterrain untergebracht waren, durchgesehen und Daten über Personen in die Datenbank übertragen.

»Wo ist das Archiv denn jetzt?«, hatte sie gefragt.

»Als die Geschäftsleitung sah, wie viel Zeit und Mühe die Journalisten und Redakteure durch die Übernahme der Personendaten in die Datenbank sparten, gab sie das Geld für eine komplette Digitalisierung des gesamten Archivs. Viel Geld. Das haben dann Fachfirmen für uns erledigt, nicht wahr. Ich spreche von Dokumenten, Bildern und Zeitungsexemplaren aus über einhundert Jahren. Dann sollte das Archiv entsorgt werden, aber glücklicherweise fand sich eine Stiftung, die das Archiv komplett übernommen hat. Die sammeln alte Dokumente. Angeblich lassen die nur Wissenschaftler Einblick nehmen. Sitzen in Chicago. Unser Chef hat sich aber vorher die ersten drei Ausgaben von TODAY gegriffen. Das ist Wayne Paul Ferrentil. Kennen Sie ihn? Er ist ein ausgezeichneter Whiskykenner. Es heißt, ein Freund von ihm hat Sie an uns vermittelt. Das Titelblatt der ersten Ausgabe hängt oben in seinem Büro. In Ferrentils Büro.«

Alice zeigte sich sehr beeindruckt. Ihr Kopfschütteln genügte, um Limpes von weiteren Fragen über ihr Verhältnis zu Ferrentil abzuhalten. Er erklärte ihr, dass allein sechs der Angestellten hier im Raum ausschließlich damit beschäftigt waren, die online-Ausgaben von Zeitungen, Zeitschriften und Sendern auf Angaben über Personen zu durchsuchen. Vier Leute verfassten Nachrufe oder ergänzten bereits geschriebene Nachrufe. Auch hier hatte Limpes die Idee beigesteuert. Die Geschäftsleitung hatte ihm seinerzeit eine Prämie dafür gezahlt.

»Erst haben sie mich ausgelacht. Nachrufe für noch Lebende! Das wäre anstößig und schändlich. Die Betroffenen würden sich dagegen wehren und sogar dagegen klagen, nicht wahr. Sie kennen ja unsere Anwälte. Da geht es gleich um Millionen. Abgelehnt!«

»Und dann?«

»Dann hat Bob sich eingeschaltet. Mit Erfolg. Er kann sehr überzeugend sein. Robert Talburn. Er hat ein paar gute Regelungen vorgeschlagen, nicht wahr, die auch heute noch fast unverändert in Kraft sind. Die wichtigste ist, dass Nachrufe erst verkauft werden, wenn die betreffende Person gestorben ist. Sie können also bei DATA TODAY nicht Ihren Nachruf abfragen, Ann-Louise, ganz abgesehen davon, dass wir für Studenten ohnehin keine Nachrufe vorhalten. Oder nur, wenn sie Kinder von Berühmtheiten sind. Wir richten uns nach Bedeutung, Bekanntheitsgrad und Alter, wenn wir Personen auswählen, für die wir Nachrufe vorformulieren. Natürlich hat es sich herumgesprochen, dass wir Nachrufe mit jeder Menge Details aus dem Leben liefern, nicht wahr. Viele Zeitungen, die Radiosender und die Fernsehstationen haben darüber berichtet, teilweise in - ich sage das mal mit der gebotenen Unvoreingenommenheit - eher scherzhafter Weise. Inzwischen erhalten wir im Durchschnitt jeden Tag hundertzehn Nachrufanfragen über zweiunddreißig Verstorbene. Das ist ein sehr gutes Geschäft, nicht wahr. Und es gibt tatsächlich Leute, die an uns schreiben und uns Angaben für ihren Nachruf machen.«

Alice lachte lange und schaute Limpes dabei strahlend an. Es war die Gelegenheit, endlich und unverdächtig Zugang zur Programmebene zu bekommen, nachdem er sie offensichtlich mit Belanglosigkeiten hinzuhalten versucht hatte. Sie hatte inzwischen den Platz gewechselt, nachdem Sarah zurückgekehrt war, und war dabei dem Glaskasten viel näher gekommen.

»Wie haben Sie das gelöst, Ron, dass die Datenbank keine Nachrufe herausgibt, solange die Leute noch leben? Können Sie mir das mal im Programm, im Quellcode zeigen? Oder sollte ich das besser Bob Talburn fragen?«

Limpes fand die Vorstellung nicht gut, dass sie sich von Talburn sein eigenes Programm erklären lassen würde. Er ging an seinen Arbeitsplatz und richtete der Praktikantin Ann-Louise Norwood einen auf eine Woche befristeten Zugang zu bestimmten Programmcodes ein. Als Passwort wählte er ALN=1+12+14 aus.

»Können Sie sich das merken, Ann-Louise?«

»Oh, bestimmt. Vielen Dank. Ich kenne das Alphabet.«

Am folgenden Tag, ihrem dritten bei DATA TODAY, nahm Alice Limpes’ Angebot an, gemeinsam zu Mittag zu essen.

* * *

In ihrem täglichen Bericht erwähnte Alice nicht, dass sie einen persönlichen Kontakt zu Limpes hergestellt hatte, im Akronymekatalog für NSA-Agenten mit C-3 bezeichnet, und dass sie inzwischen an die Programme von DATA TODAY gelangen konnte. Ohnehin waren es nur solche Programme, die die Verarbeitung der Daten der untersten Stufe A steuerten. Sie wollte nicht, dass irgendein übereifriger Mitarbeiter in der Zentrale über das Internet in die Server von DATA TODAY eindrang, sie durch die Verwendung ihres Passworts verriet und ihren Fortschritt sabotierte.

Ihre Sorge war berechtigt, denn DATA TODAY hatte seine Systeme nicht nur sehr gut gegen Eindringlinge geschützt, wie sie bereits aus früheren Versuchen wusste, sondern hielt auch jeden Versuch mit allen Einzelheiten fest.

Die B- und C-Stufen waren offensichtlich vollständig von der unverdächtigen Datensammlung der A-Stufe getrennt. Da die höheren Stufen ganz offen über das Internet ausgewählt werden konnten, versuchte Alice vorsichtig, Ronald Limpes darüber zu befragen. Er konnte ihr schlecht ausweichen, aber er behauptete, dass die höheren Auskunftsstufen keinerlei geheime Bedeutung hätten und lediglich wegen des höheren Aufwands beim Suchen und wegen möglicher Vorkehrungen zum Urheberschutz eingerichtet worden seien.

»Dann werden den Kunden also nicht immer die Quellen genannt«, bemerkte Alice in bewusst beiläufigem Ton.

»Wir müssen unsere Quellen manchmal schützen, Ann-Louise. Das ist ein durch die Verfassung gesichertes Privileg, nicht wahr. In der Stufe A geben wir den Kunden die Quellen zu jeder Information an. Bei den Informationen in den höheren Stufen weisen wir auf den Wunsch nach Anonymität bei den jeweiligen Auskünften hin. Das ist wie in der Zeitung. Wie bei TODAY.«

»Es melden sich demnach Leute und machen vertrauliche Angaben zu anderen Personen, die DATA TODAY dann entsprechend in den Stufen B und C verarbeitet?«

»Ja. Aber wir prüfen in solchen Fällen - vorausgesetzt die Information ist wertvoll und für uns brauchbar - die Integrität des Informanten. Das machen wir immer. Also jedenfalls fast immer, nicht wahr. Manchmal müssen wir dazu andere Personen befragen, die den Informanten kennen. Und oft gelingt es uns auch, eine zweite, unabhängige Quelle für die gleiche Information zu finden. Das ist relativ leicht, wenn man erst einmal über die Information verfügt.«

»Dann ...«, begann Alice, aber Limpes unterbrach sie und fuhr mit seiner Erklärung fort: »Einen Moment nur. Diesen höheren Aufwand bei der Recherche lassen wir uns bezahlen. Das würde doch jeder machen, nicht wahr. Je nach Schwierigkeit und Zeit berechnen wir für solche Informationen die Stufen B und C. Das kann manchmal richtig teuer werden, aber bisher haben sich nur sehr wenige Kunden beschwert. Weniger als 1,8 Prozent, achtzehn von tausend.«

»Sie sagten eben, die Information müsste wertvoll und brauchbar sein, Ron. Wertvoll nur in dem Sinn, dass DATA TODAY wegen des Bearbeitungsaufwands dafür einen höheren Preis verlangen kann, oder auch wertvoll, weil die Information selbst für bestimmte Kunden von besonderer Bedeutung ist?«

Limpes sah lange zur Seite. Das ist ein Zeichen von Unbehagen, dachte Alice. Sie war sich nicht sicher, ob sie weiterfragen konnte, ohne dass er das Gespräch abbrechen würde. Ich muss ihm ein wenig um den Bart gehen, ermunterte sie sich, selbst wenn er keinen Bart trägt.

»Ich verstehe jetzt Ihr geniales Konzept, Ron. Ich hoffe nur, dass TODAY sich für Ihre tolle Arbeit auch genügend erkenntlich zeigt. Belegschaftsaktien oder ähnliches. Wenn schon Leute vertrauliche Informationen hergeben, dann ist das mehr wert als der Schrott, den man überall auflesen kann. Und wenn es sich um wertloses Zeug handelt, kann man den Informanten ja höflich abwimmeln. Wirklich super! Bezahlt DATA TODAY eigentlich für sehr vertrauliche Informationen?«

»In aller Regel nicht. Nein, eigentlich nie. Es gibt aber Leute, nicht wahr, die mit Hinweis auf unsere höheren Preise in den Stufen B und C Geld für Informationen verlangen. Denen sagen wir dann entweder, dass wir nicht interessiert sind, oder dass wir ohnehin erst noch andere Quellen für die gleiche Information benötigen, oder dass wir die angedeutete Information bereits aus anderer Quelle haben. Das letzte ist natürlich heikel, und wir können das nur machen, wenn eine hohe, erkennbare Wahrscheinlichkeit besteht, dass überhaupt noch andere über die Information verfügen könnten. Belegschaftsaktien gibt es bei uns nicht. Manchmal zahlt die Geschäftsleitung Prämien an Mitarbeiter, die besonders wertvolle Arbeit leisten. Manchmal heißt sehr selten, nicht wahr, und es sind sehr wenige Mitarbeiter, wenn ich darüber nachdenke.«

Sie hatte Limpes wieder bei der Sache. Sollte sie jetzt danach fragen, ob DATA TODAY auch selbst nach vertraulichen Informationen über Personen suchte? Er würde das nicht beantworten. Und sie wusste schließlich durch das Projekt Blinder Passagier, dass sie es taten. Denn es war völlig ausgeschlossen, dass es einen Informanten in der NSA, genauer in ihrer Gruppe oder bei Ben Nizers Leuten, geben sollte, der DATA TODAY mit der Information über John Silvermans gerade erst erfundene Beschäftigung bei der NSA unterrichtet hätte. Wichtiger war, weiter in das System zu gelangen und herauszufinden, wie DATA TODAY die Sperren bei der NSA überwunden hatte. Und wo sie noch eingebrochen waren.

»Ich hoffe sehr, dass Sie dabei waren, Ron. Jedenfalls kann DATA TODAY sich mühsame Recherchen nach vertraulichen Informationen ersparen, wenn sich so viele Informanten freiwillig melden. Wie viele Anfragen im Jahr werden mit Daten aus Ihrer C-Datenbank beantwortet?«

»Genau kann ich das so nicht sagen. Ich schätze ein bis zwei unter tausend, also fünfzig bis maximal hundert.«

»Ein gutes Geschäft. Kann ich mir die B- und C-Datenbanken mal ansehen? Ich finde das wahnsinnig interessant.«

Diesmal wandte sich Limpes nicht ab, auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel, sie abzuweisen: »Das geht nicht, Ann-Louise. Es ist uns strikt und mit Strafandrohung untersagt, Außenstehenden Einblick in unsere B- und C-Datenbanken und die damit verbundenen Einrichtungen zu geben. Ich komme ins Gefängnis, nicht wahr. Bob wird Ihnen dasselbe sagen, da brauchen Sie nicht zu fragen. Es ist in Ihrem Fall auch gar nicht erforderlich, denn die Datenverarbeitung ist die gleiche wie im A-Bereich. Die Systeme sind lediglich aus Sicherheitsgründen völlig voneinander getrennt.«

Limpes sagte nicht, wer bei DATA TODAY mit den B- und C-Daten arbeitete oder auf sie zugreifen konnte. Alice war sich ziemlich sicher, dass dies nur Limpes und Talburn sein konnten. Von Sarah Winter hatte sie erfahren, dass Limpes immer im Glaskasten arbeitete, wenn Talburn einen Tag oder länger nicht im Büro war. Sarah konnte sich auch nicht daran erinnern, dass beide jemals gleichzeitig über mehrere Tage nicht anwesend waren. Und der nächste in der Bürohierarchie war eine Frau, wie Alice seit kurzem wusste. Sie hieß Ruth Benjamin und war die ältere der beiden Frauen, die vor dem Glaskasten saßen. Alice glaubte nicht, dass Benjamin mit den B- und C-Bereichen zu tun hatte, jedenfalls nicht mit den illegalen Einbrüchen in fremde Rechnersysteme. Sie war etwa sechzig Jahre alt und fast ausschließlich mit Telefonieren und Verwaltungsarbeiten beschäftigt, wie Alice im Vorbeigehen erspäht hatte, wenn sie zu Talburn in den Glaskasten ging.

Das war selten genug. Sie nutzte aber jede Gelegenheit, und nachdem Talburn zum ersten Mal zum Mittagessen mitgegangen war, verlangte er auch keine telefonische Anmeldung mehr.

»Soll ich nicht besser Ruth anrufen statt mich direkt bei Ihnen anzumelden, Bob?« hatte sie spöttisch gefragt, als er ihr wieder einmal die Glastür aufmachte.

»Eigentlich schon« hatte er schmunzelnd geantwortet. »Aber soll die Benjamin jede unserer Begegnungen kontrollieren?«

Das Eis bricht, dachte Alice. Sie hatte inzwischen gezeigt, dass sie die Programme und Prozeduren von DATA TODAY verstand und anwenden konnte. Vorsichtig hatte sie Talburn dazu gebracht, ihr auch Zugang zu den Codes für die Kommunikation mit den Nutzern über das Internet und für die Sicherheitseinrichtungen zu ermöglichen. Sie bekam sogar Einblick in die Liste der Adressen, bei denen die automatische online-Recherche nach bestimmten Personen durchgeführt wurde. Die Liste umfasste über sechzehntausend Einträge! Bei ihren Stichproben fand sie keinen Anhalt für ungesetzliches Eindringen in Rechnersysteme der Firmen, Behörden oder anderen Institutionen aus der Liste. In der Regel fahndete das Rechercheprogramm nach den Kategorien und Stichwörtern Kontakt, Telefonverzeichnis, Mailverzeichnis, Soziale Netzwerke, Geschäftsleitung, Management, Mitarbeiter und Organigramm, um auf den entsprechenden Unterseiten den Abgleich mit der gesuchten Person vorzunehmen.

Alice fand ein paar kleinere Fehler in den Programmen, was bei deren Größe und Komplexität nicht ungewöhnlich war. Talburn hatte jedoch erkannt, dass sie die Fehler nicht bei der Ausführung der Programme, sondern allein beim Lesen der Quellcodes entdeckt hatte.

»Sie müssen ja viel programmiert haben, Ann-Louise, wenn Sie so etwas sofort sehen und dann auch gleich die Korrektur anbieten«, bemerkte er, als sie ihm wieder ein paar Fehler zeigte.

»Das ist mein Handwerkszeug beim Studium, da brauche ich eigentlich nicht nachzudenken. Schwerer zu finden und auch gefährlicher sind die Fehler in den Prozeduren, die die Zugänge zu den Netzen kontrollieren. Ein paar habe ich auch da gefunden und gezeigt, aber wichtiger wären einige grundsätzliche Umstellungen, um die Sicherheit entscheidend zu verbessern. Und dazu würde ich Ihnen gerne einige Tricks zeigen, Bob, das ist mein Spezialgebiet.«

Alice konnte erkennen, wie Talburn mit sich rang. Er hatte zuvor jeden Hinweis auf die Anbindung an das Internet und auf die damit verbundenen Sicherheitsfragen ignoriert, war auf andere Themen ausgewichen oder hatte das Gespräch abgebrochen. Jetzt, wo er ihre Fachkenntnisse besser einschätzen konnte, wollte er sicherlich nicht als Ignorant und auch nicht als unterlegener IT-Spezialist erscheinen. Sie nutzte sein Zaudern und wagte einen großen Schritt:

»Schwächen in Sicherheitssperren erkennt man am besten von außen. Indem man sie zu umgehen versucht. Ich weiß«, wehrte sie seinen Widerspruch ab, »das ist ungesetzlich. Aber es wird überall gemacht, und ich habe schon als Teenager erste Erfahrungen beim Hacken gesammelt. Lassen Sie mich einmal zeigen, wie leicht man bei DATA TODAY einbrechen kann.«

Alice hatte erwartet, dass er seine eigenen Erfahrungen als Hacker erwähnen würde, aber er verlor kein Wort darüber. »Gut«, sagte er, »das möchte ich schon gerne sehen.«

Zum ersten Mal gingen sie nicht an den Terminal an Alices Arbeitsplatz. Talburn bot ihr den Stuhl an seinem Tisch an und setzte sich daneben. Bevor er sein Notebook zuklappte, konnte sie erkennen, dass er sich einen Elektronikschaltplan angesehen oder daran gearbeitet hatte. Den Stick, den er immer bei sich trug, wenn er nicht in sein Notebook oder den Terminal eingesteckt war, konnte sie nicht entdecken. Wie sie schon zuvor beobachtet hatte, gab es keine Kabelverbindung zwischen seinem Notebook und dem Terminal. Da bei DATA TODAY kein drahtloses Netz installiert war, konnten wahrscheinlich keine Daten direkt zwischen seinem Notebook und den Rechnern, die mit dem Terminal verbunden waren, ausgetauscht werden. Das war offensichtlich Absicht, damit jeder Zugang auf Talburns geheimnisvolles Notebook über das Internet oder eine Wi-Fi Verbindung unterbunden wurde.

Auf dem Bildschirm seines Terminals war das Hauptmenü für die Personenanfragen zu sehen. Talburn klickte es weg und überließ ihr die Tastatur. Alice prüfte die Verbindung zum Internet und wählte sich dann in einen Server des MIT in Boston ein.

»Ich mache das von meinem Account an der Uni aus«, erklärte sie. Talburn verzog keine Miene.

Nach einigen Minuten war sie auf die Bearbeiterebene von DATA TODAY gelangt. Sie zögerte einen Moment, weil er keine Reaktion zeigte.

»Also über die Bezahlfunktion«, stellte er fest.

»Richtig.«

»Na, dann bin ich ja froh. Wenigstens nicht über einen Zugang, der mit einem Porno-Stick ausgekundschaftet wurde.«

»Das war vor hundert Jahren«, antwortete sie. Jeder, der sich mit IT-Sicherheit beschäftigte, kannte den uralten Trick. Man lässt einen Stick mit pornografischen Bildern und Texten liegen, zum gezielten Finden durch das Opfer. Möglichst noch mit der Aufschrift Porno. Das Opfer kann sich den Inhalt des Sticks gar nicht schnell genug ansehen. Und lädt sich ein Spionageprogramm auf den Rechner.

»Soweit ich herausgefunden habe«, fuhr sie fort, »gibt es drei Möglichkeiten, bei DATA TODAY einzudringen. Die eben gezeigte war eine. Aber jetzt kommt es ja erst. Passen Sie auf!«

Zuerst schrieb sie ein paar Programmzeilen und speicherte sie unter einem unverdächtigen Namen. Dann führte sie ein paar komplizierte Manöver aus. Talburn schaute interessiert zu. Er bittet mich nicht um langsameres Vorgehen, dachte sie. Das konnte eigentlich nur heißen, dass er genau wusste, was sie tat. Nach ein paar weiteren Tastendrücken erschien ein Verzeichnis der Dateien im A-Bereich des DATA TODAY Servers. Alice lehnte sich zurück und blickte Talburn an.

»Frei zum Kopieren, Ändern oder Löschen«, bemerkte der. »Das war eine überzeugende Demonstration. Wir müssen offensichtlich an unserer Sicherheit arbeiten.«

»Warten Sie! Es geht noch weiter. Ich kopiere jetzt die Daten einer zufällig ausgewählten Person, die lösche ich nachher wieder, keine Angst also.«

Talburn lachte. »Nein, nein, machen Sie weiter!«

Wenn er lacht, ist er unwiderstehlich, ging ihr durch den Kopf. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihren Einbruch. Sie rief das zuvor geschriebene Programm auf, schrieb ein paar Befehlszeilen in hohem Tempo und meldete sich kurz danach Zeit bei DATA TODAY ab.

»Sie haben nicht nur die Daten geklaut, Sie haben auch Ihren Einbruch kaschiert«, stellte er fest.

»Sie wissen ja ganz gut Bescheid, Bob«, attestierte Alice ihm kopfnickend und bemühte sich um einen erstaunten Gesichtsausdruck. Ob er jetzt wohl etwas über seine Erfolge beim Hacken sagen wird, fragte sie sich.

Sein Zögern war nur kurz. »Ich zeige Ihnen jetzt auch etwas«, sagte er dann. Alice jubelte bereits innerlich; nun hatte sie ihn offenbar dazu gebracht, ihr seine Kenntnisse zu zeigen. Sie wechselten die Plätze.

Talburn konnte auch schnell arbeiten. Es fiel ihr schwer, seine Anweisungen zu verstehen, die er in die Tastatur hämmerte, weil er viele Kurzbefehle verwendete. Aber eines zeigte er ihr jedenfalls nicht, wie sie schnell erkannte: seine Kenntnisse über das Eindringen in fremde Systeme. Stattdessen sah sie plötzlich eine eingerahmte Aufstellung auf dem Bildschirm. In der obersten Zeile stand in fetter Schrift die IP-Nummer 208.76.108.122.

Es folgten der Name des Massachusetts Institute of Technology, der volle Benutzername Ann-Louise Norwood und die Anfangs- und Endzeiten der Verbindung mit dem Server von DATA TODAY. Die nächste Zeilen waren verschlüsselt, aber in den letzten beiden Zeilen innerhalb der Umrahmung standen der Name der Datei und die Anzahl der Bytes, die daraus zum Account von Norwood übertragen worden waren.

Talburn sah sie nur an und sagte nichts. Sie versuchte, ihre Verblüffung zu verbergen. Unmengen an Gedanken rasten ihr durch den Kopf, und sie musste um eine Antwort ringen. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Es war nicht Triumpf, auch nicht Überlegenheit, eher freundliche Aufmunterung für eine gelehrige Schülerin, die man gern hat.

»Ich bin beeindruckt. Wirklich. Ein zweites Auffangsystem. Sehr clever!« Es fiel ihr nicht schwer, ihn mit strahlenden Augen bewundernd anzusehen. Im gleichen Moment ärgerte sie sich darüber, dass sie die Situation einen Moment lang nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass sie Talburn nicht unterschätzen durfte: Die Recherchen und Unterlagen über Talburn lieferten hierzu ein klares Bild.

»Wir verzeichnen hier immer wieder Versuche, in unsere Systeme einzudringen«, sagte Talburn. »Besser als die Rückverfolgung eines Einbruchs ist seine Verhinderung. Man sagt, dass die wirklich raffinierten Einbrecher, anders als du eben, nacheinander über mehrere Server an ganz unterschiedlichen Orten kommen, auch im Ausland. Und da man die ja vorher nicht kennt, kann man auf ihnen auch keine Fangschaltung installieren. Meistens löschen die dann noch alle Spuren ihrer Anwesenheit auf diesen Zwischenstationen. Da wird es fast unmöglich, Einbrecher zu identifizieren. Und selbst wenn es gelingt, Ann-Louise, kann man die Beweise meistens nicht verwenden, weil sie genau wie die geklauten Daten selbst mit illegalen Methoden beschafft worden sind. Ich habe mal so einen Fall gehabt, als ich für eBay als IT-Berater gearbeitet habe. Da war das FBI mit sehr cleveren Methoden kurz davor, illegal in die Datenbanken einzudringen. Ich konnte das nur eindeutig feststellen, nachdem ich selbst ein wenig Rückverfolgung betrieben hatte. Ich habe das eBay natürlich gemeldet und weitere Sicherungen eingebaut. Sie haben nichts gegen das FBI unternommen.«

Alice nickte. So sah die eBay-Episode also aus Sicht von Robert Talburn aus. Und in dem geschwärzten FBI-Blatt befand sich vermutlich eine Aussage über die erfolgreiche Rückverfolgung bis in die FBI-Systeme hinein. Das lässt man ungern andere Dienste wissen.

»Dann versucht DATA TODAY also erst gar keine Rückverfolgungen wegen dieser Bedingungen?« fragte sie und bemühte sich, ihre Anspannung hinter der Frage nicht zu zeigen.

»Ab und zu versuchen wir es mit Erfolg. Wenn uns zum Beispiel jemand attackiert, um an unsere besonders geschützten Daten zu kommen. Stellen Sie sich vor, Ann-Louise, sogar die NSA hat schon versucht, unsere Systeme zu knacken.«

PRIM

Подняться наверх