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3.1 Kranken- und Pflegeversicherung

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Bei der heutigen Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland wird ein Anstieg der Gesundheitskosten mit zunehmender Alterung der Bevölkerung nicht aufzuhalten sein, es sei denn, es werden drastische Leistungseinschränkungen in der Grundsicherung in Betracht gezogen. Die GesundheitsausgabenGesundheitsausgaben ohne Arzneimittelausgaben für einen 60-jährigen waren im Jahre 2016 etwa 2,8-mal und die eines 80-jährigen etwa 5,7-mal so hoch wie für einen 30-jährigen; qualitativ ähnliche Relationen existieren bei Arzneimittelausgaben. Ihr längeres Leben, Schwangerschaften und Geburten erklären intuitiv, dass (wenn auch nicht in welchem Maße) bei Frauen höhere Kosten vorliegen als bei Männern.[34]

Interessant ist jedenfalls immer zu wissen, wer untersucht hat sowie was und wie untersucht wurde. Die bereits gestellte Frage „Cui bono?“ führt dabei nicht immer zu einer Antwort, aber oft in die richtige Richtung. Das Gesundheitswesen absorbierte im Jahr 2018 ca. 11,2% des BIPBIPs der Bundesrepublik Deutschland.[35] Es sind dabei nicht nur die Alterung, sondern ebenso die Lebensbedingungen und Eigenheiten unseres Gesundheitssystems, die die Kosten nach oben treiben. Um profitabel zu sein, brauchen Krankenhäuser wie Arztpraxen Kranke und keine Gesunden: Es ist somit nicht überraschend, dass die Behandlungshäufigkeit besonders dort hoch ist, wo sich viele Ärzte befinden.

Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind die privaten Krankenversicherungen (deren Gründung auch als Ausdruck einer früheren EntsolidarisierungEntsolidarisierung der Gesellschaft betrachtet werden kann), deren zukünftige Existenz mittelfristig durchaus in Frage steht.

Stolpersteine bei wissenschaftlichen Studien und ihrer Methodik

Wie bereits gesehen werden Statistiken oft benutzt, um Zusammenhänge darzustellen. Ein Nachweis von Kausalität, d.h. das Nachweisen eines eindeutigen Ursache-Wirkungszusammenhanges, ist in den Sozialwissenschaften indes zumeist sehr schwierig (wenn nicht gar unmöglich).

Als Beispiel diene die für die meisten von Ihnen vermutlich intuitiv nachvollziehbare Aussage, dass die Ausgaben eines Landes für sein Gesundheitssystem und die Lebenserwartung seiner Bewohner in einem direkten Zusammenhang stehen. Der vermutete Zusammenhang ist: Je mehr ein Land für sein Gesundheitssystem ausgibt, umso länger leben dort die Menschen.

Nach kurzem Nachdenken ergeben sich allerdings bereits viele Fragen:

 Könnte es nicht sein, dass die längere Lebenserwartung die höheren Gesundheitsausgaben auslöst, weil alte Menschen kränker sind oder öfter krank werden als junge?

 Könnten nicht andere Ursachen (Ernährung, Klima, Kriegsvermeidung) die längere Lebenserwartung besser erklären?

 Woher kennt man überhaupt die Lebenserwartung von Menschen, die noch leben? (Diese Frage haben wir schon erörtert. Aus medizinischer Sicht: Eigentlich kann man hierzu doch nur für tote Menschen Aussagen treffen.)

 Woher weiß man, wie hoch die GesundheitsausgabenGesundheitsausgaben sind? Was ist eine Gesundheitsausgabe? Wie geht man mit unterschiedlichen Preisen von z.B. Gesundheitsdienstleistungen um?

 und, und, und …

Nicht überraschend ist nun, dass (nicht nur) in Deutschland das Pflegefallrisiko mit dem Alter steigt. In den Altersgruppen bis 60 Jahre ist es, vor allem weil es kaum noch den Körper ruinierende Berufe gibt (dies war vor 50 Jahren übrigens noch anders) sehr gering; danach steigt es aber steil an. Die Anzahl der über 80-jährigen in Deutschland wird c.p. von heute knapp 6 Mio. (eigene Berechnung) auf 9 Mio. im Jahr 2050 ansteigen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht von einer notwendigen Verdreifachung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung bis 2030 aus.[36] Alles ceteris paribus natürlich!

In den Pflegeheim Rating Reporten, die das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, die Philips GmbH und das Institute for Healthcare Business erstellen, wurde u.a. im Jahre 2014 geschätzt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,6 Millionen im Jahre 2015 bis zum Jahre 2030 auf 3,5 Millionen Menschen steigen wird. Im Bericht für 2019 wurden für 2030 bereits 4,4 Mio. Pflegebedürftigen geschätzt.[37]

In den folgenden 15–20 Jahren müssten damit ca. 100 Mrd. Euro in den Ausbau der stationären Pflege investiert werden, damit genügend Heimplätze für die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen vorhanden sein werden. In der stationären Pflege müssten schließlich bis zu 475.000 Pflegefachstellen hinzukommen.[38] Die „Pflegeindustrie“ wird also wachsen, mit Auswirkungen hin zu Essensversorgern, Wäschereien und – Stichwort Windeln – Müllentsorgern.

Auf die Schwierigkeiten, in den Sozialwissenschaften gesellschaftlich konsensfähige und dabei operationalisierbare Definitionen zu fixieren, wurde bereits mehrfach hingewiesen. Wenn die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer Satzung Gesundheit als einen „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“1 definiert, ist jedem Mediziner wie Laien klar, dass es praktisch zu keinem Zeitpunkt gesunde Menschen im Sinne dieser Definition gab bzw. zukünftig geben kann. Es wird ein Idealzustand beschrieben, dem man sich anzunähern versuchen kann. Auch wenn die WHO bei Ihrer Gründung im Jahre 1946 bereits „Gesundheit für alle“ postuliert hat, gibt es in der Praxis, und das bedeutet sowohl zwischen verschiedenen Staaten als auch innerhalb von Staaten, große Unterschiede bei der Verwirklichung des „Menschenrechts“ Gesundheit. Dies ist im Verlauf der Corona-Krise umso deutlicher geworden, als in den reichen Ländern bereits über eine dritte Auffrischungsimpfung gesprochen wurde, während sich eine Erstimpfung für einen Großteil der impfwilligen Bevölkerung armer Staaten noch weit außer Reichweite befand.

Die folgenden Erörterungen beziehen sich ausschließlich auf Deutschland. Ihr Ziel ist es, Ihnen zu verdeutlichen, dass man mit relativ einfachen Mitteln zu brauchbaren Schätzungen und Deutungen der Entwicklung im Gesundheitsystem und damit in der Gesamtgesellschaft kommen kann. Unter Verwendung mathematischer Hilfsmittel, die spätestens in Klasse 10 bereitgestellt werden, können wir uns mittels einiger weniger Daten, die das Statistische Bundesamt zur Verfügung stellt, rasch sowohl quantitative als auch qualitative Entwicklungen verdeutlichen und diese unter einigen ceteris paribus Bedingungen in die nähere bis mittlere Zukunft extrapolieren. Auch wenn keinesfalls eindeutig ist, was alles unter GesundheitsausgabenGesundheitsausgaben fällt, ergeben die durchweg frei zugänglichen Informationen des Statistischen Bundesamtes2 ein insgesamt klares Bild. Im Folgenden werden wir ausschließlich auf Daten, die vor der Corona-Krise erhoben wurden, zurückgreifen.

Wenn im Jahre 2021 in Deutschland von einem Ärztenotstand gesprochen wird, ist ein Blick in die Vergangenheit hilfreich, um zu verstehen, dass die deutsche Gesellschaft nicht nur gealtert ist, sondern dass sich unsere Wahrnehmung von Gesundheit, d.h. der Wert von Gesundheit, in den vergangenen ca. 25 Jahren, also nach der deutschen Wiedervereinigung, offensichtlich deutlich verändert hat.

Warum sind diese Betrachtungen so wichtig? Weil jeder Euro, der für die Gesundheit ausgegeben wird, nicht mehr für andere Zwecke ausgegeben werden kann. Die Opportunitätskosten von Ausgaben im Gesundheitssystem sind u.a. immer (die Abwesenheit von) Ausgaben im Bildungsbereich, der Infrastruktur, die Gewährleistung von innerer und äußerer Sicherheit, usw. Im Grunde ist diese Aussage eine Trivialität, die aber vielfach aus den Augen verloren wird. Man ist also a priori nicht gegen Zugang zu Gesundheit insbesondere ärmerer Menschen, wenn man über das dafür notwendige Geld, das im Gesundheitssystem „umgewälzt“ wird, nachdenkt.

Bevor wir uns der ökonomischen Theorie widmen, werden wir versuchen, die Entwicklung der Gesundheitsausgaben nach der deutschen Wiedervereinigung hinreichend präzise zu beschreiben.

Herausforderungen der Wirtschaftspolitik

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