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ОглавлениеKapitel 6
Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub ist normalerweise der Schwerste. Gwen aber freute sich, als sie im Landeskriminalamt in Kiel ankam und ihr Büro betrat. Die Kollegen begrüßten sie fröhlich. Auch sie hatten mitbekommen, in welcher Verfassung Gwen in den letzten Wochen gewesen war und freuten sich, sie wie ausgewechselt zu sehen. Ein Urlaub konnte eben doch Wunder bewirken, waren sie sich einig.
Kaum hatte sich Gwen in ihren Schreibtischsessel fallen lassen, stand auch schon Stefan in ihrem Büro.
»Willkommen zurück, lange nicht gesehen«, schäkerte er.
»Und, was war so alles los, als ich im Urlaub war? Das LKA steht ja noch! So schlimm kann es also nicht gewesen sein«, flachste sie.
»Lass uns erst mal einen Kaffee trinken und mit den Kollegen sprechen, bevor wir uns wieder in den Trubel stürzen.
Gwen folgte Stefan an die Kaffeemaschine der Abteilung. Auch andere Kollegen hatten sich dort schon getroffen, um die neuesten Entwicklungen zu diskutieren. Wie üblich gab es genügend Mitarbeiter, die immer nur das Negative sahen und sich über alles beklagten. Andere wiederum waren froh, Gwen so fröhlich und gesund nach ihrem Urlaub wiederzusehen. Mit diesen Kollegen hatte Gwen keine Probleme ins Gespräch zu kommen. Gwen erzählte von ihren Erlebnissen, vermied es aber ihre Frustrationen und Tiefpunkte zu erwähnen. Sie war stolz auf ihren Sohn, erzählte von seinen Geocachefunden und wie er sich ihr und Stefan angeschlossen hatte, um, wie er selbst sagte, die Dorfpolizei ›aufzumischen‹. Hier spürte jeder der Anwesenden, wie Gwen schon jedes Detail des Berichtes verinnerlicht hatte und loslegen wollte zu ergründen, warum der Jogger so viele verschiedene nicht zugelassene Medikamente genommen hatte. Sie waren sich einig, dass wenn jemand diese Frage beantworten könnte, es sicherlich Gwen war.
Neuigkeiten im LKA gab es nicht viele. Es gab eine Umstrukturierung der Führungsebene. Dies war so sicher und regelmäßig der Fall, wie das Amen in der Kirche, meinte Gwen. Auf der einen Seite wäre eine längere Phase der Stabilität der Führungsmannschaft sicherlich hilfreich gewesen, damit auch die Führungskräfte die Lorbeeren einstreichen konnten, für die sie verantwortlich waren. Umgekehrt verhielt es sich natürlich genauso und die Vorgesetzten müssten die Suppe auslöffeln, die sie ihren Abteilungen eingebrockt hatten.
Andererseits war ein regelmäßiger Wandel auch wichtig, um neue Denkanstöße zu bekommen. Nichts war schlimmer, als in festgefahrenen Strukturen Jahr für Jahr in der gleichen Weise weiterzumachen. Veränderungen waren dazu da, diese Strukturen aufzubrechen und effizientere Verfahrensweisen einzuführen.
Die Einkaufsabteilung des Landeskriminalamtes hatte auch mal wieder eine Veränderung lanciert, die jeden der Beamten treffen würde, ob sie wollten oder nicht. Allerdings war es in diesem Fall für Gwen unverständlich, warum man nicht einfach alles so gelassen hatte, wie es vorher war.
»Das verstehe ich nun wirklich nicht. Die alten Karten waren doch noch gültig«, äußerte Gwen ihren Unmut und ihr Unverständnis.
»Vielleicht konnten sie dadurch die Kosten wieder etwas senken.«
»Aber dazu müssen doch die Karten nicht alle ausgetauscht werden!«
»Die Kreditkartenunternehmen wollen bestimmt wieder neue Sicherheitsmerkmale einführen, damit die Karten besser vor Missbrauch geschützt sind. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
»Das heißt, wir müssen in allen Systemen wieder neue Kreditkartennummern hinterlegen, damit die Reisen und LKA-Ausgaben richtig und automatisch abgerechnet werden können.« Frustriert fügte Gwen hinzu: »Und eine neue PIN habe ich auch erhalten!«
»Gwen es hilft hier kein Jammern, denn die Entscheidung ist nun mal gefällt worden. Und was auch immer der Auslöser für den Austausch war, wir werden ihn nie erfahren. Aber bestimmt erhöht sich die Sicherheit und das ist nun mal den Aufwand wert.«
»Bestimmt hast du recht. Ich werde mich heute Nachmittag mal daran machen, die Änderungen in den Systemen einzupflegen. War sonst noch etwas los, als wir im Urlaub waren?«
»Nicht, dass ich von wichtigen Änderungen gehört hätte. Es scheint, als wenn wir uns auf die mysteriösen Todesumstände des Herrn Schörff stürzen könnten. Was meinst du?«
Gwen lächelte, nahm ihren, mittlerweile leeren Kaffeebecher mit, und ging zurück in ihr Büro. Stefan folgte ihr.
»Dann sollten wir mal loslegen.«
Die deutschen Behörden hatten aus Österreich eine Aufenthaltsanfrage für die Schwester von Andreas Schörff erhalten und arbeiteten daran. Dies würde nur noch einige Tage in Anspruch nehmen, da derzeit viele Anfragen hereinkamen, es Ferienzeit und die Abteilung überhaupt unterbesetzt war. Dies war alles, was Stefan in Erfahrung bringen konnte. Wenigstens war bisher sichergestellt, dass die Informationen zum aktuellen Aufenthaltsort der Schwester, direkt ins LKA gehen würden, um nicht den Umweg über die österreichischen Behörden zu nehmen.
Mit dem Wohnort von Andreas Schörff war es einfacher gewesen. Seine Fingerabdrücke waren durch seinen Reisepass eindeutig seiner Identität zugeordnet worden. Den Reisepass hatten die Kieler Behörden ausgestellt und hier war auch seine Wohnadresse bekannt.
Stefan und Gwen beratschlagten über die nächsten Schritte. Sie würden als erstes das Haus oder die Wohnung in Augenschein nehmen, um Hinweise auf einen Drogenkonsum oder Medikamentenmissbrauch zu erhalten. Vielleicht konnten sie die Untersuchungen dadurch schnell abschließen. Wenn nicht, so würden sich vielleicht weitere Hinweise ergeben, wie er an die Präparate herangekommen war.
Gwen fantasierte schon von einem international agierenden Schmugglerring für gefälschte Medikamente, aber das war für Stefan doch etwas weit hergeholt. Man hatte ja schon des Öfteren klein angefangen und durch die Nachforschungen einen größeren Zusammenhang erschlossen. Dies ließ sich Stefan gerade noch gefallen, mahnte Gwen aber zu kleinen Schritten. Also machten sie sich als erstes auf den Weg zur gefundenen Wohnadresse von Andreas Schörff.
Die beiden Ermittler wollten sich ein eigenes Bild machen, bevor sie vielleicht die Spurensicherung oder weiteres Personal aus dem Landeskriminalamt aktivierten. Sie erreichten die Schulstraße 27 in Gettorf. Nördlich des Zentrums, am Ende einer Stichstraße fanden sie bei der Adresse ein großes Einfamilienhaus. Es war sehr ruhig in der Straße und keine Menschenseele nahm bisher Notiz von ihrer Ankunft. Sie hatten ihren Polizeiwagen in der Einfahrt des Grundstückes geparkt und waren ausgestiegen. Wie immer versuchten sie einen Eindruck der Umgebung zu bekommen und nahmen auch Kleinigkeiten war, die ihrem geschulten Auge nicht entgingen. Hinter dem Grundstück erstreckten sich Felder, Wiesen und Baumareale. Es schien, als ob der Ort hier zu Ende wäre und dahinter nur noch unbebautes Land und bewirtschaftete Felder lägen. Die anderen Häuser in der Straße waren kleinere und ältere Häuser aus dem Bestand, während das Einfamilienhaus von Herrn Schörff neueren Baudatums war. Wahrscheinlich war ein altes Haus gewichen und ein neues, größeres Haus mit besserem Klima- und Wärmeschutzstandard war entstanden. Es schmiegte sich von der Bauweise aber sehr gut in die bestehende Architektur der anderen Häuser in der Straße ein, obwohl es mit außergewöhnlich wertvollen Materialien gebaut worden war. Allein die Marmorstufen zum Hauseingang hatten bestimmt ein kleines Vermögen gekostet. Der Garten war in einem tadellosen, gepflegten Zustand und das ganze Haus war mit hochwertigen Edelstahllampen bestückt. Stefan und Gwen war schnell klar, dass hier ein gewisser kostspieliger Lebensstandard gepflegt wurde.
Sie gingen um das Haus herum und erschraken. Sie erschraken mindestens genauso, wie die Hausbewohner, die es sich auf der Terrasse unter der Markise gemütlich gemacht hatten und Kaffee tranken.
»Wer sind Sie und was machen Sie hier auf unserem Grundstück?«, rief die dickliche Dame, ohne aufzustehen.
Gwen und Stefan erstarrten. Damit hatten sie gar nicht gerechnet. Sie waren davon ausgegangen, dass Andreas Schörff der alleinige Bewohner dieses Hauses war. Nachdem sie den ersten Schreck verdaut hatten, zückten sie ihre Marken und stellten sich vor.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals unser unangekündigtes Eindringen. Wir sind davon ausgegangen, dass dieses Haus leer steht. Mein Name ist Hauptkommissarin Fisher und das hier ist mein Kollege Oberkommissar Schick. Wir beide kommen vom LKA in Kiel.«
Sie zeigten ihre Marken und händigten den beiden, grimmig dreinschauenden, offensichtlichen Rentnern, ihre Visitenkarten aus.
»Und warum meinten Sie, würde das Haus leer stehen?«, fragte die dickliche Dame, ohne sich selbst vorzustellen.
Gwen befürchtete bereits, gleich in einen großen Fettnapf zu treten, wenn sie die Frage beantworten würde und hielt sich daher an die Vorschriften.
»Darf ich erst einmal fragen, mit wem wir das Vergnügen haben?«, fragte Gwen höflich.
»Es ist sicherlich kein Vergnügen, wenn Sie hier einfach unangemeldet in unserem Garten stehen!«, blaffte die dickliche Frau.
»Ich bin Dorothee Schörff und das ist mein Mann, Waldemar.« Sie zeigte auf ihren Mann. Beide blieben in ihren Gartenstühlen sitzen, was aufgrund ihrer Körperfülle sicherlich auch besser war. Gwen taxierte die beiden auf über siebzig Jahre, aber bestimmt noch keine achtzig. Sport kannten beide nur vom Fernsehen und dem Kaffeegedeck fehlte es auch nicht an großen Stücken Sahnetorte, wodurch Gwen auch schnell klar wurde, durch was das Körpergewicht zustande kam. Sie erinnerte sich an den Autopsiebericht der Salzburger Gerichtsmedizin und den Alter- und Gewichtsangaben von Andreas Schörff. Offensichtlich konnte er ihr Sohn sein und er hatte erfolgreich gegen seine Gewichtsprobleme angekämpft, die er durch sein Elternhaus anerzogen bekommen hatte. Zumindest war er bis zu seinem Tod auf einem guten Weg gewesen.
Der Mann hatte bisher immer noch nichts gesagt und Gwen erwartete, dass dies so bleiben würde. Die beiden Kommissare nickten den Rentnern zur Begrüßung zu. Gwen war froh, mit ihrer Erklärung gewartet zu haben, da sie nun ihre Worte behutsam wählen konnte, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Schließlich war dies nun der Moment, in dem sie den Eltern die Nachricht des Todes ihres Sohnes überbringen musste.
Sie nahmen es überraschend gelassen auf. Während des Gespräches, welches die Beamten weiterhin im Stehen absolvierten, stellte sich heraus, dass die Mutter eine ziemlich schlechte Meinung von ihrem Sohn hatte. Sie redete sich immer mehr in Rage und kramte alte Geschichten hervor, die ihre Umwelt sicherlich schon seit Jahren vergessen hatten. Nicht aber Dorothee. Gwen hörte nur aufmerksam zu, während Stefan anfing sich Notizen zu machen. Es war ihm nicht mehr möglich die ganzen Informationen in seinem Gedächtnis abzuspeichern, von denen er nicht einmal wusste, ob er sie jemals wieder gebrauchen würde. Dorothee erzählte den Beamten vom Leben ihres Andreas’ in jungen Jahren, von seiner Ausbildung und von seiner Karriere, die er gegen alle Erwartungen doch gemacht hatte.
Nach dem schier endlosen Monolog waren Gwen einige Punkte klarer geworden. Andreas hatte wohl viele Eigenheiten seiner Eltern für nicht nachahmenswert befunden. Die Ernährung war hier nur ein Aspekt. Er hatte versucht, sich früh auf eigene Beine zu stellen, um zum einen eine bewusstere Ernährung sicherzustellen, als auch zum anderen genügend Zeit für Sport zu bekommen und von seinen Eltern unabhängig zu werden. Dazu gehörte auch, eine Ausbildung zu machen, um von zu Hause wegzukommen. Er studierte IT-Sicherheit und hielt sich mit einigen Praktika bei namhaften Firmen über Wasser. Seine Mutter sah darin keinen Beruf, zumal er auch nichts ›herstellte‹. Immer wieder hatte sie ihrem Sohn wohl vorgeworfen, keine handwerkliche Ausbildung absolviert zu haben und nicht in der Lage zu sein, einen Wasserhahn reparieren zu können. Trotzdem erlaubten die Eltern ihrem Sohn in die Einliegerwohnung im Haus einzuziehen – unter der strengen Auflage, sich einen ordentlichen Job zu suchen! Schließlich wagte er dann den Schritt in die Selbstständigkeit und akquirierte eigene Kunden. Durch sein großes Netzwerk aus der Universität und den verschiedenen Stellen als Praktikant, hatte er eine gute Basis, um sich einen stabilen Kundenkreis aufzubauen. In der Anfangszeit waren die Einkünfte spärlich und seine Mutter fühlte sich wieder bestätigt, dass der ›Beruf‹ ihres Sohnes nur eine ›brotlose Kunst‹ war. Nach der anfänglichen Durststrecke allerdings war Andreas weltweit unterwegs und hatte sich einen Namen erarbeitet. Er war gefragter Berater geworden, der sein Fachwissen zahlenden Kunden zur Verfügung stellte, damit sich diese gegen die Bedrohungen aus dem Internet und gegen reale Angreifer vor Ort schützen konnten. Die Entwicklungen in der Welt haben dem geistigen Eigentum mittlerweile einen bedeutsamen Wert zugewiesen, das genauso geschützt werden musste, wie Geld- oder Goldreserven.
Stefan und Gwen war nun klar, warum das Haus nicht unbewohnt gewesen war und sie auf die Besitzer getroffen waren. Andreas Schörff bewohnte lediglich eine Einliegerwohnung im Haus der Eltern. Der Ehemann, der die ganze Zeit immer noch nichts gesagt hatte, blieb in seinem Gartenstuhl sitzen, als sich seine dickliche Ehefrau Dorothee missmutig erhob, um den beiden Ermittlern die Tür zur Wohnung ihres Sohnes aufzuschließen. Es war durch ein Zahlenschloss neben der Tür gesichert. Nachdem Frau Schörff die richtige Nummer eingegeben und bestätigt hatte, entriegelte sich das Schloss wie von Geisterhand.
Seine Mutter erwähnte in ihrem Monolog nichts von einer Frau oder Freundin, sodass die Ermittler überrascht von der Größe der Wohnung waren, wenn diese nur durch eine Person genutzt wurde. Gwen und Stefan baten darum, allein in die Wohnung zu dürfen, was von Frau Schörff mit einem Grummeln genehmigt wurde. Sie verschwand und die beiden Kollegen sahen sich vorsichtig um.
Der Grundriss der Wohnung war einfach gehalten. Der Eingang in die Souterrainwohnung wurde wohl nachträglich gestaltet, denn man befand sich ohne Windfang, Korridor oder Flur direkt im Wohnzimmer. Ein großes Fenster mit davorliegendem Lichtschacht ließ genügend Helligkeit in die Wohnung und war optimal nach Westen ausgerichtet. Durch das Fenster konnten sie Herrn und Frau Schörff auf der Terrasse sitzen sehen.
Das Wohnzimmer war hochwertig eingerichtet. Direkt neben dem Eingang stand ein eingestaubter, moderner Schreibtisch mit einer Glasplatte und einem Metallrohrrahmen. Die Wohnung war offensichtlich länger nicht gereinigt worden. Ein riesiger Flachbildschirm an der einen Wand ergab, mit der Lederwohnlandschaft gegenüber, eine Art Kinoerlebnis. Dazwischen wirkte ein zeitloser Glastisch für sich selbst. Auf der anderen Seite war ein Esszimmer eingerichtet. Ein großer ovaler Tisch aus massivem Buchenholz bildete den Mittelpunkt, während sechs lederbezogene Stühle mit Stahlrahmen darum auf Gäste warteten. Weiter im Inneren der Wohnung war eine abgetrennte Küche mit modernsten Maschinen zu finden. Die dunkle Marmorarbeitsplatte wirkte gewaltig, passte aber sehr gut zu den hellen Holzfronten der Küchenmöbel. Daneben fand sich ein Badezimmer wieder, welches Gwen und Stefan neidisch werden ließ. Das Licht ging automatisch an, sobald sie den Raum betraten. In der Ecke war ein Whirlpool installiert, der zwei Personen ausreichend Platz bot. Daneben befand sich eine Dusche, die ebenerdig in den Boden eingelassen und nur durch Glasscheiben vom restlichen Badezimmer abgetrennt war. Die Dusche fiel in die Kategorie einer ›Wellnessdusche‹. Verschiedene Düsen an den Seiten und ein esstellergroßer Duschkopf an der Decke simulierten, offensichtlich durch das Bedienelement gesteuert, mindestens acht verschiedene Programme. Gwen kniff die Lippen zusammen und murmelte ein ›wow‹ vor sich her.
Ihr fielen die vielen verschiedenen Töpfchen und Döschen mit allerlei Cremes auf der Waschtischablage auf. Sie nahm einige davon genauer unter die Lupe. Es waren hauptsächlich, von einer Apotheke angerührte Substanzen, die Andreas offensichtlich auf Rezept erhalten hatte. Eine Paste war, so konnte Gwen auf dem Etikett lesen, gegen eine Art Hautverunreinigung, um nicht von Akne in seinem Alter zu sprechen. Eine andere mit Cortison gegen Entzündungen. Daneben standen noch viele angebrochene Tiegel von bekannten Marken, die ausschließlich der Pflege dienten. Andreas Schörff legte wohl viel Wert auf sein Äußeres, auch wenn er mit dem Erfolg zu kämpfen hatte. Gwen untersuchte die Schubladen, aber außer den üblichen Dingen, wie Zahnzwischenraumbürsten, Zahnseide, Nachschub für Zahnpasta und ein Maniküre Set, fand sie nur noch einen Siegelring mit einem Adlermotiv auf der Siegelfläche. Sie schob die Schubladen wieder zu.
Neben dem Badezimmer gab es einen abgetrennten Raum mit einer Toilette, der hell gefliest war. Der bisher einzige unspektakuläre Raum, stellte Gwen nüchtern fest. Lediglich das Licht funktionierte automatisch. Am Ende der Wohnung fanden sie eine Art Kellertür, welche abgeschlossen war. Diese musste der Übergang zum Wohnbereich im Erdgeschoss sein, mutmaßte Stefan. Der letzte Raum, war das Schlafzimmer. Gwen hatte das Gefühl in dem Raum tanzen zu können, so groß war er, trotz des großen Bettes und der eingebauten Schrankwand. Wie schon beim Rest der Wohnung, verfestigte sich auch hier der Eindruck, dass jemand mit viel Geschmack bei der Einrichtung seine Finger im Spiel hatte.
Die gesamte Wohnung machte auf die Ermittler den Eindruck eines wohlhabenden Bewohners. Jemand, der sehr sorgfältig auswählte, in was er investierte. Die Wände wurden durch wenige Bilder in eleganten Rahmen verschönert und der Fußboden war in der gesamten Wohnung, außer im Badezimmer und der Toilette, mit Parkett ausgelegt. Was auffiel waren die wenigen dekorativen Elemente in der Wohnung. Keine Blumen, keine Dinge auf Regalen, die abgestaubt werden mussten. Keine Shampooflaschen im Badezimmer und auch keine Bücher in Bücherborden. Selbst in der Küche befanden sich neben den modernsten Küchengeräten kaum weitere Utensilien an den Wänden oder auf der Arbeitsplatte. Lediglich eine große Dose mit Pulver für Eiweißshakes war neben dem Standmixer geduldet. Weitere Dosen befanden sich, fein säuberlich aufgereiht, im Unterschrank.
»Ein wenig wirkt die Wohnung, wie eine unbewohnte Musterwohnung, die nur der Ausstellung dient«, stellte Stefan schließlich sachlich fest.
»Es liegt oder steht nichts herum, was irgendwie den Anschein hätte, unnötig zu sein. Es ist, als ob er vor seiner Abreise alles sorgfältig aufgeräumt und verstaut hätte.«
»Bei den Eltern hätte ich das wohl auch getan«, gab Stefan unumwunden zu. »Irgendwie wollte er seine Privatsphäre vor seinen Eltern schützen, …«
»… oder Ihnen keinen Anlass zur Kritik geben«, beendete Gwen den Satz.
»Auf jeden Fall können wir ausschließen, dass sich irgendjemand Fremdes in seiner Abwesenheit hier aufgehalten hat. Die Tür war verschlossen … nun ja, mit einem Zahlenschloss. Aber vielleicht kannte jemand die Kombination.«
Die Ermittler sahen sich im Raum um. »Es sieht aber nicht so aus, als ob irgendetwas berührt oder durchsucht worden wäre.«
Stefan fiel es zuerst auf: »Es gibt hier keine Lichtschalter, obwohl an der Wand Leuchten hängen.« Er grinste. »Okay Google, schalte das Licht im Wohnzimmer an.« Nichts passierte. Stefan legte seine Stirn in Falten. »Alexa, mach das Licht im Wohnzimmer an!«
Die Leuchten schalteten sich wie durch Magie gesteuert an. Stefans Miene wurde wieder freundlicher.
»Alexa, mach das Licht im Wohnzimmer aus.« Die Leuchten an den Wänden erloschen. Stefan schaute sich um.
»Alexa, lass den Rollladen im Wohnzimmer herunter!« Das Wohnzimmer verdunkelte sich.
»Alexa, stopp!« Die Rollläden stoppten.
»Er hat einen von diesen automatischen Assistenten installiert, der bestimmt vieles hier steuern kann. Ich bin beeindruckt.«
»Nun krieg dich mal wieder ein, Stefan, oder kann das Ding vielleicht auch die Haustür öffnen?«
»Alexa, öffne die Haustür!«, versuchte Stefan sein Glück.
Eine Computerstimme antwortete: »Die Haustür ist bereits offen!«
Stefan erspähte den runden Lautsprecher, der neben der Tür positioniert war.
»Dann lass es uns von draußen probieren. Wenn wir laut genug sind, so könnte es vielleicht klappen die Tür wieder zu öffnen.«
»Aber dazu brauchst du doch bestimmt einen Code, den wir nicht haben. Sonst könnte ja jeder, der hier vorbeikommt, die Tür öffnen.«
»Stimmt Gwen, das hatte ich mir wohl zu einfach vorgestellt.«
»Nur einmal mit Experten arbeiten, das wäre toll«, murmelte Gwen in sich hinein und rollte provokant die Augen.
Stefan kannte den Spruch bereits und fühlte sich nicht beleidigt. Im Gegenteil. Er nahm Gwen in den Arm und drückte sie.
»Hey, nicht im Dienst der Herr!«, lachte sie.
»Nun komm du Experte, lass uns gehen. Wir haben einen Eindruck erhalten und sollten versuchen mal die Schwester aufzutreiben. Ihre Eltern müssten doch wissen, wo wir sie finden können.«
Beim Herausgehen zog Stefan die Tür zu und rief gleich danach etwas lauter: »Alexa, öffne die Wohnungstür!«
Die Computerstimme erwiderte: »Der Code ist nicht korrekt.«
»Du bist unbelehrbar, mein Spielkind« frotzelte Gwen und lachte dabei.
Beide bedankten sich bei Herrn und Frau Schörff und vergaßen nicht, sich nach ihrer Tochter zu erkundigen. Erstaunlich bereitwillig gaben sie Auskunft und nannten den Polizisten eine Telefonnummer und eine Adresse. Ein weiteres Mal bedankten und verabschiedeten sie sich schließlich. Sie würden mit der Schwester von Andreas Schörff Kontakt aufnehmen und sehen, ob sie etwas zur Klärung des Medikamentenmissbrauchs ihres Bruders beitragen konnte.
♦♦♦
Die Schwester konnte bis zum nächsten Tag warten, Gwen hatte genug vom ersten Tag und wollte zu Hause bei ihrem Sohn und ihrer Mutter sein.
Beth, wie sie von allen in Kurzform genannt wurde, sprühte vor Lebensenergie, genauso, wie ihre Tochter normalerweise. Gemeinsame Unternehmungen mit der Familie sowie die Verantwortung, welche sie bei der Betreuung und Beaufsichtigung ihres Enkels Phil übernahm, ließen sie nur langsam altern. Ihr eigener Mann Eric starb bereits vor Gwens Geburt, sodass sie es gewohnt war Verantwortung zu übernehmen. Mit zunehmendem Alter ihres Enkels, hatten sich allerdings die Betreuungsaufgaben gewandelt. Wo er in den frühen Jahren nach der Schule jemanden zum Spielen hatte, beschränkten sich die heutigen Aktivitäten nur noch gelegentlich auf das Kochen, wenn Phil nicht sogar schon in der Schule gegessen hatte. Beth hatte den Urlaub der drei in den österreichischen Bergen nicht begleitet und so war dies der erste Abend, an dem Gwen richtig ausführlich erzählen musste, was sich ereignet hatte.
Gwen wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte und erzählte die gesamte Geschichte aus ihrer Sicht in allen Einzelheiten. Beth hing ihr an den Lippen. Obwohl Phil einen Großteil der Geschichte kannte, da er sie selbst miterlebt hatte, wollte er die weiteren Entwicklungen am ersten Arbeitstag aus erster Hand erfahren. So setzte er sich zu seiner Oma und naschte einige Gummibärchen.
Gwen berichtete ihrer Mutter von der Anreise nach Österreich, die problemlos verlief. Ebenso, wie der Bezug der Unterkunft. Sie beschrieb sehr anschaulich die Ferienanlage und sie konnten sich alle gut vorstellen, wie es im Winter hier wohl aussehen würde.
Im Sommer war das Publikum ein anderes und die Interessen unterschieden sich natürlich von denen der Winterurlauber. So berichtete Phil von seinen Erfolgen Geocaches zu suchen und zu finden. Stolz erzählte er von dem Travelbug und vom Ziplining, was sie alle drei zum ersten Mal mitgemacht hatten. Beth hatte starkes Interesse an den Einzelheiten und fragte immer wieder nach. Dann kamen sie zum spannendsten Teil des Urlaubs. Dem Fund des Toten.
Aufgeregt berichtete Phil, wie er ihn eigentlich entdeckt hatte, aber zu keiner Reaktion mehr fähig gewesen war. Die Geschichte über die Meldung des Fundes in der Polizeistation, die Erlebnisse mit dem Dorfpolizisten und auch die Bergung des Toten, überließ Phil seiner Mutter. Sie brachte wie gewohnt die Erlebnisse auf den Punkt, aber Beth ermutigte sie durch ihre Nachfragen immer wieder zu detaillierteren Erläuterungen. Als sie vom letzten Besuch bei der Polizei berichtete, entglitt ihrer Mutter nur ein ›das war ja klar‹. Alle drei lachten und Beth freute sich, ihre Tochter wieder fröhlich zu sehen. Sie hoffte, dass es von nun an bergauf gehen würde und Gwen die Erinnerungen besser verarbeiten könnte.
Schließlich war Beth mit den Details, die sie über den Urlaub erfahren hatte, zufrieden und sie fragte nach Gwens erstem Arbeitstag.
Augenrollend berichtete sie von den neuen Kreditkarten. Man spürte, dass in ihren Ausführungen Frustration und mangelndes Verständnis für diese ganze Aktion mitschwang. Es kostete das LKA und damit schließlich den Steuerzahler, wahrscheinlich eine Menge Geld. Der ganze Austausch der Karten war unsinnig und nicht notwendig. Gwen redete sich in Rage. Phil aber war an einem ganz bestimmten Aspekt interessiert.
»Mama, meinst du denn nicht, dass durch den Austausch eurer Karten vielleicht auch neue Sicherheitsmerkmale genutzt werden könnten?«
Gwen wunderte sich schon lange nicht mehr, was ihr Sohn für Interessen hatte und inwieweit er sich schon mit Dingen auskannte, von denen nicht einmal ein Erwachsener wusste.
»Was meinst du genau, mein Großer, und wie kommst du darauf?«
»Das ist doch ganz einfach, Mama. Das kann man doch überall lesen!«
Gwen und Beth sahen sich verständnislos an. »Dann erklär deiner Oma doch mal genau, was du meinst«, forderte Beth ihren Enkel heraus.
»Früher gab es bei den Kreditkarten gerade einmal eine Kartennummer und ein Ablaufdatum. Damit konnte man bezahlen, wenn man die Unterschrift auf der Rückseite einigermaßen beherrschte. Die gesamte Abrechnung war nur auf dem manuellen Weg mittels Papierbeleg möglich. Das war als Sicherheitsmerkmal nur sehr unzureichend, speziell, als das Internet aufkam und man anfing auch dort mit Kreditkarte zu bezahlen, habe ich gelesen. Man konnte ja schlecht irgendeinen Zettel unterschreiben. Zuerst wurde hier eine PIN genutzt, die auch außerhalb des Internets nötig war, wenn man vom Geldautomaten Geld abholen wollte. Einige Zeit später einigte man sich dann auf einen Code, der auf der Rückseite der Karte aufgedruckt war. Immerhin musste man nun schon Zugriff auf die Karte haben, wenn man ohne Unterschrift und ohne PIN etwas im Internet kaufen wollte. Es gab aber noch zu viel Unsicherheit, Betrugspotenzial und auch unterschiedliche Verfahren. Dies standardisierte man ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde. Seitdem sind die Hacker natürlich auch immer professioneller geworden, aber auch die Kreditkartenfirmen haben sich immer wieder neue Gegenmaßnahmen ausgedacht, um sich zu schützen. Vieles davon basiert auf dem Internet oder dem Geheimhalten von Informationen. Das ist echt ein spannendes Thema, wenn man da etwas reinschaut und liest.«
Gwen und Beth waren beeindruckt. So viel Hintergrundwissen hatten sie Phil gar nicht zugetraut, aber er überraschte sie halt immer wieder. Er war schließlich mit dem Internet und der ganzen Technologie aufgewachsen und es fiel ihm offensichtlich nicht schwer, die ganzen Zusammenhänge zu begreifen.
»Das ist sehr beeindruckend, Phil, aber hier ist mein Wissen begrenzt und ich kann dir leider nicht sagen, ob die Karten nun sicherer sind und was für zusätzliche Sicherheitsmerkmale eingeführt worden sind.«
Etwas enttäuscht, sein Wissen nicht erweitern zu können, gab sich Phil mit der Aussage seiner Mutter zufrieden. Es konnte halt nicht jeder ein Experte auf jedem Gebiet sein.
»Okay, Mama, kein Problem. Aber erzähl uns doch, was ihr heute noch über den Toten herausbekommen habt.«
Gwen konnte aus verständlichen Gründen nicht in die Details gehen, aber es war ihr eine gewisse Euphorie anzumerken, die sich offensichtlich von Stefan auf sie übertragen hatte. Sie erzählte von den Eltern und der Souterrainwohnung. Dann berichtete sie von der Ausstattung und den technischen Merkmalen der Wohnung. Abschließend stellte sie fest, dass Phil an der Wohnung sicherlich auch Gefallen gefunden hätte, da vieles automatisiert war. Gwen biss sich auf die Zunge, denn sie wusste, was nun kam.
»So etwas will ich auch bitte zu meinem Geburtstag haben, Mama. Das ist doch voll cool, wenn man nicht einmal mehr aufstehen muss, um das Licht anzumachen.«
Gwen konnte dem Argument nichts abgewinnen, zeigte aber ihre Abneigung gegenüber dem ganzen technischen Spielzeug nicht.
»Das werden wir dann, wenn es soweit ist, mal genauer besprechen. Dein nächster Geburtstag ist ja noch viele Monate hin.«
»Das ist richtig, Mama, aber vorher ist ja auch noch Weihnachten«, stellte Phil fest.
»So, Schluss jetzt mit dem Thema. Ab ins Bett! Morgen früh ist die Nacht rum und die Schule duldet keine verschlafenen Schüler.«
Phil verabschiedete sich von seiner Oma mit einer Umarmung und einem Gute-Nacht-Kuss. Das Gleiche bekam seine Mutter. Die leere Gummibärchentüte landete im Recyclingeimer und Phil winkte noch einmal die Treppe herunter.
»Morgen werden wir der Schwester einen Besuch abstatten. Mal sehen, was sie zu berichten hat und ob sie vom Medikamentenmissbrauch ihres Bruders wusste. Wenn nicht, dann hat das Leben unseres Joggers eben eine unglückliche Wendung genommen und wir werden den Tod als Unfall hinnehmen müssen.«