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ОглавлениеKapitel 2
Kriminalhauptkommissarin Gwen Fisher dachte mit gemischten Gefühlen an ihren letzten Geburtstag zurück. Nur wenige Monate zuvor hatte sie ihren Ehemann an seinem eigenen Geburtstag verloren. Sie hatten noch versucht ihn zu retten und rechtzeitig ins Krankenhaus zu kommen, aber das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen. Er verstarb noch in derselben Nacht. In den Wochen danach, hatte sie sich in die Arbeit gestürzt, um möglichst wenig von ihrer Trauer eingeholt zu werden. Mit Erfolg, wie Gwen zunächst glaubte, und zusammen mit ihrem Kollegen Kriminaloberkommissar Stefan Schick klärte sie den verzwickten Fall eines Serienkillers auf. Gwen und Stefan hatten nach dem erfolgreichen Abschluss des Falles ein zartes Band der Beziehung geknüpft und verbrachten nun vermehrt Zeit miteinander. Sie lächelte, als sie sich an ihren letzten eigenen Geburtstag zurückerinnerte.
Es war der 1. Februar 2013, als sie sich alle in Gwens Einfamilienhaus in Felm trafen, um anzustoßen. Gwen als Hauptperson prostete nacheinander ihrem Sohn Phil, ihrem Partner Stefan, dem Forensiker und langjährigen Freund Dr. Michael Peters sowie zu guter Letzt ihrer Mutter Beth zu. Der Kreis war klein, aber es waren ihre liebsten Personen, die Gwen gerne um sich hatte. Sie schloss ihre Augen und erlebte in Gedanken den schönsten Augenblick der Feier noch einmal.
»Aber Mama, eine Sache musst du mir erklären«, sagte Phil und blickte Gwen damals erwartungsvoll an.
»Na, was denn mein Schatz?«, wollte Gwen wissen.
»Du hast mir schon immer versprochen mehr Zeit mit mir zu verbringen. Warum sollte das ausgerechnet diesmal klappen?«, hakte Phil nach.
Gwen überlegte nur kurz und sagte dann sehr ernst: »Zuerst musst du dich teilweise mal von deinem Computer trennen und Zeit für mich haben. Schaffst du das?«
Phil nickte nach einer kurzen Pause bejahend.
»… und dann wird mir jemand helfen, mein Vorhaben auch umzusetzen«, hörte Gwen sich sagen und schmeckte noch den Kuss, den sie zu jener Zeit mit Stefan austauschte.
Träumend verweilte Gwen noch etwas in ihren Gedanken, bis die Gegenwart sie wieder einholte und Phil polternd nach Hause kam.
Mittlerweile war Sonntag, der 7. Juli 2013. Der Sommer bahnte sich den Weg in die Herzen der Kieler und die Sommerferien waren in vollem Gange. Phil genoss die freien Tage und hatte sich mit seinem Schulfreund Benoit zum ersten Mal in diesem Jahr zum Schwimmen getroffen. Sie waren zum Strandbad Falckenstein geradelt, welches in knapp vierzig Minuten zu erreichen war. Es war dieser Tage wärmer geworden und die Jungen hatten das Gefühl ihre Freiheit genießen zu müssen.
»Hallo Mama, ich bin wieder da!«
»Ist nicht zu überhören!«, murmelte Gwen vor sich hin.
»Benoit und ich haben uns etwas überlegt. Da das Wetter in den nächsten Tagen gleichbleibend schön sein soll, haben wir das kommende Wochenende was Tolles vor. Da kommst du nie drauf. Rate doch mal!«
Gwen setzte sich auf und überlegte. An den Wochenenden, so war es bei den Fishers über Generationen üblich, sollte zumindest ein Tag ganz im Zeichen der Familie stehen. Das hatten sie schon immer so gemacht, auch, als Paul noch lebte. Schmerzhaft erinnerte sich Gwen an die Zeit mit ihrem geliebten Mann zurück und bemerkte fast gar nicht, dass Phil vor ihr stand und noch immer auf eine Antwort wartete.
»Nun sag schon, was habt ihr euch Tolles ausgedacht?«, forderte sie Phil auf.
»Wir wollten zusammen eine Fahrradtour zum Hochseilgarten machen, um unsere Schwindelfreiheit einmal zu testen. Du und Stefan kommt doch mit, oder?«
»Das sollten wir mit Oma und Stefan erst einmal besprechen.«
»Nee, für Oma ist das nichts, aber es wäre toll, wenn Stefan mitkommen würde«, entgegnete er.
Bevor Gwen antworten konnte, öffnete sich die Haustür und Stefan stand im Raum. Gwen sprang freudig auf und begrüßte ihren Kollegen und mittlerweile, sehr guten Freund. Sie hatte es bisher vermieden ihn als ›ihren‹ Freund vorzustellen, da der Tod von Paul noch nicht einmal ein Jahr her war. Sie wollte eine angemessene Trauerphase abwarten, aber was war schon ›angemessen‹ oder ›üblich‹. Sie schob den Gedanken beiseite und drückte Stefan einen dicken Kuss auf die Wange.
»Wir haben gerade von dir gesprochen, Stefan«, leitete Gwen das Gespräch galant über.
»Aha, und um was ging es? Ich hoffe, nur um etwas Positives.«
»Phil hat uns für nächstes Wochenende schon verplant. Du weißt, unsere Familiensonntage? Er wünscht sich, dass wir alle in den Hochseilklettergarten fahren, um uns unseren Höhenängsten zu stellen.« Gwen kicherte. »Natürlich ohne Beth, dass schafft sie leider nicht mehr. Und? Was meinst du?«
Stefan brauchte nur sehr kurz zu überlegen und stimmte zu: »Na klar, das ist eine prima Idee!«
So schnell Phil gekommen war, so schnell nickte er und verschwand wieder nach draußen. »Ich ziehe mit Benoit noch etwas in der Nachbarschaft umher.«
»In Ordnung mein Großer, aber vergiss das Abendbrot nachher nicht.«
Die Tür fiel schon krachend ins Schloss und Gwen zog den immer noch stehenden Stefan zu sich auf die Couch.
»Schön, dass du noch vorbeigekommen bist«, lächelte sie ihn sehr verliebt an und streichelte sein Ohr.
»Ja, ich dachte, wir verbringen noch den Sonntagabend zusammen und schauen uns den ›Tatort‹ an.«
»Als wenn wir in der Woche nicht schon genug Krimis hätten«, sagte Gwen und stupste ihn in die Seite.
»Da sagst du was, aber es ist doch auch schön, sich einfach nur mal berieseln zu lassen und diese total weit hergeholten Geschichten anzusehen.«
»Genau, der Mörder ist meistens der Gärtner und am Ende kommt immer irgendein entfernter Schwager, Cousin oder der verschollene Bruder daher, der zufällig ein Motiv, die Gelegenheit und entsprechende Mittel hatte, um den Mord zu begehen. Während des gesamten Films wird doch immer eine Geschichte erzählt, in welcher der Mörder niemals auftaucht. Fast, wie im richtigen Leben.« Gwen verzog ihre Mundwinkel zu einem hämischen Lächeln und freute sich, als Stefan auf ihren Sarkasmus einging.
»Du hast recht, fast so, wie in unserem letzten Fall.«
»Den Betrug?«, wollte Gwen sichergehen.
»Ja, klar. Wochenlange Analysen der Konten, Befragungen von Freunden und Verwandten, Recherchen im Kollegenkreis und alles, um nachher den Sohn, der zurzeit im Ausland ein ›Work and Travel‹-Semester machte, mit der Tat in Verbindung zu bringen.«
»Geschichten, wie das Leben sie schreibt. Und nun komm her du Held.« Gwen grinste keck, stieß Stefan auf der Couch um und rollte sich eng neben ihm zusammen.
Gwen spürte Stefans Wärme an ihrem Rücken und presste sich noch mehr an ihn. Sie ließ ihre Hüften kreisen und spürte, wie Stefan die Situation genoss. Er schlang seinen Arm um Gwen und hielt sie ganz fest, während sie die aufkommende Erregung hinter ihrem Rücken spürte und die Augen schloss, um die Situation zu genießen.
Sie merkte, wie ihre Augen feucht wurden und sich eine einzelne Träne in ihrem Augenwinkel sammelte. Sie kniff die Augen zusammen, schluckte einmal, konnte aber der Situation keinen Einhalt gebieten. Sie löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf.
»Was ist los?«, fragte Stefan mit sanfter Stimme und strich ihr über den Rücken und durch ihr Haar.
»Nicht jetzt, bitte!«, erwiderte sie barsch und nahm sanft seine Hand.
»Du weißt, was los ist, Stefan. Es kommt immer wieder hoch. Ich kann gar nichts dagegen machen.« Sie versuchte die Fassung zu bewahren und die Tränen zu unterdrücken, aber sie merkte, wie ihr Widerstand immer schwächer wurde.
»Paul fehlt mir so doll, aber ich bin auch mit dir sehr glücklich. Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich mag dich so sehr, aber mit Paul war ich die ganzen Jahre verheiratet. Wir haben einen Sohn zusammen. Ich dachte, ich könnte die Situation leicht überwinden, indem ich mich in die Arbeit stürze und Erfolge vorweisen kann. Aber das hat nur am Anfang funktioniert. An meinem Geburtstag dachte ich schon, ich hätte es geschafft und den Verlust überwunden. Du warst da, … ihr alle wart da. Ihr habt mir Halt gegeben und mich die schreckliche Situation vergessen lassen, aber dann hat sie mich doch wieder eingeholt.«
Sie sackte in sich zusammen und die nächsten Tränen stiegen ihr in die Augen. Gwen merkte, wie die Dämme zu brechen drohten.
»Was kann ich für dich tun, meine Liebe? Sag es mir bitte!«, versuchte Stefan Gwen zu beruhigen.
»Du kannst gar nicht viel tun. Ich brauche Zeit. Ich weiß auch nicht.« Ihre Tränen begannen zu fließen.
»Ich fühle mich so hilflos. Ich möchte für dich da sein, dir helfen.« Stefan überließ Gwen ihren Gefühlen. Er war machtlos, hatte selbst noch nie einen nahestehenden Menschen verloren und konnte von daher gar nicht mitfühlen, was dies bedeutete. Gwen schluchzte und weinte. Sie ließ ihrem Empfinden freien Lauf. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Gwen wieder zu Atem und konnte zwischen ihren Schluchzern einige Worte fassen.
»Gib … mir … einfach … Zeit!« Stefan nickte wortlos und strich ihr erneut über den Rücken.
Diesmal konnte Gwen die Zärtlichkeiten ertragen. Sie hatte sich wieder etwas beruhigt und fing an, wieder klarer zu denken.
»Ich könnte … eine Auszeit … vertragen!«, brachte Gwen ihre Wünsche zum Ausdruck.
»Das klingt doch großartig«, antwortete Stefan, ohne euphorisch zu klingen. Ihm war in der Situation nicht sonderlich wohl zumute und er wollte sie nicht durch falsches Verhalten unnötig strapazieren.
»Was schlägst du vor?«, fragte er vorsichtig. »Was täte dir gut?«
Gwen überlegte. Weg! Weit weg! Aber was ist mit Phil … und wenn es ihrer Mutter schlechter gehen würde? Sie ist auch nicht mehr die Jüngste! Sie müssten schnell wieder zu Hause sein können und somit nicht ganz so weit wegfahren … aber mit dem Flieger ist man doch schnell von überall wieder zu Hause. Nur nicht aus Neuseeland du dumme Kuh! Stimmt, aber mit dem Auto wäre doch okay … oder wir fahren nur zu zweit, das wäre doch auch schön, aber Phil ist dann bestimmt traurig. Warum finde ich hier keine gute Lösung? Paul hätte bestimmt gewusst, was zu tun ist. Aber er ist ja nicht da und … ich … vermisse … ihn … soooo sehr!
Gwen atmete tief ein und aus und versuchte die Gedanken, die in ihrem Kopf wie Fliegen umherschwirrten etwas in geordnete Bahnen zu bekommen. Weg! Nicht so weit! Zu dritt! Das klang vernünftig!
»Ich möchte raus hier. Mit dir und Phil zusammen, aber nicht so weit weg. Ein Tapetenwechsel würde mir bestimmt guttun.«
»Das ist eine großartige Idee. Wir haben gerade Sommerferien und wir könnten uns über meinen vierzigsten Geburtstag eine Auszeit nehmen. Da hatte ich auch schon dran gedacht, aber jetzt, wo du es aussprichst, macht es für mich total Sinn. Für dich auch?«
Gwen sah Stefan an und nahm zärtlich seine Wangen in ihre Hände. Dann zog sie sein Gesicht an ihres heran. Sie nickte und küsste ihn liebevoll. Sie schloss ihre geröteten Augen und genoss den Augenblick. Nach einer Weile gab sie sein Gesicht wieder frei. Stefan hätte die Situation gerne noch länger genossen und fühlte die Nachwärme ihres Kusses.
Gwen ließ sich an die Rückenlehne der Couch fallen und stellte sich vor, wie sie gerne ihren Urlaub verbringen würde.
Sie träumte von weißen Stränden, Palmen und warmem Wasser. Aber alle schönen Orte, die so etwas bieten würden, waren entweder zu weit weg oder zu teuer, um mal eben einen Urlaub dort zu verbringen. Die Alternativen um die Ecke an der Nord- und Ostsee schloss sie kategorisch aus. Schließlich könnte sie das so gut wie jeden Tag haben. In nördlicher Richtung lag nur noch Dänemark oder vielleicht Schweden. Hier gab es aber keine Sonnengarantie. Es schien auf einen Kompromiss hinauszulaufen. Statt ans Meer zu fahren und faul am Strand zu liegen, wäre es natürlich auch eine gute Idee etwas für seine Fitness zu tun und in den Bergen wandern zu gehen. Vielleicht in den österreichischen Alpen. Es gab zwar auch dort keine Sonnengarantie, aber immerhin war die Regenwahrscheinlichkeit wesentlich geringer als hier im Norden. Gwen freundete sich mit dem Gedanken an und versuchte ihre Vorstellungen in Worte zu fassen.
»Wir könnten die Berge unsicher machen. Ich denke, etwas Sport täte unserer Fitness gut und wir könnten zum Wandern nach Österreich fahren. Was meinst du?«
»Okay«, antwortete Stefan zögerlich. »Wirst du da aber auch genügend Entspannung und Abwechslung bekommen?«, fragte er zurück.
»Wenn wir uns einen schönen Ort aussuchen und dort auch einige Tage nur faulenzen, geht sich das schon aus!«, antwortete sie teilweise in einem österreichischen Slang und kicherte.
Stefan reckte den Daumen hoch, um zu signalisieren, dass er einverstanden war.
»So machen wir das. Wir schauen am besten morgen gleich mal im Reisebüro vorbei, um zu buchen, damit wir es uns nicht mehr anders überlegen und wir sprechen nachher mit Phil, wenn er nach Hause kommt.«
»Du hast recht!«, bestätigte Gwen Stefans Vorhaben und entspannte sich innerlich. Sie war froh einen Weg gefunden zu haben, um etwas Abstand zu gewinnen und abzuschalten.
♦♦♦
Phil war hin- und hergerissen zwischen der Freude auf den bevorstehenden Urlaub und Frust, dass er seine Planungen mit Benoit nun nicht mehr umsetzen konnte. Am Ende überwog dann aber doch die Aussicht darauf, mit seiner Mutter und Stefan einige, gemeinsame Zeit zu verbringen. Phil war hier genau wie seine Mutter, sehr pragmatisch veranlagt. War es nicht die eine Lösung, dann war es eben eine andere. Es gab immer einen Weg. So hatte es Gwen ihm sein ganzes Leben lang beigebracht und sowohl ihr sonniges Gemüt als auch ihre optimistische Ader an Phil weitergegeben. Phil war am nächsten Tag gleich zu Benoit gefahren, um ihm von den Neuigkeiten zu erzählen. Er wusste zwar noch nicht genau, wohin der Urlaub ging oder was sie unternehmen würden, aber es sollte zum Wandern in die Berge gehen. Soviel stand schon mal fest.
Es war ein normaler Wochentag. Gwen und Stefan mussten arbeiten und obwohl Schulferien waren, konnte Gwen nicht den ganzen Tag auf Phil aufpassen, sodass Beth zeitweise einsprang, um nach dem Rechten zu sehen und um Phil mit Mittagessen zu versorgen. Beth war schon immer ein Familienmensch und half, wo sie nur konnte. Gwen hatte ihre Mutter gerne an ihrer Seite, da sie nicht nur eine Stütze in der schweren Zeit, seit dem Tode von Paul, sondern in ihrer unaufdringlichen Art jederzeit ein gerngesehener Gast war. Trotz ihrer dreiundsiebzig Jahre war Beth immer noch sehr fit und beweglich, was sicherlich auch an ihrem interessierten und offenen Wesen lag, wodurch sie zu allerlei Unternehmungen der Familie mitgenommen wurde. Beth und ihre Tochter waren sich im Telefonat gestern Abend allerdings sehr schnell einig gewesen, dass es keine gute Idee war, als ›Oma‹ noch auf Berge zu steigen oder im Gebirge zu wandern. Beth äußerte den Wunsch, dass sie sich mit Stefan und Phil eine schöne Zeit machen und danach berichten sollte.
So waren Gwen und Stefan nach Dienstschluss im Reisebüro ihres Vertrauens, um sich ausgiebig beraten zu lassen und um schließlich zu buchen. Die Entscheidung war schnell gefällt. Durch Gwens Vorstellungen hatten sie sich schnell auf die österreichischen Alpen geeinigt und der Wunsch zum Wandern und Erholen ließen sich dort auch hervorragend umsetzen. Sie buchten ein schönes Holzhäuschen in einer kleinen Ferienanlage, die im Winter zum Skifahren und im Sommer zum Wandern einlud. Um den Ferienort herum waren ausreichend Möglichkeiten, die Berge zu erforschen und der Altausser See eignete sich geradezu zum Fahrradfahren.
Gwen fühlte sich mit ihrer Entscheidung wohl und die Tage waren gezählt, bis sie losfahren konnten. Knapp zwei Wochen würde es nur noch dauern. Ihr Chef im LKA hatte zwar einen Moment etwas kritisch geschaut, als sie mit dem Wunsch, sehr kurzfristig Urlaub nehmen zu wollen, an ihn herantrat, aber da er in den letzten Wochen mitbekommen hatte, wie sehr sich Gwen immer mehr zurückzog, war ihm klar, dass dies ein notwendiger Schritt sein würde, um wieder die alte Gwen, die fröhliche Gwen, zurückzubekommen. Auch die Beziehung zu Stefan war ihm nicht verborgen geblieben und so wunderte er sich wenig, als kurze Zeit später Stefan mit dem gleichen Wunsch auf ihn zukam und ebenso kurzfristig Urlaub beantragte.
Wieder zu Hause ließen sich beide in Gwens Wohnzimmer nieder, um auf die Urlaubsplanung anzustoßen. Phil kam wenig später auch wieder nach Hause und gesellte sich zu den beiden, die sofort von den Neuigkeiten berichteten und den Urlaubsort beschrieben. Phil war begeistert und zückte gleich sein Handy, um nach dem Ort zu googeln. Das, was er sah, gefiel ihm sehr gut und er schaute sich auch die Geocaches an, die in dem Ort zu finden sein würden. Hier grinste er bis über beide Ohren.
»Wenn ich auch nur einen einzigen Geocache finden würde, hätte ich in meiner Statistik einen Länderpunkt für Österreich! Da muss sich Benoit warm anziehen, wenn er mich einholen will. Ich hätte dann auch gleich den südlichsten Cache gefunden, denn Benoit war bisher nur in München und hatte aber dort erfolgreich nach Geocaches gesucht. Das muss ich ihm gleich texten.« Phil plapperte weiter vor sich hin, als er in seinem Zimmer im ersten Stock verschwand. Gwen und Stefan schauten sich nur sprachlos an und lächelten.
»Da haben wir wohl einen Volltreffer gelandet«, sagte Gwen.
»Ja, es freut mich, wenn sich Phil dort auch wohlfühlt, aber in erster Linie geht es hier um dich. Damit du mal abschalten kannst und zur Ruhe kommst.«
»Wie immer hast du recht.«
»Was hat er nur mit diesen Geocaches?«, wunderte sich Stefan.
»Das fing vor einigen Jahren an. Es war die beste Möglichkeit Kinder aus dem Haus zu locken, wenn du mich fragst.« Sie zwinkerte ihm zu. »Die Geocaches sind im Internet in einer großen Datenbank verzeichnet. Die genaue Position ist über die GPS-Koordinaten gegeben und viele der Caches erzählen auch eine Geschichte oder bergen Geheimnisse. So wird ein Sonntagsspaziergang zu einer interessanten Unternehmung. Man suche sich einen Weg, an dem der Sohn versucht seine Geocaches zu finden, um sich in der besagten Statistik Punkte zu sichern und schon ist er motiviert mal wieder an die frische Luft zu kommen. Natürlich muss er dabei sein Handy mitnehmen und starrt die ganze Zeit drauf, um den richtigen Weg zum Cache zu finden. Du darfst also nicht erwarten, dass er kommunikativer werden würde, aber immerhin kommt er mal aus seinem Zimmer raus und hängt nicht immer an seinem Computer.«
»Ich verstehe. Und über die Statistik vergleicht er sich mit Freunden?«
»Genau. So habe ich das zumindest verstanden. Daher ist er so erpicht darauf, den südlichsten, nördlichsten, westlichsten oder östlichsten Cache zu finden. Weiterhin wird gespeichert, wann er die meisten Caches an einem Tag gefunden hat, in wie vielen verschiedenen Ländern er schon welche fand und welchen Schwierigkeitsgrad die Caches hatten.« Gwen überlegte, dann sprach sie weiter. »Einmal hatte er einen extrem schwierigen Geocache finden wollen. Er hieß ›Du kannst mich sehen!‹. Das hätte schon Warnung genug sein sollen, denn als wir an dem verzeichneten Ort ankamen, standen wir vor einer über mehrere hundert Jahre alten Eiche. In der Höhe von mindestens zehn Metern konnte man eine Schachtel sehen, die in einer Astgabel befestigt war. Da wir nun weder mit einer Leiter noch mit einem Klettergeschirr ausgerüstet waren, wollte Phil einfach so auf den Baum klettern. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das für eine Diskussion gegeben hat.«
Stefan nickte verständnisvoll. »Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Lass uns mal sehen, was er diesmal für Caches besuchen möchte und wie gefährlich das wird. Mach dir keine Sorgen, ich unterstütze dich bei den Diskussionen.«
♦♦♦
Die letzten zwei Wochen vergingen wie im Fluge und endlich war der große Tag da, um in den bitter benötigten Urlaub aufzubrechen. In der vergangenen Zeit musste Gwen immer wieder an Paul und ihre gemeinsamen Reisen zurückdenken. Sie wurde sehr traurig und versuchte sich mit ihrer Arbeit abzulenken, was aber nur teilweise gelang. Ihre Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis. Schließlich sagte sie sich, dass jeder auf seine eigene Weise trauerte und sie nicht der Typ war, der sich ein Jahr in schwarze Kleidung hüllt und sich das Lachen verkniff.
Das Packen war Gwen schon immer ein Graus gewesen. Hatte sie an alles gedacht? Was, wenn noch etwas fehlte oder ihre Kleidung nicht zum Wetter passte? Dadurch würde sie sich aber den Urlaub nicht vermiesen lassen. Nicht, bevor er überhaupt angefangen hatte. Also legte sie Ihre Sachen heraus, die kombiniert am meisten Sinn ergaben und mit denen sie für alle Wetter gewappnet sein würde. Als sie die Stapel an Kleidung auf ihrem Bett und dem Fußboden überblickte, kamen ihr schon Zweifel, ob sie das alles überhaupt in den Koffer bekäme. Sie holte tief Luft und ging zu ihrem Sohn ins Zimmer.
Phil war mit dem Packen bereits fertig. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre alt, aber in manchen Dingen schon sehr weit entwickelt, dachte Gwen stolz. Sie hatte ihm einen eigenen Koffer zum Packen herausgestellt und jetzt hatten alle Dinge bereits darin ihren Platz gefunden. Sie konnte es kaum glauben.
»Bist du etwa schon mit Packen fertig, Phil?«, fragte Gwen ungläubig.
»Aber klar doch, Mama. Alles drin. Schuhe, Kleidung, für warme und kalte Tage. Auch an die Zahnbürste und so habe ich gedacht.« Phil grinste seine Mutter an. »Soll ich dir noch helfen?«
Gwen überlegte, ob sie sich die Blöße geben wollte, aber sie gab nach und nickte zögerlich. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Gwen um und verschwand im Schlafzimmer. Phil folgte ihr triumphierend.
»Dann wollen wir doch mal sehen…«, fing Phil an, als er die Stapel inspizierte. »Das sieht doch gar nicht mal so schlecht aus, wenn du für drei Monate verreisen würdest.« Gwen sah ihn nur beschämt an, sagte aber nichts. »Ich denke, wenn du von jedem Stapel die Hälfte dabeihast, dann reicht das auch allemal und sollte sich in einem Koffer verstauen lassen. Sag Bescheid, wenn ich dir noch helfen kann.« Phil machte kehrt und verschwand grinsend in seinem Zimmer. Er konnte sich das Lachen fast nicht verkneifen.
Gwen dachte über ihren neunmalklugen Sohn nach und überblickte die Kleiderstapel erneut, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass er wohl recht hatte. Also fing sie abermals an, die Stapel zu sortieren und mindestens die Hälfte der Wäschestücke wieder in den Schrank zu hängen. Wie sie das hasste! Es kamen ihr immer mehr Zweifel, ob sie auch wirklich immer noch genug dabeihatte und ob sie für alle Eventualitäten gerüstet war. Schließlich ließ sie sich auf das Bett fallen und betrachtete das Ergebnis. Es waren bedeutend weniger Stapel und sie hatte das Gefühl, dass sie auch damit sehr gut bestückt sein würde. Es würde schon passen, redete sie sich ein und stopfte alles in den Koffer. Erstaunlicherweise ging er sogar noch zu, was in den letzten Jahren nicht immer der Fall gewesen war. Wie oft hatte sie sich mit Paul in die Haare bekommen, wenn es darum ging die Koffer zu packen. Aber das waren nun alles nur noch Erinnerungen, die immer mehr verblassen würden.
Jetzt ist das ›Hier‹ und ›Heute‹ und so versuchte sie auch jeden Tag aufs Neue zu erleben. Es klingelte an der Tür. Phil sprintete die Treppe hinab und begrüßte Stefan, der zusammen mit dem Taxifahrer in den Windfang eintrat.
»Seid ihr beiden fertig?«, fragte er Phil, der sich nickend umdrehte, um seinen Koffer zu holen. »Wir können dann nämlich los.«
Ächzend kam Gwen auch die Treppe hinab und stellte ihren Koffer an die Wohnungstür. Sofort lud der Taxifahrer Gwens Koffer ein und wartete auf den des Jungen. Zwei Minuten später war alles verstaut und sie konnten zum Hauptbahnhof Kiel aufbrechen. Per Bus würden sie in neunzig Minuten am Hamburger Flughafen sein, wo der Flieger sie dann direkt nach Salzburg bringen würde. Phil und Stefan saßen bereits im Taxi, als Gwen, immer noch mit einem Gefühl etwas vergessen zu haben, die Tür zuzog und abschloss. Es war, als würde ihr ein Stein von der Seele fallen, als sie endlich im Taxi saß und sie losfuhren. Wer hätte gedacht, das Kofferpacken so anstrengend sein kann?