Читать книгу Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski - Страница 25
3.1.2 Einige Betrachtungen zum Gut Gesundheit und zu dessen RegulierungRegulierung1
ОглавлениеIntuitiv einsichtig ist, dass uns die klassischen Angebots- und Nachfragebetrachtungen und die in der Lehrbuchökonomie üblichen Angebots- und Nachfragediagramme (auch wenn diese natürlich möglich sind) nicht weit kommen lassen, um ein hinreichendes Verständnis zum „Gesundheitsmarkt“ zu entwickeln. Es gibt nicht nur in Deutschland keine unsichtbare Hand, die die vielen Individuen auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite zusammenbringt. Wenn diese existierte, könnten sich „arme Leute“ keine Gesundheitsbehandlungen leisten. Zudem sind wir fast alle nicht in der Lage, mit den uns zur Verfügung stehenden Informationen zu vernünftigen Schlüssen zu gelangen (vulgo: die Frage „Was sind gute und weniger gute Ärzte?“ zu beantworten). Angebotsseitig müssen Ärzte und Krankenschwestern und –pfleger eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung vorweisen, die entweder vom Staat organisiert bzw. alternativ von ihm anerkannt wird. Ein Arzt benötigt ferner eine Genehmigung, um eine Praxis zu eröffnen.
Gesundheit ist ein sogenanntes meritorisches Gut. Dies ist ein Gut, das im nationalen Interesse liegt und somit so wichtig ist, das es vom StaatStaat garantiert bzw. (teil-)produziert wird. In unserem Falle (nicht nur in München, Berlin und Hamburg) schafft mehr Angebot auch mehr Nachfrage, d.h. mehr Ärzte bedeuten mehr Behandlungen (und i.a. höhere Preise). Dies ist einfach erklärbar, da es für Gesundheit keine Sättigung gibt. Man kann immer noch ein bisschen gesunder werden und ein bischen schöner. Diese Aussage gilt nicht nur aber insbesondere für die zunehmende Anzahl gebildeter Pensionäre. Die Kosten pro Bürger bzw. Versicherten betreffend ist statistischer Schrecken aller Kassen nicht der moderat rauchende und/oder trinkende Arbeiter oder Angestellte, sondern der gesundheitsbewusste, gebildete Mensch.[42]
Ein nutzensmaximierender Arzt hat somit keinen Anreiz, kosteneffizient zu „produzieren“. Er wird darüber hinaus teurere Dienstleistungen für wohlhabendere Patienten (z. B. Fitness-Programme und Schönheitsoperationen, die nicht zur Grundversorgung zählen und privat bezahlt werden) anbieten, anstelle arme Menschen zu behandeln.2 Eindrucksvoll nachvollziehen kann man diesen Gedanken am Fall der "Intensivbettendiskussion", die im Verlauf der Jahre 2020 und 2021 dreimal geführt wurde. Der Bundesrechnungshof zitierte dazu im Sommer 2021 ein Schreiben des Robert Koch-Instituts an das Gesundheitsministerium vom 11. Januar 2021, dass „Krankenhäuser zum Teil weniger intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten, als tatsächlich vorhanden waren."[43]
Dazu kann kurz festgehalten werden, dass es in einem teilprivatisierten Gesundheitssystem, in dem die Kostenerstattung über Fallpauschalen erfolgt, per se unvernünftig ist, Reserven vorzuhalten, dass also offensichtlich ein „Systemfehler“ vorliegt.
Somit sind (Stichwort Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse) RegulierungRegulierungen auf der Angebots- und der Nachfrageseite erforderlich. In den entwickelten Ländern stehen zumeist Krankenkassen zwischen Arzt und Patient. Diese erheben Beiträge von den Versicherten und bezahlen die Ärzte und Krankenhäuser für deren Dienstleistungen, wobei die Preise zwischen den Ärzteverbänden und den Krankenkassen ausgehandelt werden. Die Menschen bezahlen also auf indirektem Wege für ihre Gesundheit und Gesunde subventionieren Kranke. Spätestens hier erkennen wir ein klassisches Moral Hazard-Problem. Versicherte können zu fahrlässigem Verhalten tendieren und sich zudem im Recht fühlen, sich ihre Beiträge „zurückzuholen“.
Praxis bis zu Beginn der 2000er Jahre war es, dass Krankenhäuser und Ärzte von den Versicherungsgesellschaften für erbrachte Leistungen bezahlt wurden. Dabei wurden seitens der Krankenhäuser fraglos auch nicht notwendige Leistungen abgerechnet, Patienten verblieben mitunter länger im Krankenhaus als notwendig, usw. Um die Kosten zu beschränken, wurde in den reichen europäischen Ländern daraufhin entweder ein Prozentsatz oder eine fixe Praxisgebühr der Behandlungskosten auf die Patienten übertragen. Letztere betrug in Deutschland bei ihrer Einführung im Jahr 2004 10 Euro pro Patient und Quartal. Sie erwies sich letzlich als insgesamt wirkungslos und wurde Ende 2012 wieder abgeschafft. Ab 2003 wurden nach australischem Vorbild sogenannte Fallpauschalen (englisch: Diagnostic Related Groups) eingeführt.3 Um Wettbewerb zwischen Krankenhäusern zu initiieren, wird hier ein fester Betrag pro Behandlung für klassifizierte Krankheitsbilder an das Krankenhaus bzw. den Arzt gezahlt. Ziel war es, Kliniken sich spezialisieren zu lassen und damit die Kosten pro Behandlung zu senken.
Die Folge waren insgesamt kürzere Verweildauern in den Krankenhäusern, weniger Tote in den Krankenhäusern und niedrigere Kosten der Krankenhäuser (inpatient costs); aber auch – als Folge falsch gesetzer Anreize! – gestiegene Kosten außerhalb der Krankenhäuser (outpatient costs) und ebenso mehr Tote außerhalb der Krankenhäuser, viele wiederkehrende Patienten und dass Krankenhäuser schwierige Fälle „abwimmelten“. Parallel wurde versucht, durch „Pay for Performance“ (P4P) finanzielle Anreize zu setzen, um „gute“ Ärzte oder Krankenhäuser besser zu bezahlen, als weniger gute. Dabei wird die Qualität der medizinischen Behandlung durch Indikatoren gemessen, die aber die Frage „Was ist ein guter Arzt“ nicht zufriedenstellend beantworten können.4 Als Folge wurde verstärkt in Technik bzw. Gerätemedizin investiert, die messbare und damit hart interpretierbare Ergebnisse liefert.5
Um es kurz zu machen: Wir haben bisher keinen Weg gefunden, die Kosten im Gesundheitssystem mittelbar unter Kontrolle zu halten. Die Hoffnung, die Steigerungen der Ausgaben im Gesundheitssystem durch höhere zukünftige Zuwächse des BIPs unter Kontrolle zu bekommen, dürfte sich, sofern überhaupt gehegt, als Illusion erweisen. Dies ist umso beunruhigender, als wir quasi deterministisch in weniger als 10 Jahren mit dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge von Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre einen qualitativen demografischen Einbruch erleiden werden. Vermutlich wird es auf einen harten zeitgleichen cut, Begrenzung/Beschneidung der Arztgehälter und –honorare, Reduktion der Verfügbarkeit medizinischer Leistungen, weniger neue Technik in den Praxen und Krankenhäusern hinauslaufen.