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Kapitel 5

Die Planungen der nächsten Tage waren am vergangenen Abend schnell zusammengestellt.

Gwen freute sich auf einen Wellnesstag im nahegelegenen Vital Resort. Die Rezeption ihrer Unterkunft war bei der Reservierung behilflich und sie stellten für Gwen einen Rundum-Sorglos-Tag zusammen. Es war geplant, die Saunalandschaft mit ihren fünf Saunen und die Thermenlandschaft ausgiebig zu erkunden. Dazu kam noch ein Wellnesspaket, bestehend aus Körperpeeling und einer Massage. Die Männer schlossen sich dem Thermenbesuch an, überließen aber die Wellnessanwendung ausschließlich Gwen. Das sei nichts für Männer, sagten sie und ernteten von Gwen nur ein Kopfschütteln.

Die Bootstour auf dem Altaussee organisierte Stefan für den nächsten Tag. Mit einem Picknickkorb, den er über ihre Rezeption organisieren ließ, machten sie sich auf den Weg, den Altaussee per Solarboot zu erkunden. Das Wetter spielte mit und die siebenundzwanzig Grad ließen sich mit einem kleinen Lüftchen auf dem See gut ertragen. Am gegenüberliegenden Seeufer beendeten sie ihre Fahrt und picknickten ausgiebig beim Jagdhaus auf den Seewiesen. An den Rückweg wollte keiner so recht denken, als sie alle mit dicken Bäuchen auf der Decke lagen und in den Himmel und auf das Wasser hinausschauten. Stefan beobachtete Gwen sehr genau und er war der Meinung, dass sie sich etwas entspannt hatte. Entweder war es der Saunatag oder auch der heutige Ausflug, der sie an etwas anderes denken ließ. Ihm war aber durchaus klar, dass es einige Zeit dauern würde, bis sie ihren Tiefpunkt überwunden hätte.

Stefan stellte zur Wahl, ob sie mit dem Boot oder zu Fuß zu ihrem Auto zurückwollten, um wieder in die Unterkunft zu gelangen. Phil hatte in der Zwischenzeit schon einen weiteren Geocache herausgefunden, der am Seeufer verborgen sein musste. Daher nahm er den Erwachsenen die Wahl ab und sie fügten sich der Entscheidung zu Fuß zu gehen. Auf etwa halben Weg zu ihrem Parkplatz fand Phil auch, wonach er gesucht hatte.

Durch seine Erfolge dermaßen angespornt, hatte er sich in den Kopf gesetzt, den nächsten Tag zu einer Geocachewanderung zu machen.


»Hier sind wir neulich abgebogen, um zum Ziplining zu kommen. Diesmal müssen wir weiter in Richtung der Lichtung!«, rief Phil aufgeregt, sprang von der Bank auf und lief voran.

»Wir sind schon einige Stunden unterwegs und sollten vielleicht langsam an den Rückweg denken«, warf Gwen ein und massierte sich die Oberschenkel und Waden.

»Nun lass uns noch zur Lichtung gehen, damit Phil seinen Travelbug bergen kann, der dort versteckt sein soll. Er hatte das für neulich ja schon geplant, als wir dann zum Ziplining abgebogen waren. Danach werde ich vorschlagen den Rückweg anzutreten.«

Gwen nickte zustimmend und stöhnte, als sie sich von der Bank erhob und in Bewegung setzte. Bei jedem ihrer Schritte spürte sie den Muskelkater in den Waden. Durch die ganze Schreibtischarbeit war sie die körperliche Anstrengung gar nicht mehr gewohnt.

Phil war aufgeregt schon etwas vorausgelaufen, blieb dann aber stehen, um auf die beiden zu warten.

»Nun macht schon, ich will doch noch den Travelbug finden!«, rief Phil ihnen zu.

»Was ist das denn eigentlich?«, gestand Gwen ein, keine Ahnung zu haben, wovon er und Stefan eigentlich sprachen.

»Mama, das ist doch ganz einfach. Ich erkläre es dir noch einmal. In manchen Geocaches liegen nicht nur Dinge zum Tauschen und ein Logbuch, in welches man sich eintragen kann, sondern manchmal auch kleine Münzen oder andere Gegenstände mit Anhängern oder einer geprägten Kennung. Die kann man wiederum im Internet nachschlagen und dort nachlesen, welche Aufgaben diese kleinen Kerle erfüllen sollen. Manche wollen nur die Welt erkunden und freuen sich, wenn man sie lange bei sich trägt und weit weg einfach wieder in einem anderen Cache ablegt. Andere wollen zum Beispiel nur Kirchen in Deutschland sehen und wieder andere möchten alle Schlösser der Welt entdecken. Den Travelbug, den ich in dem nächsten Cache erwarte, der will zurück nach Deutschland und den Gefallen können wir ihm doch tun, oder?

»Dann musst du dich aber in Kiel wieder darum kümmern einen Geocache zu finden, in den er auch hineinpasst. Einige, die wir in den letzten Tagen gefunden hatten, waren ja nur sehr klein«, gab Gwen zu bedenken, als sie Phil eingeholt hatten.

»Ja, klar, das mache ich!«

»So, wie du auch immer versprichst mal dein Zimmer aufzuräumen oder die Spülmaschine auszuräumen oder den Müll rauszubringen?«

»Was bist du denn auf einmal so komisch, Mama?«

Stefan spürte, dass die Stimmung zu kippen drohte, nahm Gwens Hand und zog sie bergauf. »Wir beide werden uns darum kümmern, wenn wir wieder zu Hause sind. Mach dir bitte keine Sorgen, Gwen … und jetzt, lass uns die Lichtung finden und den letzten Anstieg meistern, damit wir das Ding finden. Danach machen wir uns dann auf den Weg ins Tal. Ich habe schon mächtig Hunger, ihr nicht auch?«

Gwen sagte nichts und versuchte eine möglichst freundliche Miene aufzusetzen.

Als sie die Lichtung erreichten blieben sie kurz stehen, um sich zu orientieren. Phil startete seine Geocaching App, um den Abstand und die Richtung nun genau in Erfahrung zu bringen. Mit ein paar Handgriffen und magischen Kreisbewegungen seines Handys, hatte er den Kompass kalibriert und wartete nun auf das genaue GPS-Signal. Stefan sah Gwen an und zwinkerte ihr zu. Dann ging Phil langsam los und beobachtete die Kompassnadel auf seinem Handy ganz genau. Es waren nur noch einhunderteinundachtzig Meter und sie würden die Lichtung verlassen und wieder in den Wald abbiegen, soviel war klar. Die Nadel pendelte etwas, deutete aber immer wieder in Richtung Wald. Noch zweiundneunzig Meter und Phil wurde langsamer. Gwen und Stefan folgten ihm in einigem Abstand und unterhielten sich über das vor ihnen liegende Abendprogramm. Noch dreiundvierzig Meter, als er um die Kurve kam und von seinem Handy aufsah. Er sah die Steigung … und er sah noch etwas, was ihn wie angewurzelt stehen ließ.

Auch Gwen stockte der Atem, als sie ihren Sohn wie versteinert stehen sah. Blitzschnell erfasste sie die Situation und ihr war sofort klar, dass die Person im Graben Hilfe benötigte – wenn es nicht schon zu spät wäre.

Sie sprintete los und gab Stefan eine harsche Anweisung: »Versuch einen Notarzt zu verständigen!«

In ihrem Kopf liefen wieder die Bilder von Pauls Geburtstagsfeier ab. Wie sie feierten, anstießen und wie Paul zusammenbrach. Als Michael Peters, der Gerichtsmediziner, sofort zur Tat schritt und Paul helfen wollte. Wie sie den Notarztwagen holten und Paul ins Krankenhaus brachten … und schließlich, wie alle Wiederbelebungsversuche erfolglos blieben und Paul in der Nacht verstarb. Gwen hatte das Gefühl, wie in Zeitlupe zu laufen und die Bilder in ihrem Kopf kamen ihr surreal vor. Als wenn die Bilder über ihr schwebten, während sie hier im Wald in den Bergen zu der Person im Graben lief und sie alles als Außenstehende beobachten würde. Dabei war sie mittendrin. Wie in Trance erreichte sie den Graben und kniete sich neben den reglosen Körper.

»Hallo«, schüttelte sie ihn, »können Sie mich hören?« Sie drehte die Person auf die Seite. Sie war kalt und steif. Sie blickte in ein entstelltes und verdrecktes Gesicht, legte aber ihr Ohr an seine Nase und beobachtete den Brustkorb. Es gab keinerlei Anzeichen von Atmung. Kein Anzeichen von Leben. Gwen setzte sich resignierend neben den Toten.

»Was ist mit dem Notarzt? Hast du jemanden erreicht? Ich denke, wir brauchen eher nur die Polizei und einen Leichenwagen!«, richtete sie die ersten Worte an Stefan, als er auf sie zukam. Dann bemerkte sie, wie Phil immer noch starr die Szene beobachtete. Sie musste ihm eine Aufgabe geben, um ihn abzulenken.

»Phil, kannst du feststellen, wo wir hier sind und wie weit es bis zum nächsten Haus ist?«

Stefan deutete auf sein Handy: »Überhaupt kein Empfang, Gwen. Wir müssen irgendwie anders die Polizei informieren.«

»Ich habe auch keinen Handyempfang, Mama, aber durch GPS weiß ich ja, wo wir sind. Lebt er noch?«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, aber lass mich kurz überlegen.«

Die Bilder in ihrem Kopf starteten aufs Neue. Gwen schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Ihre Gedanken waren wieder im Hier und Jetzt angekommen.

»Stefan, du bleibst hier und bewachst die Fundstelle. Ich gehe mit Phil ins Dorf und hole die Polizei. Phil, kannst du dir die Position von hier auch merken, damit wir wieder zurückfinden?«

»Klar, schon erledigt!«

Gwen gab Stefan noch einen Kuss und umarmte ihn zur Verabschiedung. »Wir beeilen uns und sind bald zurück«, versprach sie.

»Du bist ja wie ausgewechselt«, flüsterte er Gwen ins Ohr, als sie die Umarmung lösten.

Gwen blickte ihn mit wachen Augen an. »Ja, ich fühle auch gerade, dass ich mich nützlich machen kann.«

»Dann geh! Desto schneller seid ihr wieder hier!«

Sie winkte Stefan zu und fasste Phil an der Hand. Dann ließ sie sich von ihm führen, da er mit seinem Handy den Weg kannte.


Nach einer guten Stunde Fußmarsch erreichten sie den nächsten Ort. Zwischenzeitlich hatten sie wieder Telefonempfang und überlegten, die Polizei direkt zu rufen. Diese Idee verwarfen sie aber, da der Tote nicht mehr weglaufen würde. Stefan bewachte den Bereich, sodass auch andere Fußgänger hier keinen Schaden anrichten würden. Allerdings war es sehr unwahrscheinlich, dass weitere Fußgänger denselben Weg nehmen würden, denn sonst hätte jemand anderes den Toten eher gefunden. Da er mittlerweile aber schon kalt und steif war, überlegte Gwen, musste er schon vor einigen Tagen verstorben sein und seitdem war niemand mehr diesen Weg gegangen. Sollten sie die Polizei vielleicht doch direkt informieren? Dann würden sie sicherlich auch mit dem Polizeiwagen wieder zum Fundort zurückfahren und sich einiges an Fußweg sparen können. Phil würde dann eine wichtige Rolle übernehmen, da er nun mal die exakten Koordinaten kannte, sodass er die Polizisten leiten könnte. Es war für Phil wichtig, mal wieder ein Erfolgserlebnis zu haben und auch Gwen verspürte trotz Urlaub, Lust bei den Ermittlungen mitzuarbeiten. Allerdings würde Stefan das bestimmt nicht schmecken, dachte sie und verwarf den Gedanken erneut.

Sie erreichten die überschaubare Polizeistation. Hinter dem Tresen saß ein kleiner, dickbäuchiger, älterer Mann mit grauweißem Haar. Die müssen hier aber ganz schön lange arbeiten, bevor sie in den Ruhestand gehen dürfen, witzelte Gwen innerlich, als sie den Polizisten ansprach.

»Servus, guter Mann. Wir brauchen bitte ihre Hilfe.« Der Mann erhob sich und musterte Gwen und Phil ganz genau.

»Junges Fräulein, wie können wir Ihnen denn helfen? Ist Ihr Hündchen entlaufen?«, entgegnete er.

Gwen war perplex und wollte ihn zurechtweisen, entschied dann aber ihre Identität und ihren Dienstgrad vorerst für sich zu behalten.

»Sie werden es nicht glauben, aber wir haben in Ihrem schönen Alpendorf einen Toten gefunden. Mein …«, Gwen suchte nach der richtigen Bezeichnung ihres ›Beziehungsstatus‹ zu Stefan. »Meine Begleitung wartet oben beim Fundort und wir sind den Weg ins Tal gelaufen, um die Polizei zu informieren. Mein Sohn hat die genauen Koordinaten auf seinem Handy gespeichert und kann Sie zu der Stelle hinführen.« Gwen nahm Blickkontakt zu Phil auf und deutete ihm an, dem Polizisten den Ort mitzuteilen. Phil nahm sein Handy und öffnete die Navigation, um dem Polizisten die markierte Stelle zu zeigen.

»Hmm, das ist oben am ›Loser‹ … und Sie sind sicher, dass er tot ist?«

Gwen sah ihn ungläubig an und nickte nur still vor sich hin. Dieser Mann traute ihr ja nicht einmal zu, einen Toten von einem Lebendigen zu unterscheiden.

Gemächlich wandte sich der Polizist um, als wenn er demonstrativ sagen wollte, dass sie sich bei einem Toten ja nicht mehr beeilen mussten. Er schien etwas zu suchen und sortierte mehrere Blätter in verschiedene Ablagen. Zwischendurch schüttelte er immer mal wieder den Kopf. Gwen dachte nur an Stefan und blickte auf ihre Uhr. Mittlerweile waren schon fast eineinhalb Stunden vergangen und die Dämmerung würde irgendwann einsetzen, daher entschied sie, hier etwas mehr Geschwindigkeit hinein zu bekommen.

»Guter Mann, mein Freund wartet dort oben und wenn wir nicht erst in der Dunkelheit dort aufkreuzen wollen, so sollten wir langsam die Beine unter die Arme nehmen.« Hatte sie eben ›mein Freund‹ gesagt? Gwen lächelte.

»Sie haben es aber eilig. Der läuft uns schon nicht weg. Ich suche nur die Verfahrensanweisung für einen solchen Fall, denn bisher hatten wir so etwas noch nicht in unserem ›Kuhdorf‹, Madame!« Wie schnippisch jemand doch werden kann, reflektierte Gwen, und es war ihr mittlerweile egal, was der Kerl von ihr dachte. Sie holte ihren Ausweis aus der Tasche und knallte ihn auf den Tresen.

»Mein Name ist Gwen Fisher und ich wohne in Deutschland. Ich bin Kriminalhauptkommissarin am LKA und ich weiß, was zu tun ist.« Phil starrte seine Mutter erschrocken an. So aufbrausend hatte er sie noch nie erlebt. Zumindest nicht außerhalb seines Jugendzimmers, wenn es mal wieder ums Aufräumen ging. »Rufen Sie bitte einen Kollegen zu Hilfe und einen Krankenwagen. Schnappen Sie sich ein Funksprechgerät, die Wagenschlüssel und dann lassen Sie uns aufbrechen!«

Der Polizist zuckte zusammen, als Gwen mit ihren Anweisungen startete und begutachtete ihren Ausweis. Ohne in Hektik auszubrechen, nahm er den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer und informierte seine Kollegen, dass er die Polizeistation schließen würde, um einem gemeldeten Vorfall mit einem Toten nachzugehen. Er wäre unterwegs per Funk zu erreichen. Er gab den ungefähren Ort durch und verabschiedete sich. Danach funkte er offensichtlich das nächste Krankenhaus an und informierte auch die Kollegen über den Einsatzplan und den Fundort. Sie würden sich dort treffen.

»Fahren wir allein?«, fragte Gwen fassungslos.

»Wir sind hier nicht so üppig mit Personal ausgestattet, wie Sie es wahrscheinlich in der Stadt sind. Kommen Sie, ich fahre.« Mit diesen Worten schnappte sich der Polizist die Wagenschlüssel vom Tresen und sie verließen die Station. Per Funk informierte er seine Kollegen, dass sie nun unterwegs waren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie den Fundort des Toten. Stefan hatte es sich bei der Leiche gemütlich gemacht, wenn man dies überhaupt so sagen konnte. Er saß im Graben und beobachtete die Umgebung. Als er den Streifenwagen die Steigung heraufkommen sah, stand er auf und gab ihnen Zeichen zu ihm zu kommen. Der dickbäuchige Polizist stieg aus und kam auf Stefan zu. Gwen und Phil folgten ihm.

»Ich bin Bezirksinspektor Wedelmaier. Ich bin der dienstführende Wachmann in der Polizeidienststelle, in der Ihre Kollegin diesen ›Vorfall‹ gemeldet hat. Sie hat auf der Fahrt schon von Ihrem Urlaub hier bei uns in Österreich erzählt und dass wir quasi Kollegen sind. Haben Sie hier etwas angefasst oder verändert? Sie werden verstehen, dass ich das der Form halber fragen muss?«

Stefan nickte und reichte seinem österreichischen Kollegen die Hand. »Ich bin Kriminaloberkommissar Schick vom LKA im Norden Deutschlands. Wir freuen uns, Ihnen helfen zu können und ›nein‹, ich habe nichts verändert«, gab er lächelnd zu Protokoll.

»Sie werden uns nicht zu helfen brauchen. Wir haben alle Mittel, um diesen Fall selbst aufzuklären«, antwortete Wedelmaier kühl und schritt zu dem Toten. Mit den Händen in den Taschen beäugte er die Leiche, ohne sich ihr auch nur einen Schritt zu weit zu nähern.

Stefan blickte Gwen fragend an, die nur mit den Schultern zuckte und den Mund zusammenkniff.

Phil bemerkte als erstes den heranrollenden Krankenwagen und wies ihn an zu halten. Zwei junge, blonde, gut trainierte Männer stiegen aus, nahmen ihre Notfallkoffer mit und gingen zügig zu dem Beamten. Die drei kannten sich offensichtlich sehr gut, bemerkte Gwen, denn ohne sich vorzustellen, schüttelten sie nur kurz die Hände.

Nach wenigen Minuten hatte die Besatzung des Krankenwagens das Offensichtliche festgestellt. Der Mann war tot.

Stefan wandte sich flüsternd an Gwen: »Wenn der Mann tot ist und die Todesursache nicht offensichtlich ist, sollte man da nicht vorsichtig agieren und vom Schlimmsten ausgehen?«

Gwen antwortete nickend: »Ja, so würden wir das in Kiel handhaben, aber offensichtlich haben diese Almpolizisten eine andere Herangehensweise.«

»Die Kollegen nehmen den Toten mit und bringen ihn in die Gerichtsmedizin nach Salzburg, um die Todesursache festzustellen. Wir brauchen bitte noch Ihre Kontaktinformationen und eine Aussage, wie Sie den Toten gefunden haben. Dann ist die Sache für Sie erledigt und Sie können ihren Urlaub fortsetzen.«

Phil, Stefan und Gwen machten dem Bezirksinspektor gegenüber alle ihre Aussagen und er notierte sich flüchtig ein paar wenige Stichworte. Es war ihm anzumerken, dass er endlich Feierabend machen wollte, der Tote ihm den Feierabend schon ausreichend verdorben hatte und er sich nicht weiter mit den Besserwissern aus Deutschland abgeben wollte. Die Leiche war mittlerweile abtransportiert worden und als die drei mit ihren Aussagen fertig waren, fragte Wedelmaier so freundlich er konnte, ob er die drei noch mit hinunter ins Tal nehmen oder woanders hinbringen könnte. Da es bereits dämmerte und sich der Rückweg sonst bis in die Dunkelheit hinziehen würde, nahmen sie dankbar an. Wedelmaier setzte die Familie an ihrer Hütte in der Siedlung am Fuße des ›Loser‹ ab, bedankte sich förmlich, aber nicht herzlich für die Zusammenarbeit und verschwand in der Dunkelheit.

»Was war das denn für eine Vorstellung?«, fragte Gwen ungläubig.

»Andere Länder, andere Sitten«, gab Stefan schmunzelnd zurück.

Phil sah beide amüsiert an, denn auch er hatte verstanden, dass es in Deutschland auf Grund der vielen Vorschriften sicherlich eine andere Prozedur gegeben hätte, um mit der Situation umzugehen. Dies aber, würde nun ein Problem der österreichischen Behörden sein.

♦♦♦

Der Bezirksinspektor saß in seiner kleinen Amtsstube und spielte ein Spiel auf seinem Mobiltelefon, als es klingelte. Er unterbrach das Spiel, erkannte die Nummer und nahm den Anruf entgegen.

»Wedelmaier. Was habt ihr herausgefunden?«

»Herr Bezirksinspektor. Hier ist Luisa Steiner von der Gerichtsmedizin in Salzburg. Ich habe das Ergebnis der Untersuchungen für Sie.«

Luisa Steiner war Anfang dreißig, zierlich und hatte blonde, kurze Haare. Es war ihre erste Anstellung nach ihrem abgeschlossenen Studium und als Neuankömmling in der Gerichtsmedizin wurde ihr die Ehre zuteil, Untersuchungsergebnisse telefonisch durchzugeben. Ihre Vorgesetzten verfassten die Berichte oder unterschrieben solche, delegierten die Telefonate aber an ihre jüngeren Teammitglieder. In diesem Fall traf es Luisa, die nervös mit der Zunge an ihrer kleinen Zahnlücke spielte, während sie die Reaktion abwartete.

»Berichten Sie!«

Der Bezirksinspektor war offensichtlich schon ungeduldig und wollte nicht länger auf die Folter gespannt werden oder er war einfach nur ein unhöflicher und unangenehmer Zeitgenosse. Soviel Menschenkenntnis besaß Luisa, um auch am Telefon die Stimmung zweifelsfrei einzuschätzen. Also kam sie gleich zum Punkt.

»Zuerst kann ich berichten, dass wir die Identität des Toten bestimmen konnten. Wir glichen seine Fingerabdrücke mit den internationalen Datenbanken ab und hatten einen Treffer, da er einen neuen Reisepass besaß. Hierfür werden ja seit einigen Jahren biometrische Merkmale als zusätzliche Identifikationsmöglichkeiten gespeichert. Sowohl sein Gesicht als auch seine Fingerabdrücke konnten wir so sehr schnell in Einklang bringen und bekamen seinen Namen. Es handelt sich um Andreas Schörff. Er verbrachte seinen Urlaub hier bei uns in Österreich. Er war ein selbstständiger Sicherheitsberater aus Deutschland. Schörff hatte eine Schwester. Vielleicht könnten sie in der Zwischenzeit ihre Kontaktinformationen ausfindig machen?«

»Später! Sehr gut bisher …«, unterbrach sie Wedelmaier herrisch, der diesen Fall so schnell wie möglich abschließen wollte, »… irgendwelche Verletzungen oder war es ein natürlicher Tod?«

»Dazu wollte ich gerade kommen, Herr Bezirksinspektor. Außer einigen Schürf- und Schnittwunden in seinem Gesicht, an den Handinnenflächen und an seinen Knien, konnten wir keine Anzeichen von äußerer Gewaltanwendung feststellen. Wie es scheint, war er beim Joggen, als er stürzte. Vielleicht war ihm schwindelig oder er hatte einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. Ohne weitere Untersuchungen werden wir uns hier aber nicht festlegen können. Ich wollte Sie aber so schnell wie möglich informieren, damit Sie erste Anhaltspunkte für Ihren Bericht haben. Sobald wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben, werde ich mich wieder melden. Vielleicht bekommen wir durch die Obduktion weitere Anhaltspunkte, wie er gestorben ist.«

Wedelmaier merkte, dass das Gespräch beendet war und antwortete: »Tun Sie das, Fräulein!« Er legte auf.

Jetzt kam der Teil, den er am meisten hasste. Er musste seinen Bericht verfassen. Warum hatte er nur immer Dienst, wenn es solche außergewöhnlichen Vorfälle gab? Sein Chef würde ihm so lange keine Ruhe geben, bis der Bericht geschrieben und der Fall abgeschlossen war. Er war immer so penibel und hing an seinen Fersen, da er es nicht leiden konnte, wenn die Dinge lange offen waren oder vor sich hergeschoben wurden.

Wedelmaier tippte auf seiner alten Schreibmaschine. Seine beiden Zeigefinger suchten Buchstabe für Buchstabe und schlugen die jeweiligen Tasten an. Seine Vorgesetzten waren der Meinung, dass sich hier so wenig Fälle ereigneten, dass sich weder eine Anbindung an das Datennetz der Polizei und Gendarmerie noch die Anschaffung eines Computers lohnte. Für die drei bis vier Berichte im Jahr war es zumutbar die gute alte Schreibmaschine zu bemühen.

Nachdem er das Unfallformular, welches seiner Meinung nach am besten passte, mit den vorhandenen Informationen ausgefüllt hatte, zog er den Zettel zwischen den Walzen heraus und begutachtete das Papier sowie seine zwei Durchschläge. Wedelmaier legte es zur Seite und nahm sein Handy zur Hand, um sich weiter seinem Spiel zu widmen. Er würde warten müssen, bis sich die Gerichtsmedizin aus Salzburg wieder melden würde, um über die Umstände des Todes zu berichten. Bis dahin bräuchte er sich keine Gedanken um irgendwelche Untersuchungen zu machen und auch bei einem natürlichen Tod, würde der Fall sehr schnell zu den Akten gelegt werden können.


Der Tag neigte sich dem Ende und der Bezirksinspektor wollte zusammenräumen, als es erneut klingelte. Hastig nahm Wedelmaier das Telefon ab und blaffte in den Hörer.

»Was können Sie mir berichten?«

»Wie bitte? Wedelmaier, was erlauben Sie sich? Können Sie sich nicht vernünftig melden?«

Der Chefinspektor! DER hatte ihm gerade noch gefehlt. Karl Oberstohner erkundigte sich gerne nach dem Stand der Untersuchungen, insofern er davon wusste. Ansonsten ließ er diese Zweigstelle der Polizei, in der sehr selten etwas Aufregendes passierte, links liegen. Wedelmaier grübelte, wie sein Vorgesetzter nur so schnell davon Wind bekommen haben konnte. Er hatte geplant, ihn am nächsten Tag von dem neuen und sogleich abgeschlossenen Vorfall zu unterrichten, aber irgendwie wusste er bereits Bescheid. Wedelmaier entschied sich für die Flucht nach vorne, denn ein Versteckspiel mochte Oberstohner gar nicht. Hoffentlich würde sein Feierabend nicht darunter leiden. Der Chefinspektor war ein kleiner, stämmiger Mann, Anfang fünfzig mit dunklem Haar. Ihm machte niemand so schnell etwas vor und er war sehr fordernd.

»Herr Chefinspektor Oberstohner, schön, von Ihnen zu hören. Ich hätte mich morgen auch gleich bei Ihnen gemeldet.«

»Hören Sie mit den Höflichkeitsbekundungen auf und berichten Sie mir von dem toten Jogger! Warum wollten Sie mir erst morgen davon berichten?«

»Nun ja, die Sache ist die. Ich warte noch auf weitere Untersuchungsergebnisse und ich hatte gedacht, dass diese mir nun durchgegeben werden würden. Mit Ihnen hatte ich da gar nicht gerechnet.«

»Das meiste weiß ich bereits. Eine junge Dame aus der Gerichtsmedizin in Salzburg hat mich bereits auf den neuesten Stand gebracht. Ein flottes Mädchen. Weiß, was sich gehört!«

Diese Anmerkung ließ Wedelmaier unkommentiert. Es brachte nichts, seinem Vorgesetzten zu widersprechen. Er hatte sowieso immer recht und saß am längeren Hebel. Bis zu seiner Pensionierung wollte Wedelmaier nichts anbrennen lassen.

»Das ist gut, Herr Chefinspektor, dann wissen Sie ja bereits Bescheid. Die Untersuchungen laufen noch, um die Todesursache genauer zu bestimmen.«

»Richtig. Was haben Sie bisher zu der Schwester herausgefunden?«

Oh weh, die Schwester! Die hatte er über seinem Spiel am Handy ganz vergessen.

»Ja, die Schwester. Na ja, wenn wir die Todesumstände kennen, werde ich Sie informieren.«

»Haben Sie denn bereits mit den deutschen Behörden Kontakt aufgenommen, um die Schwester ausfindig zu machen?«

Wedelmaier merkte, dass das kein gutes Ende nehmen würde. Ein Gebilde aus noch mehreren kleineren Flunkereien würde sicherlich sehr bald zusammenbrechen. Er entschied sich nahe an der Wahrheit zu bleiben.

»Noch nicht. Haha. Hier war noch so viel Papierkram zu erledigen. Der Bericht und so. Sie wissen schon. Nicht wahr? Hehe.« Der Bezirksinspektor versuchte die Situation durch etwas gekünsteltes Lachen zu entschärfen, was aber nicht den gewünschten Effekt hatte.

»Wedelmaier! Sie fauler Hund! Erzählen Sie mir nicht, dass es zu viel verlangt gewesen wäre, heute schon mit den deutschen Behörden Kontakt aufzunehmen und eine Wohnortbestimmung der Schwester durchführen zu lassen. Das kann doch nicht wahr sein. Ich werde morgen Vormittag um 10:00 Uhr bei Ihnen sein! Dann erwarte ich Ergebnisse!«

Wedelmaier hielt den Hörer am ausgestreckten Arm von seinem Ohr entfernt, da die Lautstärke des Chefinspektors mit jedem Wort zunahm. Dann war die Leitung tot.

♦♦♦

Der Abend neigte sich dem Ende und sie hatten die aufregenden Ereignisse des Tages zusammen besprochen. Gwen, Stefan und Phil saßen bei einer Flasche Wein und einer Cola in ihrem Appartement und amüsierten sich.

»Du hättest seine Augen sehen sollen, als ich ihm sagte, ich sei aus Deutschland und eine Kollegin. Er merkte dann endlich, dass man mit mir nicht so umspringen kann.«

»Der Dorfpolizist bewegte sich dann überhaupt erst einmal«, warf Phil ein. »Sonst saß er ja nur an seinem Schreibtisch. Ich glaube nicht, dass er viel an die frische Luft kommt.«

»Viel scheint hier wirklich nicht zu passieren«, stimmte Stefan Phil zu. »Ihr glaubt es kaum, aber nachdem ihr losgegangen wart, um Hilfe zu holen, ist hier oben keine Menschenseele vorbeigekommen. Die Leiche hätten sie bestimmt wochenlang oder sogar monatelang nicht gefunden, wenn sich hier niemand die Mühe macht auf den Berg zu wandern.«

»Sicherlich ist noch nicht die richtige Saison angebrochen«, gab Gwen zu bedenken.

»Na ja«, entgegnete ihr Stefan, »das Reisebüro meinte schon, dass es eigentlich ein schöner Wintersportort war, der aber auch in den Sommermonaten gut besucht sei. Vielleicht will nicht jeder der Besucher den ›Loser‹ erwandern, dass kann schon sein, aber, dass so gar niemand in den ganzen Stunden vorbeikam ist schon komisch.«

»Seltsam war ja auch, dass sie keinerlei Spuren gesichert hatten, als die Polizei endlich angekommen war«, wechselte Gwen das Thema.

»Das ist aber verständlich, Gwen. Überleg mal, es ist doch kein Verbrechen passiert. Ein toter Jogger im Wald. Keine offensichtliche Gewalteinwirkung. Nur ein paar Schrammen durch seinen Sturz. Da hätten wir in Deutschland auch nicht gleich das komplette Programm mit der Spurensicherung aufgefahren.«

»Vermutlich hast du recht. Aber vielleicht wurde er gejagt und ist an Erschöpfung gestorben.«

»Du hast wirklich eine blühende Fantasie, Mama«, mischte sich Phil ein, »Und wer sollte ihn gejagt haben?«

»Vielleicht ein wildes Tier, ein Kampfhund oder etwas Ähnliches.«

Stefan versuchte die Schauergeschichten im Keim zu ersticken. »Nun hört aber beide mal auf. Wir sollten uns an die Fakten halten und die sprechen eine eindeutige Sprache. Ein toter Jogger starb wahrscheinlich an Überlastung, da es keine äußeren Anzeichen eines gewaltsamen Todes gab. Punkt! Die hiesige Polizei wird das bestimmt bestätigen.«

»Das klingt vernünftig und wir sollten morgen gleich noch einmal auf der Wache nachfragen, ob sie noch weitere Informationen von uns brauchen oder wir anderweitig helfen können.«

Stefan sah Gwen ungläubig an. »Du willst hier in deinem Urlaub deine Arbeitskraft zur Verfügung stellen? Gwen, das schaffen die Jungs hier auch allein und außerdem gibt es für uns hier nichts zu helfen.«

»Wie kannst du das wissen? Wir sollten mindestens einmal nachfragen. Unser Urlaub ist in einigen Tagen beendet und wir müssen uns wieder unserem alten Trott ergeben. Da ist doch etwas Abwechslung angebracht, oder?« Gwen legte ihren Kopf auf die Seite und sah Stefan mit ihren leuchtend grünen Augen an. Sie strich sich eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht und taxierte ihn verführerisch.

»Ich freue mich, dich so euphorisch zu sehen, aber wir wollten uns hier entspannen und nicht in einen Kriminalfall, der keiner ist, verwickeln lassen.«

Ohne etwas zu sagen schmiegte sich Gwen an Stefans Brust und schnurrte wie eine Katze.

»Du kannst mich nicht so einfach um den Finger wickeln, Gwen. Wir sollten realistisch bleiben.«

Abrupt stieß sich Gwen von Stefan ab und setzte sich wieder neben ihn. »Du bist immer so vernünftig, so strukturiert, so planvoll. Kannst du nicht auch einfach mal deinem Herzen nachgeben und machen, wozu du Lust hast? Paul stand immer zu mir und wir haben allerhand gemeinsam gemacht.« Eine Träne entstand in ihrem Augenwinkel, aber Gwen ließ sich nichts anmerken.

»Paul hat mich immer unterstützt. Er stand zu mir, auch wenn es manchmal sicherlich unsinnige Dinge gewesen waren. Aber wir hielten zusammen und haben die Dinge gemeinsam angepackt. Ich dachte, ich kann auf dich zählen. Als mein Partner im Beruf und auch in meinem Leben?« Die Träne lief ihr an der Wange herab. Stefan fing sie mit seinem Zeigefinger zärtlich auf.

»Aber natürlich kannst du dich auf mich verlassen. Ich sehe nur keinen großen Sinn darin, sich in die Polizeiarbeit hier vor Ort noch einzumischen. Aber wenn du meinst, dass wir es versuchen sollten und du dich dann besser fühlst, dann bin ich mit dabei.« Seine warme Hand führte ihren Kopf vorsichtig zu seiner Brust. Gwen ließ es geschehen.

»Dann gehen wir drei morgen nochmal zu dem Dorfpolizisten und mischen ihn ordentlich auf?«, vergewisserte sich Phil.

»Bis auf das ›aufmischen‹, werden wir das morgen nochmal in Angriff nehmen«, korrigierte Stefan ihn.

Phil trank seine Cola aus. »Prima, ich freue mich und ich gehe schon mal ins Bett, damit ich morgen bei den Ermittlungen ausgeschlafen bin«, bemerkte Phil neckisch.

Gwen blickte Phil nach und bemerkte erneut, wie ähnlich ihr Sohn ihr wurde. »Gute Nacht mein Großer!«

♦♦♦

Der Bezirksinspektor hatte die Wache am Abend zuvor direkt nach dem Anruf seines Chefs verlassen. Er sah keinen Sinn mehr darin, die deutschen Behörden noch am Abend für einen Fall zu alarmieren, der am nächsten Morgen geschlossen werden würde. Die Rückführung nach Deutschland und die Unterrichtung der Angehörigen könnten die nachfolgenden Behörden veranlassen. Darum würde er sich als kleiner Polizist nicht kümmern müssen. Also war Alois Wedelmaier wie immer um 08:00 auf der Wache und hatte somit noch zwei Stunden Zeit, um für seinen Chef den Bericht zu verfassen.

Das Telefon klingelte. Es war fast, als hätte es auf ihn gewartet.

»Bezirksinspektor Wedelmaier. Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Herr Bezirksinspektor. Hier ist Luisa Steiner von der Gerichtsmedizin in Salzburg. Ich habe das endgültige Ergebnis der Untersuchungen für Sie.«

»Sehr gut Frau Steiner, was haben Sie für uns?«

Luisa Steiner hielt für einen Moment inne, denn irgendwie verlief das Gespräch am letzten Abend ganz anders, überlegte sie. Aber vielleicht hatte er nur einen anstrengenden Tag gehabt und klang deshalb weitaus unhöflicher als heute. Sie wischte die Gedanken fort und fasste die Untersuchungsergebnisse zusammen.

»Wie gestern schon berichtet, gab es keine äußeren Anzeichen von extremer Gewalteinwirkung, die seinen Tod verursacht haben könnte. Leichte Abschürfungen und Schnittverletzungen an den Händen, den Knien und in seinem Gesicht, rühren vom Sturz her. Weiterhin haben wir Röntgen- und MRT-Untersuchungen durchgeführt, um festzustellen, ob es noch innere Verletzungen gab. Leider negativ. Die Leichenflecken im Brustbereich und an der Schulter belegen, dass der Tod eintrat und der Körper danach nicht mehr bewegt wurde. So, wie die Kollegen des Notfalldienstes mir den Fall schilderten, decken sich unsere Untersuchungen mit den Angaben, dass der Körper in einem Graben lag.«

Wedelmaier merkte, wie er wieder ungeduldig wurde. Konnte das Mädchen nicht schneller auf den Punkt kommen? Musste sie ihn mit den Einzelheiten konfrontieren, die nur erklärten, dass es ein Sportunfall war? Er wollte sie gerade unterbrechen, als er sich auf die Zunge biss. Wahrscheinlich würde sie auch noch seinen Vorgesetzten informieren und wenn er nun unfreundlich werden würde, so wäre das wieder ein gefundenes Fressen für den Chefinspektor. Bei ihm war er nach dem Anruf von gestern Nachmittag sowieso schon unter Beobachtung und wollte sich nicht noch einmal in die Nesseln setzen.

Also hörte sich Wedelmaier sagen: »Das ist alles sehr interessant Frau Steiner, was haben Sie noch herausgefunden?«

»In der Tat waren das noch nicht alle Untersuchungen. Das Ungewöhnlichste wollte ich mir bis zum Schluss aufsparen.«

Wedelmaier schwankte zwischen Neugier und Abneigung. Zum einen wollte er natürlich alle Details wissen, um seinen Bericht zu schreiben, zum anderen verhieß es nichts Gutes, wenn noch ›ungewöhnliche‹ Dinge während der Untersuchung auftauchten. Wahrscheinlich würde sein Bericht wohl noch etwas länger werden müssen.

»Spannen Sie mich nicht so lange auf die Folter, Frau Steiner. Was gab es für ungewöhnliche Ergebnisse?«, fragte er so freundlich wie nur irgendwie möglich.

»Wir haben eine Reihe von Drogentests und Blutuntersuchungen gemacht. Der Mann hatte einen ganzen Cocktail an Substanzen in sich. Aber der Reihe nach. Er hatte fast eintausend Euro in bar bei sich und er hatte Spuren von Heroin an den Händen. Das sind aber Konzentrationen nur kurz über der Nachweisgrenze gewesen. Das bei ihm gefundene Geld war zum Beispiel kontaminiert. Vielleicht würden wir an Ihren Händen auch Drogen feststellen können, wenn Sie den falschen Geldschein in den Händen gehabt haben.«

Wedelmaier hielt sich im Zaum und ließ diese Anspielung durchgehen. Die junge Dame vermutete bestimmt keine Bestechlichkeit bei ihm und unterstellte ihm nichts. Es war sicherlich nur das Gerede einer jungen, angehenden Gerichtsmedizinerin.

»Das könnte jedem von uns passieren, da haben Sie sicherlich recht. Aber Sie sagten, Sie hätten noch mehr Drogen gefunden?«

»Ich sprach von weiteren Substanzen. Keine Drogen, Herr Wedelmaier. Nur um ganz sicher zu gehen, werden wir eine Haaranalyse durchführen, um darin einen Drogenkonsum nachzuweisen oder auszuschließen. Die Ergebnisse erhalten Sie in einigen Tagen. Die Blutuntersuchungen waren aber wesentlich aufschlussreicher.

Wir fanden Moxifloxacin, Refecoxib, Lumiracoxib und Diclofenac in hohen Dosen. Moxifloxacin ist ein Gyrasehemmer der vierten Generation, wohingegen Refecoxib ein nichtsteroidales Antirheumatikum ist, welches zur Gruppe der COX-2-Hemmer zählt. Für Lumiracoxib gilt eigentlich das Gleiche. Es ist ein nichtsteroidales Antirheumatikum zur Behandlung rheumatischer Erkrankungen. Diclofenac hingegen, zählt zur Gruppe der Nichtopioid-Analgetika, hemmt aber auch Cyclooxygenasen, allerdings nicht selektiv.«

Wedelmaier hatte schon vor einiger Zeit den Faden verloren und Frau Steiners Worte, die ihn durch das Telefon erreichten, glichen einer Wolke aus Geräuschen, die für ihn keinen Sinn ergaben. »Wenn ich kurz unterbrechen dürfte, Frau Steiner? Was genau bedeutet das für unseren Toten?«

»Entschuldigen Sie bitte. Ich bin zu tief in mein Fachchinesisch abgedriftet. Es handelt sich hier um ein Antibiotikum und mehrere Schmerzmittel.«

Wedelmaier verdrehte die Augen und tippte mit dem Bleistift nervös auf seine Schreibtischunterlage.

»Es ist mehreres ungewöhnlich an dem Fund. Zuerst handelt es sich um Konzentrationen, die bei sachgemäßer Einnahme gar nicht möglich sind.«

»Vielleicht wollte er sich umbringen?«, warf Wedelmaier ein.

»Damit bringen Sie sich nicht so leicht um. Aber lassen Sie mich weiter zusammenfassen. Bereits im Jahre 2004 wurde das Medikament Refecoxib nach einer negativen Langzeitstudie vom Markt genommen. In besagter Studie häufte sich das Vorkommen von Herzinfarkten, Angina Pectoris und Schlaganfällen. Der Konzern wollte damals kein Risiko eingehen und vertrieb das Präparat nicht mehr.

Ähnliches gilt für Lumiracoxib. Dieses wurde nach dem Bekanntwerden von schweren Nebenwirkungen im Jahre 2007 ebenso vom Markt genommen.

Weiterhin wurde das Präparat Moxifloxacin 2008, wegen eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses, durch die Europäische Arzneimittelagentur nur noch für Ausnahmefälle zugelassen, wenn andere Antibiotika nicht verwendet werden dürfen oder können.

Diclofenac gibt es bis heute. Es ist verschreibungspflichtig und hilft bei leichten bis mittelstarken Schmerzen.«

»Ja, aber woher hat dann der Herr …«, Wedelmaier blätterte in seinen Zetteln auf dem Schreibtisch, »… Schörff diese ganzen Medikamente bekommen?«

»Das ist eine gute Frage und sicherlich etwas für die Polizei«, erwiderte Luisa neckisch.

»Mag sein, aber woran ist der Herr Schörff denn nun gestorben?«

»Er hatte eine ausgewachsene Myokarditis, eine Herzmuskelentzündung. Durch seinen Sport kam es zu Herzrhythmusstörungen und schließlich zu einem Herzinfarkt. Der Tod muss vor circa sechsunddreißig Stunden eingetreten sein.«

»Hatte er wegen dieser Myo-dings vielleicht das Antibiotikum genommen?«

»Eher unwahrscheinlich, denn eine Herzinsuffizienz wird durch Viren ausgelöst, gegen die ein Antibiotikum machtlos ist.«

»Und die Schmerzmittel?«

»Auch unwahrscheinlich, denn eine solche Erkrankung bleibt nicht selten unbeachtet, da sie keine Schmerzen verursacht. Wenn Symptome auftreten, dann ähneln sie eher einem grippalen Infekt. Aber es ist schon seltsam, dass er so viele verschiedene Präparate in so hohen Dosen in seinem Körper hatte. Und einige Medikamente waren schon nicht mehr auf dem Markt.«

»In der Tat sehr seltsam«, gab Wedelmaier zu. »Senden Sie mir bitte den vollständigen Bericht.«

»Gerne. Zu welcher E-Mail-Adresse?«

In solchen Momenten hatte er immer seinen Vorgesetzten verflucht. Sie sparten an allen Ecken und Enden und eben auch am Internet … und das im Informationszeitalter! Wedelmaier war innerlich stark erregt, was er jedoch gegenüber der jungen Gerichtsmedizinerin nicht äußerte.

Mit ruhigen und vorsichtig gewählten Worten antwortete er ihr: »Frau Steiner, leider kann ich Ihnen keine E-Mail-Adresse geben, aber eine Faxnummer hätte ich für Sie.«

Nach einer kurzen Pause erwiderte sie: »Aber gerne, kein Problem. Ich werde hier sicherlich noch ein solches Gerät auftreiben können.«

Nachdem sie die Nummer ausgetauscht hatten, bedankte sich der Bezirksinspektor und legte auf. Schon wenige Minuten später erreichte ihn der Bericht per Fax. Noch einmal überflog er die Seiten und notierte sich einige wichtige Punkte. Dann machte er sich missmutig daran, seinen Bericht zu ergänzen. Es hätte ein so übersichtlicher und einfacher Vorfall mit einer kleinen Aktennotiz werden können, aber da wurde ihm ein großer Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte noch viel zu tun, also machte er sich an die Arbeit.

Pünktlich um 10:00 Uhr tauchte der Chefinspektor auf der Wache auf.

»Guten Morgen Wedelmaier, was haben Sie zusammengebracht?«

»Guten Morgen Herr Chefinspektor. Ich kann Ihnen meinen fertigen Bericht geben.«

»Lassen Sie hören!«

»Ich habe alles in diesem Papier hier für Sie zusammengeschrieben.«

Er überreichte die drei Seiten seines Berichtes sowie den Bericht der Gerichtsmedizin an seinen Vorgesetzten, der diesen schnell überflog.

»Ich freue mich zu sehen, dass Sie schon so weit vorangekommen sind. Schließlich scheint dies nun ein Vorfall zu sein, dem wir intensiv nachgehen sollten. Wo war er in Österreich zu Besuch? Wen hat er getroffen? Hat er irgendwelche Verwandte hier? Was war sein Anliegen für seinen Aufenthalt? Viele Fragen, denen Sie in den nächsten Tagen nachgehen sollten. Wenn Sie dann vollumfänglich die ersten Untersuchungen abgeschlossen haben, können wir die Informationen an die zuständigen Behörden in Deutschland weitergeben. Und kümmern Sie sich endlich um das Auskunftsersuchen bei den deutschen Behörden, um die Schwester zu informieren.«

»Da haben Sie vollkommen recht, Herr Chefinspektor. Ich werde mich gleich daran machen, die fehlenden Antworten zusammenzutragen.«

So schnell der Chefinspektor erschienen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Während er auf dem Absatz kehrt machte, gab er noch ein flüchtiges »Danke, servus« von sich, und verschwand.

Wedelmaier ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken und seufzte: »Das werden lange Tage.«

♦♦♦

»Da bin ich mal gespannt, ob wir nicht doch helfen können.«

Gwen gab einfach nicht auf, überlegte Stefan, aber genau das liebte er an seiner Kollegin. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, so ging sie der Theorie, der Idee oder der Vorstellung so lange nach, bis sich entweder herausgestellt hatte, dass sie auf dem Holzweg war oder sie ihr Ziel erreicht hatte. Eine solche Beharrlichkeit hatte Stefan noch nie vorher bei irgendjemandem in seinem Umfeld feststellen können. Er hatte sich am Abend vorher seinem Schicksal ergeben, denn er hatte schnell gemerkt, dass er Gwen ihr Vorhaben nicht ausreden konnte. So hoffte er innerlich auf eine Absage, als sie die Wache betraten.

»Servus Herr Bezirksinspektor«, begrüßte ihn Gwen.

Wedelmaier schaute von seiner Schreibmaschine verblüfft auf, als er die bekannte Stimme wieder hörte. Er war einige Sekunden perplex und erstarrte, als er die beiden Kollegen mit ihrem Sohn die Tür hereinkommen sah. Dann aber rührte er sich und begrüßte sie.

»Die Kollegen aus Deutschland. Was kann ich denn für Sie noch tun? Ich dachte, Sie genießen ihre Ferien?«

Bevor Stefan noch etwas von sich geben konnte, fiel Gwen schon mit der Tür ins Haus.

»Wir hatten uns gestern Abend noch überlegt, ob wir bei den Ermittlungen nicht etwas helfen könnten. Es sah so aus, als wenn Sie den Laden hier allein schmeißen müssten und wir wollten Ihnen etwas unter die Arme greifen.«

Wedelmaier war außer sich vor Wut, denn niemand würde ihn als Dorfpolizisten hinstellen, dem man ›unter die Arme greifen‹ musste. Dann aber besann er sich eines Besseren. Er konnte der Situation sogar etwas Positives abgewinnen, wenn er es nur richtig anstellte. Die Kollegen kamen aus Deutschland, was wäre, wenn er ihnen den Fall einfach mitgeben würde? Dann hätte er nur noch sehr wenig damit zu tun und könnte den Fall schnell schließen. Dies würde dem Chefinspektor garantiert imponieren.

»In der Tat könnte ich ein wenig Hilfe gut gebrauchen, aber Sie machen doch Urlaub hier und ich möchte Sie nicht belasten.« Er wollte sich nicht lange mit Vorreden aufhalten und versuchte sein Ziel in kleinen Schritten zu erreichen.

»Das macht aber gar nichts, Herr Bezirksinspektor. Wir helfen gerne. Nicht wahr Stefan?«

Stefan nickte höflich, wohl wissend, dass sich hier nicht die erwartete Wendung abzeichnen würde.

»Also, wenn Sie wirklich helfen wollen?« Noch ein weiterer, kleiner Schritt.

»Ja, gerne. Was können wir tun? Was haben Sie bereits?«

Stefan resignierte. Der Damm war gebrochen und Gwen hatte ihren Kopf durchgesetzt. Sie würden sich hier einbringen können, um nicht zu sagen ›müssen‹. Nun gab es kein Zurück mehr.

Alois Wedelmaier brachte die Kollegen aus Deutschland auf den letzten Stand. Er fasste den Bericht der Gerichtsmedizin in wenigen Worten zusammen. Er erwähnte die Schwester, die in Deutschland lebte und auch das Auskunftsersuchen, welches er vor wenigen Minuten bei den deutschen Behörden gestellt hatte. Als letztes las er den Namen und die Adresse vor: »Andreas Schörff, Schulstraße 27 in Gettorf.« Er wartete die Reaktion ab.

»Gettorf? Das ist bei uns um die Ecke!« Gwen war ganz aufgeregt. »Der Fall würde wahrscheinlich sowieso auf unserem Tisch landen, da er im Einzugsgebiet des Landeskriminalamtes in Kiel liegt, wo wir beide arbeiten.«

»Das freut mich zu hören. Soll ich Ihnen eine Kopie der Akte anfertigen, damit Sie die Informationen mit nach Deutschland nehmen können? Sie könnten dann auch direkt die Schwester ausfindig machen. Vielleicht wohnt sie ja in der Nähe. Zumindest könnten Sie dann dem Medikamentenmissbrauch, so würde ich ihn mal bezeichnen, nachgehen. Ich würde dann die Akte hier in Österreich schließen und meinen Vorgesetzten informieren, wenn es recht ist?«

»Und ob uns das recht ist. Stefan, was meinst du?«

»Der Fall würde eh bei uns landen, um die seltsamen Umstände seines Todes zu hinterfragen. Dann können wir ihn auch gleich mitnehmen und du kannst dich auf der Rückfahrt schon einarbeiten.«

Gwen und Wedelmaier nickten fast synchron.

»Denken Sie bitte daran die Gerichtsmedizin zu informieren, damit die Haaranalyseergebnisse direkt zu meiner Mutter nach Kiel geschickt werden«, warf Phil neunmalklug ein.

Gwen und Stefan konnten sich das Lachen nicht verkneifen, denn Phil wollte ja beim ›Aufmischen‹ helfen. Der Bezirksinspektor schaute alle drei irritiert an und stimmte verkniffen mit in das Lachen ein.


Wieder in der Ferienanlage, machte sich Gwen über die Akte her. Viel war es bisher nicht. Sie beschrieb, wie der Bezirksinspektor durch Gwen von dem Vorfall informiert wurde. Ihre Adressdaten waren im Bericht hinterlegt, ebenso, wie Zeit und Ort des Auffindens von Herrn Schörff. Nach dem Abgleich seiner Fingerabdrücke hatte sich seine Identität schnell herausgestellt. Bis hierher deutete alles auf einen Sportler hin, der vielleicht an einer Überanstrengung oder an anderen unglücklichen Umständen zu Tode gekommen war. Es war klar, dass äußere Gewalteinwirkung als Todesursache ausschied. Der Bericht der Gerichtsmedizin wimmelte wie üblich nur so von Fachbegriffen und weder Gwen noch Stefan waren in der Lage, die Einzelheiten zu übersetzen und zu verstehen. Der Bezirksinspektor hatte zwar seine Erinnerung des Berichtes mit ihnen geteilt, aber Gwen fühlte sich unbehaglich, sich nur auf die Aussage eines Amateurs zu verlassen. Ziemlich schnell war somit klar, dass sie professionelle Hilfe brauchten. Gwen wollte nicht warten, bis sie zurück in Kiel und bei der Arbeit waren und hatte zum Telefon gegriffen, um ihren langjährigen Freund und Kollegen in der Gerichtsmedizin, Dr. Michael Peters, anzurufen. Dr. Peters war wie kein anderer in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte mit einfachen Worten zu beschreiben.

Gwen aktivierte das Freisprechen ihres Mobiltelefons, damit Stefan und Phil mithören konnten. Gwen las den Bericht der Gerichtsmedizin Stück für Stück vor. Bei allen Fremdworten und Fachbegriffen kam sie sich wie ein Anfänger vor, der versuchte seine ersten Worte zu lesen. Michael unterstützte sie, da er aus dem Kontext natürlich auf die richtigen Worte schließen konnte. Nachdem Gwen mit dem kompletten Bericht fertig war, fasste der Gerichtsmediziner die wichtigsten Erkenntnisse umgangssprachlich zusammen.

»Euer toter Jogger, Herr Schörff, litt an einer Herzmuskelentzündung. Die Medikamente, die er in seinem Körper hatte, waren nicht geeignet, um diese Erkrankung zu bekämpfen. Das heißt, es stellt sich die Frage, warum er die Präparate genommen hatte. Denkbar wäre, dass er eine Erkrankung hatte und diese mit den Medikamenten kurieren wollte. Dazu wäre normalerweise ›ein‹ Präparat ausreichend gewesen. Es hätte in wesentlich niedrigerer Dosierung angeschlagen und …«, er machte eine Kunstpause, um die Spannung zu steigern, »… er hätte Präparate genommen, die auch in Deutschland zugelassen waren.«

Stefan und Gwen sahen sich an. Ratlos. Was hatte das nun zu bedeuten? Warum nahm jemand teilweise nicht zugelassene Medikamente in hohen Dosen ein? Und woher hatte er diese? War die Überdosierung vielleicht nur ein Versehen oder verfolgte er ein Ziel mit der Einnahme?

»Michael, Herr Schörff war ja Sportler. Kann es sein, dass diese Medikamente zur Leistungssteigerung genommen worden waren?«, fragte Stefan, um der Auslotung der Optionen eine neue Richtung zu geben.

»Nein, Stefan. Die Substanzen sind komplett ungeeignet, um eine Leistungssteigerung oder gegebenenfalls auch einen Muskelaufbau zu bewirken. Als Sportler hätte er das gewusst. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass die Medikamente vielleicht sogar schuld an seiner Herzmuskelentzündung waren.«

»Wie das?«, fragte Phil ungläubig.

»Wenn ihr zum Beispiel an einem Infekt erkrankt seid und ein Antibiotikum nehmen müsst, so solltet ihr immer davon Abstand nehmen Sport zu treiben. Weder Kraft- noch Ausdauersport! Alles zusammen ist für den Körper zu anstrengend. Gegen eine Entzündung anzugehen und noch Leistung beim Sport zu zeigen. Eine Auswirkung könnte in der Tat eine Herzmuskelentzündung sein. Wenn ihr dann weiter Sport treibt, anstatt euch zu schonen, kann das Herz letzten Endes schlappmachen und ihr erleidet einen Herzinfarkt.«

Stefan nickte zustimmend und bestätigte Dr. Peters: »Davon habe ich auch schon gelesen.«

Gwen dachte laut weiter. »Das ist alles sehr mysteriös. Wenn er wirklich an einem Infekt litt und die Medikamente von einem Arzt erhalten hatte, hätte dieser ihn nicht auch über die Risiken aufgeklärt? Aber warum die Schmerzmittel? Und warum in den hohen Dosen?«

»Gebt mir bitte eine Minute, ich möchte etwas nachschauen«, bat Michael die Kollegen um Geduld.

»Das ergibt doch alles keinen Sinn«, fing Phil an.

»Nein, da hast du recht. Wir können uns da bisher auch keinen Reim drauf machen. Oder hast du noch eine geniale Idee, Gwen?«

Gwen schüttelte nachdenklich den Kopf, als Dr. Peters wieder das Wort ergriff.

»Ich habe mal nach Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente geschaut. Ihr werdet es nicht glauben.«

»Nun spann uns nicht auf die Folter«, forderte Gwen ihren Freund auf, auf den Punkt zu kommen.

»Eines der Medikamente wurde deshalb vom Markt genommen, weil es nach einer Langzeitanwendung zu Herzrhythmusstörungen kam. Hier ist nicht auszuschließen, dass das Herz auch einen Infarkt erleidet. Weiterhin erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarktes bei gleichzeitiger Einnahme des Antibiotikums und eines der Schmerzmittel. Bei den hohen Dosen, in denen er die Medikamente zu sich genommen hatte, geht meines Erachtens die Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt gegen einhundert Prozent. Es ist natürlich nicht mit Sicherheit zu sagen, dass es dazu kommt oder auch wann, aber das Risiko ist beträchtlich. Die Schmerzmittel haben bestimmt auch die Symptome der Herzinsuffizienz, wenn er überhaupt welche hatte, abgemildert.«

»Vielleicht nahm der die Drogen nicht absichtlich?«, warf Phil ein und die Erwachsenen schwiegen.

Irritiert sahen sie sich an und versuchten den neuen Aspekt zu verarbeiten und mit dem bisher Gehörten in Einklang zu bringen.

Stefan fasste den Gedanken als erster auf und versuchte ihn in den Kontext einzuordnen. »Wenn er nicht wusste, was er zu sich nahm, würde das erklären, warum er so eine hohe Konzentration in seinem Körper hatte. Ebenso wäre das eine plausible Erklärung, warum er diese spezifische Mischung genommen hatte. Allerdings erklärt das nicht die Absicht, warum ihm jemand diese Mixtur verabreichen wollte und woher die nicht mehr zugelassenen Medikamente stammten.«

Dr. Peters stimmte Stefan zu: »Das ist vollkommen richtig. Mich beschleicht das Gefühl, dass ihr da etwas Größerem auf der Spur seid und Gwen es bestimmt kaum erwarten kann, wieder in Kiel zu sein?«

Stefan sah Gwen an, die bis über beide Ohren strahlte.

»Da scheinst du richtig zu liegen, Michael«, gab Stefan mit einem Lächeln zu.

»Dann sehen wir uns in ein paar Tagen. Genießt die verbleibende Zeit. Ich freue mich auf euch.« Michael hatte aufgelegt.

Stefan sah Gwen an und stellte fest, dass ihre Traurigkeit wie verflogen war. »So war das zwar nicht geplant, aber mir scheint, dass du dich auf die Aufgabe freust.« Er nahm ihre Hand und griff auch die von Phil. »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit euch.« Alle drei lachten.

Der Urlaub war sowieso morgen zu Ende und Gwen konnte es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein, um erste Nachforschungen anzustellen. Sie plante in Gedanken schon die ersten Tage nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub, als ihr Telefon klingelte. Die Telefonnummer war eine lokale Nummer, welche sie nicht kannte. Es war der Chefinspektor Karl Oberstohner. Er hatte mit Alois Wedelmaier telefoniert und erfahren, dass dieser den Fall an die deutschen Kollegen abgegeben hatte. Sie würden sich um alles Weitere kümmern. Er konnte es kaum glauben, dass er es tatsächlich wieder hinbekommen hatte, die Arbeit von seinem Schreibtisch an andere weiterzugeben. So rief er Gwen an, um sich die Bestätigung zu holen und ihr viel Erfolg zu wünschen. Er versprach ihr, sie zu unterstützen, falls noch Fragen aufkommen sollten oder weitere Untersuchungen in Österreich notwendig wären. Die Ergebnisse der Haaranalyse würden sie selbstverständlich bekommen, sobald sie zur Verfügung stünden.

Gwen bedankte sich und legte auf. Sie würde noch Koffer packen müssen, aber diesmal freute sie sich darauf. Es ging nach Hause und sie hatte einen neuen Fall.

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